Zeitgeist
Autorin Katja Lewina über Trauer: «Der Tod kann die Lebensqualität erhöhen»
- Text: Sandra Brun
- Bild: Julija Goyd
Ein schwerer Verlust, eine erschütternde Diagnose – und dann die Frage: Wie lebe ich nun weiter? Darüber hat die Autorin Katja Lewina das Buch «Was ist schon für immer» geschrieben.
annabelle: Vor drei Jahren starb Ihr Sohn mit sieben unerwartet, kurz darauf wurde bei Ihnen eine unheilbare Herzkrankheit diagnostiziert – dieselbe, an der wohl auch Ihr Sohn gelitten hatte. Wie schwierig ist es für Sie nun im Rahmen Ihres neuen Buchs «Was ist schon für immer» die ganze Zeit darüber zu sprechen?
Katja Lewina: Ich mache das extrem gerne. Mich bei den Lesungen mit dem Publikum auszutauschen, gibt mir wahnsinnig viel; zu merken, mein Buch löst etwas aus. Ich beobachte jedoch, dass ich sehr viel mehr Regenerationszeit brauche als bei früheren Lesetouren. Dass im Nachgang immer wieder Gefühle hochkommen, die ihren Raum und ihre Zeit brauchen.
Sie schreiben im Buch, dass Sie selbst Gespräche über Trauer und den Tod in den Alltag integrieren. Wie gelingt das?
Dass der Tod, die Trauer, etwas Alltägliches werden, passiert von ganz alleine. Je länger ich damit lebe, desto mehr ist es einfach Teil meines Lebens. Innerhalb der Familie reden wir darüber, weil wir uns erinnern wollen. Durch Gegenstände von meinem Sohn, die in der Wohnung verteilt sind. Durch eine Kerze, die an seinem Platz steht. Und wir zelebrieren zum Beispiel immer den 18. jedes Monats mit dem Essen, das wir an dem einen 18. gegessen haben – dem Abend, bevor er gestorben ist.
Sie schaffen also Rituale?
Rituale sind etwas Wichtiges, an dem man sich festhalten kann. Früher gab es allgemein festgeschriebene Trauerregeln: Man trug ein Jahr lang schwarz und ging zu bestimmten Momenten in die Kirche. Das haben wir heute nicht mehr – dadurch erhalten wir aber auch die grosse Chance, unsere eigenen Trauerregeln zu kreieren.
Wie gelingt es, dass die Trauer zwar Raum einnehmen darf, aber auch nicht überhandnimmt im Alltag?
Ich kann ganz oft an diesem 18. im Monat nicht an diesem speziellen Nachtessen teilnehmen oder mein Ex-Mann ist nicht dabei. Wir leben im Nestmodell, nur eine Person ist jeweils mit den Kindern in der Wohnung. Aber je länger es her ist, desto häufiger passiert es auch, dass man den Tag auch mal vergisst, wenn man beruflich unterwegs ist, zum Beispiel. Ich finde aber auch, dass man sich da nicht sklavisch dran halten muss. Rituale dienen den Lebenden. Wir machen das ja nicht für die Toten, sondern für uns. Und alles, was wir für uns tun, ist gut.
Sollten wir uns unserer Vergänglichkeit konstant bewusst sein?
Ich ging 36 Jahre mit Vollgas durch mein Leben, ohne das Bewusstsein dafür, dass ich jederzeit hätte tot umfallen können. Ich wusste nicht, was in meinem Körper passiert, dass ich an der genetisch bedingten Herzkrankheit ARVC leide. In unseren Körper sehen wir alle nicht rein. Aber vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, sich die Sterblichkeit zu vergegenwärtigen, sondern sich daran zu erinnern, dass man das Recht auf ein gutes Leben hat. Und sich selbst das Recht auch zuzuerkennen.
Jetzt nur die Frage: Was ist ein gutes Leben?
Da halte ich mich an den Psychoanalytiker Irvin D. Yalom. In seinem Buch «Staring at the Sun» über die Angst vor dem Tod schreibt er sinngemäss: «Ein gutes Leben ist eins, in dem du kein Bedauern anhäufst.» Um das zu erreichen, helfe das Gedankenspiel, sich fünf Jahre in die Zukunft zu versetzen, aus dieser objektiveren Perspektive aufs Heute zu schauen und sich zu fragen, was man aktuell ändern kann, damit man nicht bereuen muss.
Sich seiner Sterblichkeit bewusst zu werden, kann sich wie ein Kontrollverlust anfühlen. Sie schreiben, Ihre Diagnose und der Verlust Ihres Kindes lehrte Sie, dass man es eben nicht in der Hand hat, nicht mitbestimmen kann. Wieso tun wir uns mit Kontrollverlust so schwer?
Die Angst vor Kontrollverlust führt Yalom auf die Angst vor dem Tod zurück, dem ultimativen Kontrollverlust eben. Da hilft nur radikale Akzeptanz. Uns sind Grenzen gesetzt, durch unseren Körper, unsere Herkunft, unseren Charakter, durch viele Dinge. Aber innerhalb dieser Grenzen können wir gestalten. Ich sehe so viele Menschen, die sich so ohnmächtig fühlen, so gefangen, dabei können sie laufen, sie können arbeiten, kreativ sein, sie haben Gestaltungsspielraum.
Sie schreiben, Sie befänden sich in einem Zwiespalt zwischen Verzicht, um mit Ihrer Diagnose möglichst lange gesund zu leben, und der Lust, so richtig doll zu leben, alles aufzusaugen. Wie gehen Sie damit um?
Es hat gedauert, bis ich die Diagnose akzeptiert und gelernt habe, wie ich mit meinem Körper am besten umgehe, damit er nicht vorzeitig zusammenklappt: Ja, ich brauche wirklich Ruhe, ja, ich muss auf meinen Körper aufpassen, dass ihm der Stress oder ungesunde Substanzen nicht zusetzen können. Ich höre mich an wie eine Nonne, wenn ich über mein jetziges Leben rede: Bloss nicht zu viel Koffein, früh schlafen gehen, keine wilden Partynächte mehr. Aber ich muss auch sagen: Jetzt, wo ich mir viel mehr Zeit lasse für die Dinge und genau selektiere, womit und mit wem ich meine Zeit verbringen möchte, habe ich eine viel bessere Zeit als früher, als ich gefühlt wahllos alles in mich reingeschlungen habe.
«Ich wollte alles, alles, alles. Ein Leben für drei»
Das passt gut zu dem Thema «Fear of Missing Out», also die Angst, etwas zu verpassen, die Sie als die «kleine Schwester der Todesfurcht» beschreiben. Sie spürten diese Angst selbst oft, wie Sie schreiben. Haben Sie das Gefühl, Ihnen ging es damals so, weil Sie fürchteten, nicht am richtigen Ort, im richtigen Job, in der richtigen Beziehung zu sein?
Ich wollte alles, alles, alles. Ein Leben für drei. Hätten Sie mich damals gefragt, hätte ich nie gesagt, dass ich Todesfurcht verspüre, niemals. Meine Therapeutin hat es letztens so benannt: «Sie hatten wohl so eine Art Unsterblichkeitsfantasie». Und die hatte ich tatsächlich; ich habe nie darüber nachgedacht, dass mir was zustossen könnte. Ich hatte so einen starken Körper, der drei sehr schwere Geburten gemeistert, alle Drogenexperimente verkraftet, allen riskanten Sex unbeschadet überstanden hat. Ich war nie ernsthaft krank, die Kinder waren immer gesund, ich habe mir auch um sie nie Sorgen gemacht. Aber diese Unsterblichkeitsfantasie ist ja auch eine Art der Todesfurcht. Du schiebst sie einfach weg.
Hat das auch mit der heutigen Zeit zu tun? Dass uns in den Sozialen Medien und in der Popkultur vorgezeigt wird, was wir alles erreichen, wie wir unser Leben führen könnten?
Ich denke kollektiv schon – auch auf mich hat es Einfluss. Wahlmöglichkeiten machen uns einfach verrückt. Je mehr wir davon haben, desto unglücklicher werden wir und desto mehr wollen wir. Und daran kranken ja meine Generation und alle, die danach kommen. Dass wir immer denken, wir könnten noch irgendwo was Besseres bekommen.
Und plötzlich merken, dass man im Wald, in der Ruhe eigentlich auch zufrieden wäre.
Ist halt ein bisschen unsexy, das Kräuterteetrinken im Wald.
Vielleicht ist es auch das neue Sexy, gesünder und achtsamer zu leben. Sie schreiben, Sie hätten überdies damit aufgehört, gefallen zu wollen. Weshalb ist das für Sie so wichtig geworden?
Ich würde es überschreiben mit dem Stichwort Ehrlichkeit. Nicht, dass ich vorher eine pathologische Lügnerin gewesen wäre, aber wir nutzen Alltagslügen als soziales Schmiermittel, um niemandem auf die Füsse zu treten. Weglächeln, Ja sagen, obwohl wir Nein meinen – oder umgekehrt. All diese Dinge versuche ich mir mühsam abzutrainieren und für mich einzustehen. Im Schreiben kann ich das gut, kämpferisch sein, Dinge einfordern. Aber als reale Person fällt mir das auch in meinem nahen Umfeld wahnsinnig schwer.
In welchem Bereich merken Sie, dass es Ihre Lebensqualität verbessert, wenn Sie mehr für sich einstehen, mehr Grenzen ziehen?
Naja, Grenzen ziehen – oder auch aufmachen. Je nachdem. Ich finde es schwierig, dass wir in den letzten Jahren den Fokus so aufs Neinsagen und Grenzenziehen setzen. Das isoliert die Menschen auch wieder so krass voneinander und befeuert den Hyperindividualismus. Es geht doch auch darum, sich aufzumachen für andere. Und das finde ich so gewinnbringend an dieser Ehrlichkeit, dass ich mich aufmache, ehrlich sage, wenn mich etwas verletzt, wenn ich etwas nicht mag – statt einfach aus dem Kontakt rauszugehen.
Welche Auswirkung hat das auf Ihre Beziehungen?
Viele Beziehungen – Liebesbeziehungen, Freundschaften, Verwandtschaftsbeziehungen – gehen ja an Ungesagtem auseinander. Dass wir nicht sagen, was wir in Wirklichkeit voneinander wollen. Das ist auch der Grundkonflikt vieler Filme oder Bücher. Meine Beziehungen haben sich durch diese Ehrlichkeit vertieft. Und andere gingen eher auseinander, weil man diese Ehrlichkeit nicht integrieren konnte. Aber das ist vielleicht auch okay.
Bei mir blieb folgender Satz hängen: «Vergebung ist das Beste, was je für unser Seelenheil erfunden wurde.» Können Sie das erläutern?
Es geht bei Vergebung nicht um die andere Person, es geht nur um uns selbst. Wenn wir im Groll festhängen und denken, nicht mehr glücklich werden oder keine Beziehung mehr eingehen zu können, geben wir dieser anderen Person, diesem Geschehnis so viel Macht. Wir schränken uns in unserem Gestaltungsspielraum total ein. Manches liegt nicht in unserer Hand, Dinge sind geschehen, wir können sie nicht rückgängig machen. Aber wir können sie gehen lassen, die Menschen gehen lassen. Das ist so kraftvoll und entlastet einen sehr.
Ich verstand Vergebung immer als einen Akt, der mein Gegenüber befreien soll. Statt zu sehen, dass sie ja mich befreien und mir Kontrolle zurückgeben kann.
Klar! Ich habe so viele Menschen in meinem Leben, die diese Macht abgeben an verschiedene Leute. Und ich steh daneben und denke: Schade, du hast so viel Potenzial. Wenn du nicht immer an deine Mutti, deine Ex-Freundin oder deinen verstorbenen Vater denken würdest, die das und das mit dir gemacht haben. Du könntest so ein tolles Leben haben.
Sie haben auch geschrieben, der Sinn des Lebens liege für Sie darin, dass es eben nicht dauerhaft ist. Dass wir gezwungen sind, uns Fragen zu stellen, was wir mit dieser begrenzten Zeit anfangen wollen. Welche Fragen haben Sie sich gestellt?
Es hat begonnen mit der Frage, wie ich lieben will. Meine Liebesbeziehungen waren immer geprägt von sehr viel Chaos. Und ich merkte, wenn ich tatsächlich nicht mehr so viel Zeit habe, will ich sie nicht mit solchen Dramen verbringen. Das krieg ich auch seelisch nicht mehr gewuppt, ich habe keine Kapazität mehr für Bullshit. Ich beendete eine Beziehung, die mir überhaupt nicht gutgetan hat. Sprach mit meinen Ex-Freunden darüber, wie es gelaufen ist, worin mein Anteil an den Schwierigkeiten bestand. Das hatte ich vorher immer ganz weit weggeschoben (darüber hat sie das Buch «Ex» geschrieben, Anm. der Redaktion).
Was hat das ausgelöst?
Ich merkte, dass ich noch anderes von der Liebe will. Im Zuge dessen ist die Beziehung mit meinem Mann zu Ende gegangen. Wir hatten es zwar schön, aber sie entwickelte sich eher zu einer Freundschaft. Ich wollte mehr Tiefe – ein Wunsch, den ich schliesslich auch in allen anderen Lebensbereichen spürte. Es ging mit Freundschaften weiter, einige gingen auseinander, andere wurden tiefer und intensiver. Schreckliche Erlebnisse machen aus Menschen oft Instinktbündel, man ist plötzlich sehr radikal und weiss genau, was man jetzt will. Diese Radikalität nimmt ab, wenn man aus dem Schockzustand rauskommt, aber ich bin sehr dafür, sich eine gewisse Radikalität zu bewahren. Weil sie eine Chance ist auf eine starke Verbindung zu sich selbst.
«Trauer ist superegoistisch»
Können wir dem Tod seinen Schrecken nehmen, wenn wir über ihn sprechen?
Solange wir jemanden lieben, wird der Tod immer schrecklich sein und werden wir immer Verlust und Trauer erleben. Aber wir können uns mit dem Tod ein bisschen anfreunden. In seinem Angesicht erscheinen so viele Dinge irrelevant. Der Tod kann auf jeden Fall die Lebensqualität erhöhen. Wenn wir ihn uns bewusst machen, konzentrieren wir uns aufs Wesentliche und kommen ins Machen. Hätten wir die Unendlichkeit zur Verfügung, auch mit unseren Liebsten, dann müssten wir ihnen nicht regelmässig sagen, dass wir sie lieben und uns um ein intensives Miteinander bemühen.
Wenn jemand stirbt, stirbt auch die gemeinsame Zukunft, schreiben Sie. Bedeutet Trauern um jemanden auch, um seine eigene Zukunft zu trauern?
Trauer ist superegoistisch. Die Person, die gestorben ist, hat ja überhaupt nichts davon. Trauer ist für uns. Und natürlich trauert man vor allem um die Dinge, die man nicht mehr haben wird. Ich werde keine Mutter eines Jungen mehr sein, und das finde ich wirklich schade. Immer wenn ich heranwachsende Jungs sehe, denke ich, das hätte ich auch wahnsinnig gerne erlebt. Aber da bin ich vielleicht gar nicht so verschieden von Menschen, die überhaupt nie einen Sohn hatten, die überhaupt nie ein Kind hatten. Das ist etwas, womit ich mich gut verbinden kann.
Inwiefern?
Viele Freundinnen in meinem Alter, die keine Kinder bekommen haben, beginnen sich mit dem Gedanken abzufinden, dass es wahrscheinlich nichts mehr werden wird. Und sie trauern auch darüber, was sie vielleicht verpasst haben. Wir können auch um Dinge trauern, die wir niemals hatten. Lebensträume, Zukunftsträume, Versionen unserer selbst, als Mutter, Partnerin, Vorstandsvorsitzende – manche Dinge werden einfach nicht in Erfüllung gehen und das ist auch in Ordnung.
Was bedeutet «für immer» jetzt für Sie?
Es gibt nichts, was für immer bleibt. Wir beide bleiben nicht für immer hier, sehr wahrscheinlich überdauert nicht mal die Erde, wie wir sie kennen. Das ist auf die eine Weise sehr traurig, aber auf die andere sehr schön. Ich finde dieses Gefühl, dass nichts für immer ist, sehr tröstlich. Wir sind nicht der Nabel der Welt, die Welt dreht sich nicht um uns. Alles geht irgendwann vorüber. Wir können uns einfach nur zurücklehnen und geniessen.
Katja Lewinas Buch «Was heisst schon für immer» ist im Dumont-Verlag erschienen. Am Mittwoch. 30. Oktober 2024, liest sie in Zürich im Kaufleuten daraus.