Politik
Autorin Ayla Işik über muslimische Emanzipation: «Ohne Freiwilligkeit ist alles nichts»
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Annika Fusswinkel
Ayla Işik ist 33, verheiratet und dreifache Mutter, als sie beschliesst, aus ihrer streng muslimischen Familie auszubrechen. Als äusseres Zeichen ihrer Emanzipation legt sie das Kopftuch ab. In ihrem Buch «BeHauptet» beschreibt sie ihren schwierigen Weg und fordert das Recht auf Selbstbestimmung.
annabelle: Ayla Işik*, der Titel Ihres Buches lautet: «BeHauptet». Dieser Begriff bringt Ihren Weg auf den Punkt – buchstäblich.
Ayla Işik: Ja, er beschreibt die Entwicklung, die ich gemacht habe, um mich selbst und meine Wahrheit zu finden und für mich einzustehen. Eben: um mich zu behaupten.
Sie wurden 1982 in einer deutschen Kleinstadt geboren, sind in einer konservativen muslimischen Familie aufgewachsen, haben türkische Wurzeln. Wie wurden Sie erzogen?
Mit sehr viel Liebe und Respekt. Meine Eltern haben meinen vier jüngeren Brüdern und mir zudem Gottesliebe vorgelebt, also die Liebe zu Gott und die Liebe von Gott zu uns. Dazu gehörte, dass sie uns die Regeln und Pflichten beibrachten, die als Voraussetzung dafür gelten, Gottes Wohlgefallen zu erlangen: etwa das tägliche fünfmalige Gebet, seine Eltern und ältere Menschen zu respektieren, ein Vorbild zu sein für andere Menschen – für Frauen kommt noch das Tragen des Kopftuchs hinzu. Da ich von Gott geliebt werden wollte, war das Kopftuch positiv besetzt. Es war für mich eine Ehre, es tragen zu können.
Stand das Kopftuch je zur Debatte?
Nein, es war Teil meiner religiösen Erziehung und deshalb für mich selbstverständlich. Ich wusste, dass das Kopftuchtragen für Frauen Pflicht ist, sobald sie die erste Monatsblutung bekommen. Ich fragte mich nur: Wann starte ich damit? Denn würde ich es mit der ersten Monatsblutung anziehen, wüsste jede und jeder in meiner Community, dass ich die Periode bekommen habe. Deshalb entschied ich mich ganz pragmatisch dafür, es zum Beginn der weiterführenden Oberschule anzulegen, wo Lehrer und Mitschülerinnen mich noch nicht kannten. Damals war ich elf Jahre alt und es war Sommer. Meine Periode bekam ich einige Monate später im Winter.
Ayla Işik«Die Hüllen rufen ständig die Schamhaftigkeit des weiblichen Körpers in Erinnerung»
Sie schreiben in Ihrem Buch, das Kopftuch habe Ihr Körpergefühl beeinflusst. Können Sie das näher erklären?
Da muss ich erst einmal das Tuch vom Körper trennen: Ich war als Kind mit meinem Körper nicht wirklich glücklich. Ich war pummelig, unsportlich, trug kurze Haare, raufte mich ständig mit meinen Brüdern. Meinen frühpubertären Körper lehnte ich ab, ich wollte diese immer weiblicheren Rundungen nicht. In dieser fragilen Entwicklungsphase kamen das Kopftuch und die Kleidung hinzu, die alles bedeckte, ausser Händen und Füssen. Kopftuch und Kleidung erfüllen keinen modischen Zweck, sondern sollen allem voran die weiblichen Reize verbergen. Meine Mutter, meine Grossmutter und meine Tanten haben dies sehr ernst genommen. Doch dadurch, dass mein Körper ständig verhüllt war, konnte ich kein wirkliches Körpergefühl entwickeln.
Aber das hätte ja auch bedeuten können, dass Sie ohne den Druck aufwuchsen, gängigen Körpernormen entsprechen zu müssen.
Da haben Sie recht, das könnte man so sehen. Der Punkt aber ist, dass einem die Hüllen ständig die Schamhaftigkeit des weiblichen Körpers in Erinnerung rufen. Der Körper bleibt eine unbekannte Zone, zu der du kaum Zugang hast.
In der Schweiz wird immer wieder darüber diskutiert, ob das Kopftuch für Kinder in Schulen verboten werden soll. Ihre Haltung dazu?
Ich bin für ein solches Verbot. Das Kopftuch gehört aus meiner Sicht nicht auf die Köpfe von Kindern. Denn damit werden Mädchen sexualisiert. Und wie gesagt, eine Frau, die sich schon von klein auf an das Kopftuch und lange Kleidung gewöhnen muss, entwickelt automatisch ein Schamgefühl für ihren Körper, was sie daran hindert, ihr volles Potenzial zu entfalten. Das ist nicht nur fatal für ihre individuelle Entwicklung, sondern macht letztlich auch die Gesellschaft von innen kaputt.
Das Konzept von Scham zieht sich wie ein roter Faden durch konservativ-religiöse Gesellschaften. Muslimische Communitys kennen hierfür den Begriff «ayip» – unschicklich, scham- oder sogar sündhaft.
Das ist so. «Ayip» existiert neben «haram» (verboten) und «halal» (erlaubt). «Ayip» ist eine Art Grauzone, die je nach Familie unterschiedlich ausgelegt wird. Ich kannte Familien, in denen es «ayip» war, wenn du als junges Mädchen Bilder von Boybands aufgehängt hast oder mit deinen Freundinnen zusammengesessen bist. Für andere ist «ayip», als Frau darüber nachzudenken, arbeiten zu gehen. Aber auch Parfum, Make-up oder Nagellack können als «ayip» gelten. Das Problem ist, dass «ayip» Frauen, aber auch Männer zu einer Schamhaftigkeit erzieht, die fast nicht mehr aus den Köpfen zu bringen ist. Mittlerweile erachte ich es als Krebsgeschwür der muslimischen Gesellschaft.
Wie liesse sich dieses anerzogene Schamgefühl aus den Köpfen herausbringen?
Ich weiss nicht, wo man ansetzen soll – ausser, die nachkommende Generation in ihrer Selbstbestimmung und Selbstentfaltung zu bestärken. In der älteren Generation wird sich nichts mehr bewegen – es sei denn, die Not ist sehr gross. Schafft man es doch, dieses «ayip» abzulegen, ist man unglaublich befreit. Wenn heute jemand kommt und mich fragt: «Schämst du dich nicht?» Dann sage ich: «Nein.»
Ayla Işik«Wenn heute jemand kommt und mich fragt: ‹Schämst du dich nicht?› Dann sage ich: ‹Nein.›»
Sie haben mit 18 Jahren geheiratet, obwohl Ihr Vater fand, Sie seien zu jung für die Ehe. Eine Trotzreaktion?
Nein, ich war verliebt. Ich habe Tarek*, meinen damaligen Mann, beim Jahrestreffen einer muslimischen Jugendgruppe kennengelernt und hatte sofort Schmetterlinge im Bauch. Da es sich nicht ziemte, persönlich mit ihm in Kontakt zu treten, schickte ich einen meiner Brüder vor, der mit mir dort war. In den darauffolgenden Monaten haben Tarek und ich uns geschrieben und miteinander telefoniert. Mehr war uns nicht erlaubt. Denn die Beziehung zwischen Mann und Frau ist ab der Pubertät klar reglementiert. Einen Mann zu treffen, mit ihm allein in einem Raum zu sein, wäre für mich undenkbar gewesen.
Ihr Vater bestand darauf, dass Sie erst das Abitur machen, bevor Sie heiraten.
Ich war ja erst 16. Die Haltung meines Vaters empfinde ich rückblickend als progressiv. Doch damals kam es für mich nicht infrage, so lange zu warten. Glücklicherweise konnte ich die Wartezeit auf ein Jahr «herunterhandeln.»
Sie wurden mit 21 zum ersten Mal Mutter, haben studiert, sich mit Ihrem Mann ein Leben aufgebaut. Hatten Sie in dieser Zeit jemals das Gefühl, zwischen Ihrer muslimischen Gemeinschaft und der Mehrheitsgesellschaft hin- und hergerissen zu sein?
Dieses Gefühl hatte ich nie. Ich habe versucht, ein positives Bild vom Islam und den Muslim:innen abzugeben, ein guter Mensch zu sein. Diese Unbeschwertheit hielt an, bis ich etwa 24 war. Zu jenem Zeitpunkt geriet ich in einen inneren Konflikt, der mich ahnen liess, dass in meiner Welt etwas nicht stimmte.
Was war der Auslöser dafür?
Meine Mutter. Sie hatte bis dahin 33 Jahre lang als regelkonforme Muslimin in unserer Gemeinde gelebt. Auf einmal belegte sie gemischte Tanzkurse, verliebte sich in einen anderen Mann, begann, das Kopftuch zu hinterfragen, und legte es schliesslich ab. In der Folge trennte sie sich von meinem Vater und zog aus dem gemeinsamen Haus aus. Die Art und Weise, wie meine Gemeinde auf meine Mutter reagierte, erschütterte mich in meinem Glaubensverständnis.
Ayla Işik«Wie kann man gegen aussen tolerant tun, gleichzeitig aber auf Andersgläubige herabsehen?»
Wie fielen die Reaktionen aus?
Meine Mutter stiess auf grosse Ablehnung. Man sprach ihr ab, selber für sich entscheiden und denken zu können, unterstellte ihr sogar, vom Teufel besessen zu sein und andere Frauen auf Abwege zu bringen. Viele Männer haben ihren Frauen und Kindern den Kontakt zu ihr verboten – und das, obwohl meine Mutter mehr als zwanzig Jahre in ihrer Gemeinde ehrenamtlich Vereinsarbeit geleistet hatte.
Mit anderen Worten: Das Ablegen des Kopftuchs überstrahlte alles?
Ja – wobei meine Mutter das Kopftuch ja nicht von heute auf morgen abgelegt hat. Sie hatte erst ein Jahr lang alternative Kopftuchmodelle getragen und während dieser Zeit immer wieder das Gespräch gesucht und versucht, die Offenbarungsgründe des Kopftuchs mit den Leuten in ihrem Umfeld zu diskutieren.
Wie ging sie dabei vor?
Sie diskutierte zum Beispiel jenen Vers im Koran, der beschreibt, wie ein Gefährte des Propheten eines Abends eine unverhüllte Frau sieht und sie ermahnt: «Verhülle dich, damit man erkennt, dass du aus unserer Gemeinde bist, und keine Sklavin.» Meine Mutter argumentierte, dass dieser Verhüllungsgrund heute keine Gültigkeit mehr haben kann. Doch man verweigerte ihr das Gespräch oder brach es ab. Rückblickend glaube ich, dass meine Mutter damit einen Punkt berührte, der ein komplettes Weltbild auf den Kopf zu stellen droht, würde man ihn zu Ende denken.
Sie sagen, die Reaktionen gegenüber Ihrer Mutter hätten Sie in Ihrem Glaubensverständnis erschüttert. Inwiefern?
Ich habe an der religiösen Praxis zu zweifeln begonnen: Wie kann man fünfmal am Tag beten, im Ramadan fasten, alle seine Pflichten erfüllen, aber auf zwischenmenschlicher Ebene derart versagen? Wie kann es sein, dass man mit einer Frau, die für die muslimische Gesellschaft so viel Positives geschaffen hat, so umgeht? Wie kann man gegen aussen tolerant tun, gleichzeitig aber auf Andersgläubige herabsehen? Dieses Trennen in wir und ihr ist ein Erhabenheitsgefühl, das ich nie vertreten konnte und bis heute nicht vertreten kann.
Wie erklären Sie sich dieses Erhabenheitsgefühl?
Das ist in vielen Gemeinschaften wiederzufinden, egal, ob in einer muslimischen Community, in der katholischen Kirche, bei einem SPD-Parteitag oder unter Veganern. Es ist ein Gruppendenken mit eigenen Regeln, die Sicherheit und Halt geben und ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Alles wird versucht, um sie aufrechtzuerhalten. Also halte ich mich an die Regeln, um Teil dieser Gruppe zu sein. Breche ich sie, werde ich verstossen.
Ayla Işik«Den Wind in meinen leicht verschwitzten Haaren zu spüren, war unbeschreiblich»
Doch waren auch Sie Ihrer Mutter gegenüber erst gespalten.
Das stimmt. Ich empfand ihr neues Leben als hochgradig egoistisch, rücksichtslos und vor allem falsch. Trotzdem habe ich immer wieder mit ihr diskutiert. Sie wiederum forderte mich auf, kritischer auf religiöse Regeln zu schauen. Sie kam mit Argumenten, denen ich nichts mehr entgegnen konnte.
Zum Beispiel?
Sie hat mir die banale Frage gestellt: «Was hat Gott gegen Frauenhaare?» Ich antwortete trotzig: «Gar nichts. Er hat die Frauen mit Haaren erschaffen. Aber die Frauen sollen die Haare bedecken. Sie sind auch mit Kopftuch in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.» Das hat mir meine Mutter nicht abgenommen, und irgendwann wurde ich nachdenklich. Ich habe mal die Probe aufs Exempel gemacht und Tarek gefragt: «Was wäre, wenn ich eine Glatze hätte? Müsste ich dann auch ein Kopftuch tragen?» Aber er meinte bloss: «Nicht nur die Haare, sondern auch die Ohren und der Hals einer Frau müssen bedeckt sein, weil auch sie erogene Zonen der Frau sind.» Allmählich begann ich zu verstehen, dass das Kopftuch, so, wie ich es trage, gar nicht so freiwillig war. Freiwilligkeit wäre gewesen, wenn man mir gesagt hätte: «Ziehs doch aus, wenn du es ausziehen willst.» Oder: «Binde es so, wie du es binden willst.» Aber das kam nie. Diese Erkenntnis war eine weitere Zäsur in meinem Leben.
Wie hat sich Ihr zunehmendes Zweifeln auf Ihre Ehe ausgewirkt?
Ich war unzufrieden mit der Art der Rollenverteilung. Ich konnte nicht akzeptieren, dass Kindererziehung und Haushalt nur Frauensache sein sollten. Die Zweifel wurden grösser, als ich Tarek fragte: «Liebst du mich eigentlich, weil ich ich bin oder weil ich ein Kopftuch trage?» Er antwortete: «Ich liebe dich, weil du du bist und weil du ein Kopftuch trägst.» Diese Antwort hat mir extrem zugesetzt. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie meine Ehe Stück für Stück zerbrach.
Sie legten das Kopftuch zum ersten Mal ab, als Sie mit ihrem jüngsten Kind auf einem Feld spazieren waren. Was haben Sie dabei empfunden?
Mir sind die unterschiedlichen Temperaturen aufgefallen, der Wind und die Sonne. Es war sehr heiss. Den Wind in meinen leicht verschwitzten Haaren zu spüren, war unbeschreiblich.
Ayla Işik«Der Moment, als ich an jenem Morgen meine Kinder verliess, war der schlimmste meines Lebens»
Dennoch war dies erst ein einmaliges «Kopflüften».
Ich hatte Angst vor den Reaktionen meines Umfelds. Zudem wusste ich, dass ich meine Ehe ohne Kopftuch nicht würde aufrechterhalten können. Ich verfiel in eine Depression. Eines Tages wurde Tarek meines Unglücks überdrüssig und schlug vor, spazieren zu gehen – ohne Kopftuch. Aber in jenem Moment fühlte mich nackt und unfrei – was auch daran lag, dass mir Tarek permanent seine Hand auf meinen Kopf legte, wenn ein Mann in einem Auto vorbeifuhr. Ich empfand das als einen Spiessrutenlauf. Mir wurde immer klarer: Es gab keinen Raum mehr für mich, der einen Kompromiss möglich gemacht hätte.
Sie sind ausgezogen, haben sich eine eigene Wohnung gesucht, die Kinder blieben bei Ihrem Ex-Mann. Ein radikaler Schritt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Entscheidung, ohne meine Kinder auszuziehen, kam erst im Laufe des Trennungsprozesses, als sich die Kompromisslosigkeit immer weiter zuspitzte. Der Moment, als ich an jenem Morgen meine Kinder verliess, war der schlimmste meines Lebens. Ich fragte mich, ob das Leben, das jetzt kommen würde, überhaupt lebbar sein würde, ob ich meine Entscheidung bereuen würde. Vor allem aber fragte ich mich, ob mir meine Kinder irgendwann würden verzeihen können.
Welcher Kompromiss hätte Sie zurückhalten können?
Wenn ich Raum zur freien Entfaltung bekommen hätte, ohne Regeln und Einschränkungen. Aber das war nicht möglich. Ich hatte die Pappwand durchbrochen, die meine Welt umgeben hatte, so wie der Protagonist im Film «The Truman Show». Es gab für mich kein Zurück mehr.
Ayla Işik«Wenn sich eine Frau dazu entschliesst, das Kopftuch aufzusetzen, tut sie dies in einer Gemeinschaft, die hinter ihr steht und sie zu diesem Schritt bestärkt»
Sie legten das Kopftuch erst Jahre später endgültig ab, während eines Kuraufenthalts an der Nordsee. Wird dieser Prozess, die Entscheidung gegen das Kopftuch, gemeinhin unterschätzt?
Ja. Denn mit dem Kopftuch legt man einen Teil seiner Identität ab – und nach aussen hin auch seinen Glauben. Das ist etwas, das den wenigsten Menschen in westlichen Mehrheitsgesellschaften bewusst ist. Selbst als ich das Kopftuch nicht mehr trug, dauerte es viele Jahre, bis ich die Macht des Kopftuchs in meinem Kopf abstreifen konnte. Wenn sich eine Frau dazu entschliesst, das Kopftuch aufzusetzen, tut sie dies in einer Gemeinschaft, die hinter ihr steht und sie zu diesem Schritt bestärkt. Ziehst du das Kopftuch hingegen aus, verlierst du die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, in der du gelebt hast. Du wirst zur Alleinkämpferin. Deswegen verstehe ich nicht, weshalb manche Frauen so leidenschaftlich für das Kopftuch kämpfen.
Es wird von muslimischen Aktivistinnen wie auch von westlichen Feministinnen als eine Form der Selbstermächtigung verstanden, manchmal aber auch als eine Äusserlichkeit, etwa wie eine Brille. Das sagte eine junge Schweizer Muslimin, die für den Nationalrat kandidierte. Ihre Haltung dazu?
Das ist absurd. Erstens wird das Kopftuch dadurch degradiert, weil man ihm die zugeschriebene Heiligkeit nimmt. Zudem kann das Kopftuch niemals mit einer Brille gleichgesetzt werden, denn es ist nichts, was man heute tragen kann und übermorgen nicht.
Im Iran kämpfen Frauen seit über einem Jahr gegen den staatlich verordneten Zwang, sich zu verschleiern. Sie, Ayla Işik, sagen, die religiöse Kleidungspflicht für Frauen sei eine fremdbestimmte Verantwortungsübertragung. Was heisst das?
In der muslimischen Gesellschaft steht das Kopftuch für Gläubigkeit. Legen Frauen das Kopftuch ab, das sichtbare Symbol des iranischen Gottesstaates, so die Argumentation, wird das System von innen geschwächt. Und das ist für die Machthabenden gefährlich.
Sind Sie für ein generelles Kopftuchverbot?
Nein. Alles, was mit Glauben zu tun hat, sollte freiwillig und eine Sache zwischen mir und Gott sein. Die Gesellschaft hat sich da nicht einzumischen und erst recht nicht die Politik, auch keine Vorsteher von Religionsgemeinschaften.
Ayla Işik«Ich habe Currywurst und verschiedene Arten von Alkohol probiert»
In Ihrem Buch steht der Satz: «Wo keine Freiwilligkeit gegeben ist, kann kein tiefer Glaube entstehen.» Können Sie das näher erklären?
Ich habe in meiner muslimischen Gemeinde immer wieder erfahren, wie der Glaube auf das Nachahmen von Regeln reduziert wird. Dabei geht meist jegliche Spiritualität verloren. Menschen, die in starren religiösen oder institutionellen Strukturen aufwachsen, lernen nicht, selber zu denken, ihr Denken kritisch zu hinterfragen oder eigene Erfahrungen zu machen. Der Islam macht es uns da in dem Sinne einfach, als dass Koran und Sunna, das Buch, das die etablierte islamische Verhaltensweise unseres Propheten festhält, für fast alles eine Antwort bereit haben.
Zum Beispiel?
Antworten, selbst etwa auf die Fragen, ob ich beim Gebet Nagellack tragen darf, der wasserundurchlässig ist, oder ob ich mir mehrere Ohrlöcher stechen lassen kann. Oder ob es erlaubt ist, Hustensaft zu trinken, obwohl Alkohol drin ist. Es gibt nichts, das nicht geregelt ist. Mittlerweile gibt es sogar unzählige Imame, die online Beratungen anbieten. Der Punkt ist: Man lebt in der konstanten Angst, Fehler zu machen und somit kein guter Muslim, keine gute Muslimin zu sein. Es gibt keine Fehlertoleranz. Das ist fatal. Denn diese Angst hindert dich daran, dich zu fragen: «Hey, verliere ich wirklich den Glauben an den Islam, wenn ich anfange, diese Regeln für mich selber zu definieren oder diesen Regeln in meinem Leben eine andere Priorität zu geben?»
Sie haben sich aufgemacht, Regeln zu brechen. Haben angefangen, Alkohol zu trinken und zu daten. Welches Fazit ziehen Sie?
Bei jedem dieser Regelbrüche schwang ein schlechtes Gewissen mit. Aber ich habe mich stets ganz bewusst dafür entschieden, weil ich verstehen wollte, was das mit mir macht. So habe ich zum Beispiel Currywurst und verschiedene Arten von Alkohol probiert, hatte sogar mal einen fürchterlichen Absturz, weil ich zu viel getrunken hatte. Das ist mir bis heute nie wieder passiert, weil ich nun weiss, worauf ich beim Alkoholkonsum achten muss und wie viel ich vertrage.
Ayla Işik«Glaube ist für mich heute ein Gefühl in meinem Herzen, das mir Kraft und Hoffnung gibt»
Inzwischen sind Sie 42 Jahre alt. Wie leben Sie Ihren Glauben heute?
Ich bin noch immer Muslimin, ohne Frage. Aber Glaube ist für mich heute ein Gefühl in meinem Herzen, das mir Kraft und Hoffnung gibt. Gott ist allgegenwärtig, in der Natur und in all meinen Beziehungen. Hingegen praktiziere ich die vorgeschriebenen Gebete und das Fasten im Ramadan nicht mehr. Die fünf Gebete strukturierten früher meinen Tag, das hatte Vor- und Nachteile. Heute versuche ich, mehrmals täglich ganz bewusst innezuhalten. Ich habe mich dafür entschieden, weil ich weiss, es tut mir gut. Und statt im Ramadan zu fasten, habe ich das Intervallfasten in meinen Alltag integriert – auch das, weil es mir guttut. Dafür achte ich im Ramadan auf Dinge, die im normalen Alltag zu kurz kommen: Ich mache mehr tägliche Spaziergänge, verbringe weniger Zeit auf Social Media oder bin täglich mit Freundinnen in Kontakt.
Wie hat sich die Beziehung zu Ihren Kindern entwickelt, seit Sie Ihr neues Leben angefangen haben?
Meine Kinder sind heute 21, 16 und 14 Jahre alt. Wir haben ein sehr inniges, liebevolles und echtes Verhältnis, das auf gegenseitigem Respekt und Wertschätzung beruht. Meine Kinder und ich sind zwar in vielen Punkten nicht immer einer Meinung, besonders bei religiösen Themen. Aber wir haben immer Raum für aufrichtige Gespräche. Zudem erhalten sie Einblicke in andere Lebensrealitäten, Denkweisen und nicht zuletzt auch in andere Männer- und Frauenbilder.
Was wünschen Sie Ihren Kindern für die Zukunft?
Dass sie ein Leben führen, das auf Selbstbestimmung und Freiwilligkeit beruht. Denn ohne Freiwilligkeit ist alles nichts.
*Ayla Işik ist ein Pseudonym, auch der Vorname des Ex-Mannes der Autorin wurde im Buch geändert.
Am Donnerstag, den 26. Oktober, spricht Ayla Işik mit annabelle-Redaktorin und Moderatorin Helene Aecherli am «Zürich liest» über ihr Buch «BeHauptet». Die Autorin plädiert dafür, den schwierigen und dennoch lohnenswerten eigenen Weg zu gehen, und regt zum Nachdenken über das eigene Leben an.
Zeit: 18:30–19:30
Veranstaltungsort: im Karl der Grosse, Kirchgasse 14
8001 Zürich
Ayla Işik: «Behauptet. Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit.» Kiepenheuer & Witsch, 286 Seiten