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Auszug aus Marlene Sørensens Buch «Und jetzt?»: «Ich dachte am Tag der Entbindung, wir bekommen ein ‹normales› Kind»

Auszug aus Marlene Sørensens Buch «Und jetzt?»: «Ich dachte am Tag der Entbindung, wir bekommen ein ‹normales› Kind»

Im Buch «Und jetzt? Fragen an das Leben mit 40. Antworten für immer» widmet sich die Berliner Autorin Marlene Sørensen dem, was sich, trotz aller Erwartungen, in der Mitte des Lebens noch nicht gelöst hat – oder als Überlegung neu dazukommt. Einen Auszug davon, in dem sie von ihrer Mutterschaft eines behinderten Kindes schreibt, könnt ihr hier lesen.

Wie bleibt man ein Liebespaar, wenn man als Team funktioniert? Wann ist es zu spät, neu anzufangen? Wie viel Sinn und Unsinn steckt in Selbstoptimierung? Warum ist man ständig müde? Diesen und anderen Fragen widmet sich die Berliner Autorin Marlene Sørensen in ihrem neuen Buch «Und jetzt? Fragen an das Leben mit 40. Antworten für immer». Im Kapitel «Wie vergeht die Furcht?» erzählt sie von ihrer Mutterschaft eines behinderten Kindes und stellt sich die Frage, wie viel Wert wir welchen Leben geben.

Wenn ich meinen Sohn beschreiben sollte, denke ich nicht zuerst an die «kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung». Die vielen Fragebögen, die wir zu ihm schon ausgefüllt haben, erfassen nicht, was ihn ausmacht. Mir fällt seine Beobachtungsgabe ein. Sein Schalk. Dass er ein ganzes Glas Cornichons verputzen kann. Dass er am liebsten zwei unterschiedliche Socken trägt oder dass er, als er anfing zu schreiben, Dänemark als «Odänemark» buchstabierte, weil in unserer Vorfreude auf Reisen dorthin von «Oh, Dänemark!» die Rede war.

Ich denke daran, dass er, als er noch kleiner war, sich bei Spaziergängen manchmal einfach auf die Erde unter die Bäume legte und dem Rauschen der Blätter lauschte, ganz so, als sei die Weite der Welt so unbegreiflich, dass man sie nur in Andacht aushalten kann.

Meinen Sohn so zu sehen, gibt mir die Zuversicht, die ich brauche, wenn wir an die Orte gehen, an denen er anders gesehen wird. Ich habe gezögert, in «Und jetzt?» so detailliert über mein Kind zu schreiben. Nicht, weil ich ihn zu verbergen hätte, sondern weil ich ihn damit in eine Öffentlichkeit schubse, in der er oft genug nicht über sein Sein verstanden wird, sondern durch sein Nicht-Sein definiert wird.

«Was stimmt nicht mit ihm?»

Dort, wo wir um Diagnosen ringen müssen, weil wir unseren Sohn falsch eingeschätzt finden. Wo ich, als seine Fürsprecherin, die richtigen Worte für ihn finden muss, und, obwohl das Finden von Worten mein Beruf ist, oft das Gefühl habe, daran zu scheitern. Wo die Blicke sind, die ihn nicht einordnen können. Wo ich mir beibringen musste, den Blicken direkt zu begegnen und ihnen standzuhalten, für ihn, der wenig davon mitbekommt, noch.

Wo die Fragen sind – die unausgesprochenen, die sich in Gesten ausdrücken, Kinder auf dem Spielplatz von ihm zu trennen, auch in den aufgeklärten Milieus, in denen wir uns meist bewegen, weil er durch sein Körperbewusstsein anderen manchmal näher kommt als sozial akzeptabel angesehen, und die ausgesprochenen: «Was stimmt nicht mit ihm?». Auch ich musste mich an das andere gewöhnen.

In manchen Situationen ist es einfacher, vage zu sein

Ich dachte am Tag der Entbindung, wir bekommen ein «normales» Kind. Was, frage ich mich im Nachhinein, stellte ich mir unter «normal» vor? Ich hatte keine Ahnung davon, wie man irgendein Kind bekommt und ihm eine Mutter ist. Was sich seitdem bewiesen hat, ist, dass ich mich vielleicht nie daran gewöhnen werde, wie viel unkalkulierbares und irrsinniges Glück darin liegt, seinen Weg als Mutter mitzugehen.

Ich musste mich darin üben, nicht zu erwarten, dass die Dyspraxie meines Sohnes etwas ist, das er überwinden wird. Oder muss. Er bekommt jede mögliche Hilfe, doch es war mein Missverständnis, dass es eine Behinderung zu bewältigen gilt, als wäre sie separat vom Menschen. Ich musste lernen, ihm zu helfen, aber nicht zu erwarten, dass er «normaler» wird. Manchmal sage ich noch immer «besondere Bedürfnisse», oder eben special needs, obwohl es schlicht menschliche Bedürfnisse sind, weil es für mich in manchen Situationen und vor mir unbekannten Menschen einfacher ist, vage zu sein, als ihn zu erklären.

Er kennt sich nur so, wie er ist

Er selbst findet sich nicht erklärungsbedürftig. Er kennt sich nur so, wie er ist. Ihn darin zu bestärken, geht einher mit der Furcht, ihn nicht beschützen zu können. Diese Furcht, dass er nicht so akzeptiert wird, wie er sich selbst akzeptiert, ist, denke ich, ein anderer Grund, warum ich sein Glücklichsein oft betone. Denn fällt es uns nicht leichter, glückliche und gesunde Menschen zu akzeptieren?

Aber ich frage mich, ob ich mit dieser Betonung, die auch dazu dient, anderen zu zeigen, dass es ihm gut geht, mit diesem Schutzmechanismus, nicht einen Ableismus bediene, der uns beispielsweise davon erzählt, wie schön es ist, wenn behinderte Menschen trotzdem fröhlich sind. Und, auch das, anderen zeige, dass man als Mutter eines behinderten Kindes glücklich sein kann. Glücklich ist.

Besonders ist ein einsames Wort

«Besondere Kinder suchen sich besondere Eltern» ist ein Satz, der gerne mal kommt.

Ich verstehe, was gemeint ist, danke, aber nein, ich bin so wenig besonders wie mein Kind, wenn das bedeuten soll, dass es mich besonders macht, für ihn zu sorgen. Besonders lässt mich allein. Besonders bedeutet, dass ich nie müde sein darf, nicht die Geduld verlieren sollte, dankbar sein muss, wenn das Kind den Schulplatz bekommt, seine Therapie genehmigt wird, die Krankenkasse die Orthesen für seine Schuhe bezahlt. Besonders ist ein einsames Wort. Es lässt meinen Mann und mich in der Verantwortung, die bei der Gesellschaft liegt, behinderte Menschen nicht zu benachteiligen. Ihnen Teilhabe zu ermöglichen, an Bildung, an Leistungen, an Aktivitäten, ohne dass das als besonderes Goodie verstanden wird, sondern als selbstverständlich.

Mir fiel es lange schwer, Hilfe anzunehmen. Auch, weil ich mir einredete, nicht besonders genug zu sein. Das ist die Kehrseite der Überhöhung: Man kommt auf die Idee, dass man nur eine gute Mutter ist, wenn man alles allein und bis zur Selbstaufgabe schafft.

Warum lassen wir einander so allein?

Die Einsamkeit der Erwartungen – wissen nicht alle Mütter, was gemeint ist? Geht es doch schon in der Schwangerschaft los. Man fühlt sich allein, weil man «zu viel» zugenommen hat. Allein, weil man dann eine Bauchgeburt hatte. Allein, weil man eine PDA gegenüber keiner PDA bevorzugt hat. Allein, weil man nicht gestillt hat. Oder zu kurz. Oder aber zu lang. Allein, weil man die Geduld verliert, genervt ist, ratlos und schlecht gelaunt. Allein in all den Dingen, die sich zu einem Druck aufbauen, Mutterschaft auf eine ganz bestimmte Art zu fühlen und auszuführen.

Warum lassen wir einander so allein? Ist es darin begründet, dass Elternschaft nicht für Ambivalenzen taugt? Dass die Aufgabe, ein Kind zu begleiten, zu versorgen und zu erziehen, so gewaltig erscheint, dass man alles richtig machen will? Weil es einfacher wäre, wenn alle gleich sind?

Meine Therapeutin, die ich zu meiner eigenen Hilfe geholt habe, fragte mich in einer unserer Sitzungen: «Was wünschen Sie sich für Ihr Kind?» Vertrauen in sich selbst. Teil einer Gemeinschaft zu sein. Liebe. Das ist nicht viel verlangt. Und doch gelingt es mir nicht immer, an seine Möglichkeiten zu glauben, wenn ich sehe, was da draussen Wert hat. Wird aus den letzten Jahren bleiben, wie wichtig Pflegearbeit ist oder wie viele «Pflegefälle» das Land aushält?

Eine Wertegesellschaft oder eine Bewertungsgesellschaft? Wird die soziale Kompetenz an Bedeutung gewinnen oder verlieren? Die Empathie füreinander größer oder kleiner werden? Kann es so sein, wie das Motto der Schule meines Sohnes lautet, ein Credo der namengebenden Autistin Temple Grandin: The world needs all kinds of minds, die Welt braucht alle Arten von Köpfen? In der Leistungsgesellschaft gilt es, sich durchzusetzen. Sich Vorteile zu verschaffen. Jede:r will, dass sein Kind die besten Chancen hat. Ich wünsche mir für mein Kind einfach: Chancen.

«Und jetzt?» erscheint am 15.11. (Rowohlt

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