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Auftakt der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte: In der Schweiz gibt es noch immer Zwangssterilisationen

Politik

Auftakt der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte: In der Schweiz gibt es noch immer Zwangssterilisationen

Heute starten in der ganzen Schweiz die Nationalen Aktionstage Behindertenrechte, die auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufmerksam machen sollen. Noch immer können in der Schweiz Menschen zwangssterilisiert werden. Was sich ändern muss, erklärt Juristin Caroline Hess-Klein im Interview.

annabelle: Unter welchen Umständen sind bei uns Zwangssterilisationen legal?
Caroline Hess-Klein: Bei sogenannt urteilsunfähigen Personen darf laut Sterilisationsgesetz eine Sterilisation «im Interesse» der betroffenen Person ohne deren Zustimmung vorgenommen werden. Etwa «wenn nach der Geburt die Trennung vom Kind unvermeidlich wäre, weil die Elternverantwortung nicht wahrgenommen werden kann», wie es im Gesetz heisst.

Wer gilt in der Schweiz als urteilsunfähige Person?
Gemäss Schweizerischem Zivilgesetzbuch sind das Menschen, die im Sinne des Gesetzes nicht fähig sind, vernunftgemäss zu handeln. Mögliche Gründe sind das Kindesalter, eine geistige Behinderung, eine psychische Störung oder Rausch- und ähnliche Zustände. Betroffen von unfreiwilliger Sterilisation sind heute aber vor allem Frauen mit geistigen oder psychischen Behinderungen.

Wie viele Frauen wurden in der Schweiz in den letzten Jahren zwangssterilisiert?
Es gibt in der Schweiz keine verlässlichen Zahlen, weder zu legalen noch zu illegalen Sterilisationen. Das hat auch die Uno vor Kurzem kritisiert. Es gibt aber klare Indizien aus der Beratungstätigkeit unterschiedlicher Organisationen. Nachweisen konnte man in den letzten zehn Jahren etwa 16 bis 18 Fälle, es sind aber sicherlich mehr.

Zwangssterilisationen haben in der Schweiz eine lange unrühmliche Geschichte.
Ja, die Schweiz ist historisch belastet. Bis 1981 wurden etwa Frauen zwangssterilisiert, die nicht den moralischen Wertvorstellungen der damaligen Zeit entsprachen. Im Jahr 2003 hat die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates im Rahmen einer Entschädigung für die Opfer ausführlich darüber berichtet. Opfer von Zwangssterilisationen waren unter anderem arme und wohnungslose Menschen, Psychiatriepatient:innen oder geistig Behinderte. Auch der Einfluss der rassenhygienischen Thesen in Bezug auf Zwangssterilisationen wurde dabei aufgezeigt. So waren im 20. Jahrhundert mehrere einflussreiche Ärzte, Theologen oder Politiker der Meinung, dass es «sozial, geistig und moralisch minderwertige Menschen» gäbe und die Zwangssterilisation ein gutes Mittel zur Vorbeugung gegen die gesellschaftlichen Übel des Alkoholismus, der Wohnungsnot und der Verwahrlosung der Jugend darstelle.

Waren auch hier vor allem Frauen die Opfer?
Es gab auch Kastrationen von Männern, sowohl in der Schweiz als auch in vielen europäischen Ländern, wie zum Beispiel Schweden. Der Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hält fest: Die Eugenik – definiert als «Wissenschaft zur Aufbesserung der menschlichen Rasse» – übte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss auf die Psychiatrie aus. In der Schweiz wurde diese Theorie insbesondere von Auguste Forel vertreten, der Ende des 19. Jahrhunderts knapp zwanzig Jahre Direktor der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich war. Er nahm Sterilisationen tatsächlich mehrheitlich an jungen Frauen vor, bei denen zumeist irgendeine Form von sogenannter Geistesstörung diagnostiziert worden war.

Viele der späteren Opfer wurden mittlerweile durch die Wiedergutmachungsinitiative entschädigt.
Und es wurde grundsätzlich ein Verbot einer Sterilisation ohne Zustimmung eingeführt – ausser eben für Personen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung. Als einzigen Menschen in der Schweiz wird ihnen nach wie vor verwehrt, ein Kind zu haben, wenn sie diesbezüglich als urteilsunfähig eingestuft werden. Das Sterilisationsgesetz will also immer noch verhindern, dass gewisse Menschen sich reproduzieren. Es wird angenommen, dass diese Menschen nicht einschätzen können, was es heisst, schwanger zu sein und ein Kind zu bekommen. Das Gesetz schränkt ein sehr persönliches Recht massiv ein, obwohl unsere Bundesverfassung es ausdrücklich verbietet, Menschen aufgrund ihrer Behinderung zu diskriminieren. Darum haben wir die Petition «Stoppt Zwangssterilisation» lanciert.

Was fordern Sie damit?
Das Sterilisationsgesetz lässt sich nicht vereinbaren mit den Menschenrechten und den diesbezüglichen Verpflichtungen, welche die Schweiz völkerrechtlich eingegangen ist. Daher fordern wir eine Anpassung. Neu soll ausnahmslos bei jeder Sterilisation die vorherige, freie und informierte Zustimmung der betroffenen Person vorliegen. Zudem soll es auch hier eine Wiedergutmachung geben, für diejenigen, die zwangssterilisiert wurden. Dafür braucht es eine wissenschaftliche Aufarbeitung darüber, wer in der Vergangenheit wie betroffen war.

Aber kann ein Mensch mit einer starken Beeinträchtigung die Aufgabe tatsächlich bewältigen, ein eigenes Kind aufzuziehen?
Die Gedanken an die Kinder und die Aufgabe, diese aufzuziehen, sind wichtig. Falsch ist aber, die Diskussion nur mit Bezug auf Menschen mit Behinderungen zu führen und die Herausforderungen mit der drastischen Massnahme der Zwangssterilisation lösen zu wollen. Ein Kind zu haben verändert ein Leben grundsätzlich und ist mit Verantwortung verbunden. Viele Menschen, auch solche ohne Behinderungen, sind zumindest zeitweise überfordert mit dem Aufziehen eines Kindes. Es gibt Eltern mit Suchtproblemen, Eltern die Gewalt anwenden. Auch diese Eltern müssen unterstützt und begleitet werden. Die Lösung in einer gleichberechtigten Gesellschaft ist nicht, einzelnen Gruppen das Recht abzusprechen, schwanger zu werden oder ein Kind zu gebären. Vielmehr muss eruiert werden, was Menschen mit einer psychischen oder geistigen Behinderung brauchen, um einen Entscheid in Bezug auf eine Schwangerschaft treffen zu können.

Der Wunsch nach der Sterilisation kann auch von den Eltern kommen, weil sie nach jahrelanger Pflege des erwachsenen Kindes mit Behinderung nicht auch noch ein weiteres Kind aufziehen möchten. Können Sie deren Anliegen nachvollziehen?
Ja. Die Sorgen sind nachvollziehbar und ernst zu nehmen. Heute sind diese Eltern oft allein gelassen. Dass die Zwangssterilisation, wie wir in unserer Petition fordern, aufgehoben werden muss, ist zwingend nötig. Das alleine reicht aber nicht aus.

Was braucht es noch?
Die betroffenen Personen müssen professionelle, unabhängige Unterstützung erhalten. Damit können viele Probleme aufgefangen werden. Unsere Gesellschaft hat bereits heute Lösungen entwickelt, zum Beispiel Familienbegleitungen oder begleitetes Wohnen. Viele Familien in Notsituationen werden heute vom Staat mit Auffangnetzen wie Mutter-Kind-Wohnhäusern unterstützt.

Und wie geht es jetzt weiter mit der Petition?
Die jüngste Antwort des Bundesrates auf eine Motion zu diesem Thema ist für uns schwer nachvollziehbar: Es sei noch nicht klar, inwiefern eine Revision des Sterilisationsgesetzes nötig sei. Zuerst solle die Nationale Ethikkommission diese Frage prüfen. Und dies, obwohl ein Uno-Ausschuss die Schweiz ausdrücklich aufforderte, die Sterilisation von Menschen mit Behinderungen ohne ihre Zustimmung zu verbieten. Ausserdem hat er die Schweiz auch angehalten, Daten über Sterilisationsverfahren zu erheben und Massnahmen zur Wiedergutmachung zu ergreifen. Damit bleibt unsere Petition leider sehr aktuell.

Caroline Hess-Klein ist Juristin und Co-Geschäftsführerin beim Dachverband der politischen Behindertenorganisationen Inclusion Handicap.

Vom 15. Mai bis 15. Juni 2024 finden die Nationalen Aktionstage Behindertenrechte statt. Während eines Monats finden in der Schweiz Aktionen statt, die einen Beitrag zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention leisten. So führt unter anderem das Zürcher Debattierhaus Karl der Grosse von 23. bis 25. Mai erstmals das Festival InkluVision durch. Mehr Informationen zu den Aktionstagen findet ihr hier.

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Erika

Liebe annabelle
Ich bin auch gegen Zwang, ich bin aber auch Kind einer Mutter mit kognitiver Beeinträchtigung. Heute würde meine Mutter vermutlich mit Autismus diagnostiziert. Die Beziehung zur Mutter ist heute immer noch schwierig. Ich frage mich immer wieder, was denn die Lösung ist für uns Menschen, damit niemand leiden muss. Kinder von Autist:innen tragen unverschuldet eine so hohe Belastung, das ist auch nicht fair, genau so wie die Zwangssterilisation unfair ist. Ich wünsche mir, dass die Öffentlichkeit endlich den Mut hätte über/mit Kinder von Menschen mit Beeinträchtigung zu sprechen.
Herzlich Erika
ps. heute bin ich Sozialarbeiterin:-)