annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli weiss: wegschauen und schweigen ist nie die Lösung. Doch gerade Ende Jahr ist es wichtig, den eigenen Reflex zu schneller Empörung zu hinterfragen und sich in Gelassenheit zu üben.
Eine Frau, die im Schlaf ihren in die Jahre gekommenen nackten Körper nur mit einem dünnen Tuch bedeckt, aber schützend die Hand über die Stirn hält. Eine andere, die zu viel Schminke auf dem faltigen Gesicht trägt, einen Plüschteddy im Arm hält und aus müden Augen so stolz blickt, als könnte sie es mit der ganzen Welt aufnehmen – Bénédicte Desrus’ Fotos der «Unsichtbaren», alternden Prostituierten, haben uns sofort gefangen genommen. Die französische Fotografin hat die einstigen Liebesdienerinnen über fünf Jahre in der Casa Xochiquetzal in Mexiko-Stadt begleitet, dem ersten Altersheim für Prostituierte weltweit.
In der Reportage dazu erzählt die Journalistin Samanta Siegfried die Geschichten der Frauen. Manche lassen lieber alte Fotos in ihren Zimmern sprechen. Andere schreiben ihr Leben «mala suerte» zu, Pech in der Vergangenheit, oder sprechen von jugendlicher Lust zu Revolte, die sie auf einen Weg brachte, dessen Ziel sie erst erkannten, als sie schon viele Kilometer unterwegs waren.
Ebenfalls in dieser Ausgabe spricht der aussergewöhnliche Regisseur Ulrich Seidl über seinen neuen Film «Safari»: ein Porträt über Grosswildjäger in Afrika. Das Thema ist so umstritten, dass der Filmverleih auf seiner Facebook-Seite die entfesselten Kommentatoren zu guter Kinderstube ermahnen musste. Seidl sagt, dass er am liebsten Menschen porträtiert, die ihn zu Fragen verführen. Autor Mathias Heybrock, der Seidl interviewte, schreibt, dass wir in einer Zeit der absoluten Empörung leben, in der die politische Linke die Rechte ablehnt, Fleischesser Veganer und jeder alles, was ihm selber nicht gefällt, und zwar total.
Ich bin definitiv gegen Grosswildjagd. Ein Leben als Liebesdienerin kann ich mir noch nicht mal vorstellen. Zu beidem will ich mir eine klare Meinung leisten. Wegschauen und schweigen ist bekanntlich nie die Lösung. Gleichzeitig gefällt mir der Gedanke, meinen eigenen Reflex zu schneller Empörung zu hinterfragen. Wie immer ist mein Kopf gegen Ende Jahr ohnehin langsam, aber sicher zu müde, um sofort scharf zu urteilen. Vielleicht gar nicht so schlecht. Mit Blick auf die aktuelle Weltsituation sind befriedigende, langfristige Lösungen dringend nötig. Verhärtete Fronten haben solche aber noch nie bewirkt.
Ich erlaube mir dann also mal bis sicher Ende Jahr – passend zu vorweihnächtlichem Cocooning –, erst mal gelassen hinzuschauen, auch auf die Gegenseite, zu überlegen, zu analysieren. Und dann zu urteilen. Auf eine besinnlich-besonnene Adventszeit!