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Atmen neu lernen

Atmen neu lernen

  • Text: Jessica Braun; Foto: Unsplash

Atmen ist das Einfachste der Welt, dachte unsere Autorin. Bis sie aus dem Takt geriet. Sie beschloss, das Atmen neu zu lernen. Und fand dabei ihren eigenen Rhythmus.

Ich liege mit offenem Mund und geschlossenen Augen auf dem Rücken und sauge Luft in meine Lungen. Jemand hat mir die obere Hälfte einer aufgeschnittenen Plastikflasche in den Mund gesteckt. Dieser improvisierte Trichter soll es mir ermöglichen, tiefer zu atmen. Die Frau, die neben mir liegt, ist um diese entwürdigende Hilfestellung herumgekommen. Trotzdem schluchzt sie verhalten zwischen den einzelnen Atemzügen. Weiter vorn im Raum wird sogar hemmungslos geheult. Unkontrolliertes Weinen sei nur einer der potenziellen Effekte einer Breathwork-Session, hat uns der Kursleiter erklärt: «Vielleicht beginnt ihr auch zu halluzinieren oder fühlt euch in die Gebärmutter zurückversetzt – oder ihr müsst furzen.» Ich hoffe, dass nichts davon eintritt. Ich bin nur hier, weil ich meine Atmung besser verstehen will (und darüber vielleicht meine «Gesundheit optimieren», wie es die Kursbeschreibung verspricht). Gerade fühle ich mich mehr wie ein Unfallopfer: nicht richtig ansprechbar, mit schmerzendem Rücken, zuckenden Armen und taubem Gesicht. Auch jegliches Zeitgefühl ist mir verloren gegangen.

Der Kursleiter kniet sich neben mich: «Du machst das toll! Tief ein. Tief aus. Tief ein. Tief aus. Du hast noch eine weite Reise vor dir.» Jetzt ist mir doch zum Heulen. Sich von jemandem erklären zu lassen, wie man atmen soll, tönt erst mal absurd. Atmen ist die einfachste Sache der Welt. Ein echter No-Brainer – zumindest, wenn man gesund ist. Vom ersten Schrei, mit dem wir die Welt begrüssen, bis zum letzten Seufzen, mit dem wir sie wieder verlassen, macht der Körper das selbständig, ob man nun daran denkt oder nicht. Es gibt jedoch Dinge, die den Atem aus dem Rhythmus bringen: Angst oder Wut, aber auch Shapewear und falsche Haltung. Bei mir war es Stress. Wenn ich mich in Meetings durchsetzen musste, klang meine Stimme oft hoch und gepresst, weil ich zu flach und zu schnell atmete. Und vor dem Computer sitzend erwischte ich mich oft dabei, wie ich den Atem anhielt – immer dann, wenn ein E-Mail eintraf. Was alle paar Minuten passierte. Mein Büroatem: ein einziges Stop-and-Go. Hatten mein Atem und ich uns nach 43 Jahren etwa auseinandergelebt? Vielleicht, dachte ich, würde uns eine Luftveränderung gut tun. Ich beschloss, mich meinem Atem ganz neu zu nähern – und begann zu recherchieren.

ATMEN IST DERZEIT
DAS GROSSE
WELLBEING-THEMA.
APPS GEBEN VOR,
WIE MAN EIN- UND
AUSATMEN SOLL
 

Atmen ist derzeit das grosse Wellbeing-Thema: Apps geben vor, wie man ein- und ausatmen soll. In Spas kann man sich im Atem-Rhythmus massieren lassen. Sportler treffen sich zum Power-Atemkurs im Gym, während im Yogastudio die Schüler beim Pranayama, der yogischen Atemlehre, Körper und Geist zu verbinden suchen. Manche Firmen – allen voran Gwyneth Paltrows Goop – engagieren sogar Atemtrainer, damit die Mitarbeiter nicht vor lauter Stress das Durchatmen vergessen. Was wirkt wie ein moderner Trend, ist aber eigentlich eher eine Rückbesinnung: Im Yoga, der traditionellen chinesischen Medizin oder dem japanischen Zenbuddhismus spielt der Atem seit weit über tausend Jahren eine tragende Rolle. Und das zu Recht, wie neuere Forschungsergebnisse zeigen: Die richtigen Atemtechniken können Ängste, Depressionen und Schmerzzustände lindern, uns schneller einschlafen lassen, die Konzentration steigern, das Herz entlasten und die Gefühle beim Sex intensivieren. Und das kostenlos und ohne Nebenwirkungen. Eine der ersten Erkenntnisse meiner Atem-Recherche: Ich hatte meiner Atmung bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Der Atemmechanismus ist unglaublich komplex und besonders: eine Vitalfunktion, überlebenswichtig. Ohne Nahrung kann ein Mensch mehrere Wochen durchhalten und ohne Flüssigkeit immerhin noch einige Tage. Setzt der Atem aus, bleiben jedoch nur Minuten. Anders als Fett kann unser Gewebe Sauerstoff nicht ausreichend speichern. Deshalb machen wir am Tag im Durchschnitt 20 000 Atemzüge. Von Verdauung oder Herzschlag, ebenfalls Vitalfunktionen, unterscheidet sich die Atmung dabei in einem wesentlichen Punkt: Wir können unser Herz nicht willentlich dazu bewegen, langsamer zu schlagen, oder unseren Darm gedanklich dazu bringen, schneller zu verdauen. Aber wir können den Atem bewusst ausdehnen, synchronisieren, anhalten. Das ist eine erstaunliche Fähigkeit, denn sie erlaubt es uns, zumindest für eine Zeitlang, die Kontrolle über unseren Körper zu übernehmen – nicht nur, um Husten oder Schluckauf zu unterdrücken: Wer die Atmung für mindestens zehn Minuten von den normalen 12 bis 18 Atemzügen pro Minute auf sechs verlangsamt, nimmt seinem Herz Arbeit ab. Es muss nicht mehr so heftig pumpen, und der Blutdruck sinkt. Schlaflose kommen auf diese Weise schneller zur Ruhe. Die Hitzewallungen, die viele Frauen in den Wechseljahren plagen, ebben ab. Und Stress geht einem nicht mehr so unter die Haut.

Im Entbindungszimmer einer Frauenklinik konnte ich mich während einer Geburt davon überzeugen, wie kontrolliertes Atmen bei extremen Schmerzen hilft. Blass und mit vor Anstrengung nasser Stirn kämpfte sich dort eine werdende Mutter durch die Wehen. Die Kontraktionen schienen ihr die Luft abzudrücken. Doch die Hebamme erinnerte sie immer wieder daran, durchzuatmen. «Es hilft der Gebärenden nicht nur, sich zu entspannen», hatte mir die Geburtshelferin vor Betreten des Zimmers erklärt. «Wenn sie gleichmässig und tief atmet, versorgt sie ihre Tochter auch besser mit Sauerstoff.» Wird die Atmung dagegen zu f lach, kommt beim Kind nicht genug an. Das hat auch so schon genug Stress: Im Bauch der Mutter ist seine Lunge noch mit Flüssigkeit gefüllt. Ein Schutz, damit das Organ nicht kollabiert. Auf dem Weg durch den engen Geburtskanal wird die Lunge dann regelrecht ausgewrungen. So kann sie sich beim Luftholen entfalten. Was ihr dabei hilft: ein Hormonstoss, stärker als bei einem Herzinfarkt, der den Körper des Kindes flutet. Ein dramatischer Moment, aber angemessen: Unser erstes Einatmen ist einer der entscheidenden Atemzüge in unserem Leben, der Auftakt für mehrere hundert Millionen weitere – und nicht immer ein kräftiger Schrei. Das Mädchen, dessen erstes Luftschnappen ich beobachten durfte, krächzte nur leise. Wahrscheinlich war sie einfach erschöpft. Was ich in der Geburtsklinik lernte: Mit dem ersten Einatmen öffnen wir uns der Welt – und damit unseren Körper für Mikroorganismen, Staub und Umweltchemikalien. Für das Immunsystem eines Neugeborenen ist das eine ganz schöne Herausforderung, denn es ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig entwickelt. Wahrscheinlich sind Babies deshalb überzeugte Nasenatmer und reagieren panisch, wenn ihre Nase verstopft ist. Unsere Nase schützt unsere sensible Innenwelt vor der unkontrollierbaren äusseren. Zum einen als Filter: Bis zu fünfzig Prozent der eingeatmeten Bakterien und Partikel bleiben in ihr hängen (Feinstaub lässt sie jedoch kapitulieren). Aber auch als Klimaanlage und Luftbefeuchter. Dagegen ist Mundatmung nur Aushilfsatmung. Sie setzt ein, wenn das beanspruchte Muskelgewebe nach zusätzlichem Sauerstoff verlangt, zum Beispiel, wenn wir zur Bushaltestelle rennen oder zwei Treppenstufen auf einmal nehmen. In solchen Situationen signalisiert das Atemzentrum – Gruppen von Nervenzellen im Hirnstamm – den Muskeln in Brust und Bauch: mehr Luft! Das Zwerchfell, unser wichtigster Atemmuskel, zieht sich nun mit jeder Einatmung stärker zusammen und die Lunge damit auseinander. Sauerstoffreiche Luft strömt hinein – und kohlendioxidreiche heraus. Das ist für den Körper noch viel wichtiger. Denn Kohlendioxid, ein Überbleibsel des Zellstoffwechsels, lässt das Blut «sauer» werden, wenn es sich darin anreichert. Der Blut-pH-Wert sinkt, was Stoffwechselvorgänge aus dem Gleichgewicht bringt – etwas, das unser Körper unbedingt vermeiden will. Die Leistungsfähigkeit eines Menschen wird davon bestimmt, wie effektiv seine Zellen Sauerstoff verarbeiten.

ICH WOLLTE
MICH AUF EIN LEBEN
ALS NICHTRAUCHERIN
EINSTIMMEN, ABER ICH
KLEBTE AM TEER
 

Ich war 33 Jahre alt, als mir das zum ersten Mal richtig bewusst wurde. In neuen Leggins und mit Hightech- Laufschuhen an den Füssen stand ich auf der Strasse und rang nach Luft. Jeder Atemzug fühlte sich an wie ein Riss im Hals. Und das nach einem lächerlichen Kilometer. Es half nicht, dass mein Mann motivierend vor mir auf- und abfederte. Ich. Konnte. Nicht. Mehr. Mein Körper, der nie wirklich krank war, der, seit ich denken konnte, jeden Blödsinn mitmachte, liess mich hängen. Und ich wusste genau, warum: die Zigaretten. Ich rauchte damals zwei Schachteln am Tag. Mit Genuss hatte das nichts mehr zu tun. Es war teuer und, seit man per Gesetz nur noch vor und nicht mehr in den Bars rauchen durfte, alles andere als gesellig. Jedes Mal, wenn ich mich mit meiner Zigarette frierend vor einem Restaurant herumdrückte, dachte ich: Du solltest aufhören. Deshalb versuchte ich, mit meinem Mann joggen zu gehen. Ich wollte mich auf ein Leben als Nichtraucherin einstimmen, einen Ausgleich finden, bei dem ich nicht rauchen konnte. Aber ich klebte am Teer. Es fühlte sich an, als wäre Bewegung einfach nicht drin. Was ich damals nicht wusste: In jedem von uns steckt ein zu Atemhöchstleistungen geborener Superheld. Die Lunge hat immense Kapazitäten, die selbst Profisportler nie ganz ausschöpfen. Was die Atmung angeht, gibt es immer Luft nach oben und Training ist selbst dann möglich, wenn man sehr alt oder krank ist. Auch meine Lunge zeigte sich überaus grossmütig. Ein Flug nach New York half mir, Abstand zwischen mich und meine Sucht zu bringen. Ich rauchte die letzte Zigarette am Flughafen und kaufte nach der Landung keine neuen mehr. Jeden Tag schwor ich mir: Heute rauchst du nicht – die Strategie der kleinen Schritte. Nach vier Wochen als Nichtraucherin konnte ich dann unerwartet grosse machen. «Du brauchst ja gar keine Pause mehr», stellte mein Mann nach drei gejoggten Kilometern fest. Es stimmte. Ich hatte während unseres Laufs nicht einmal angehalten. Und auch die nächsten beiden Kilometer lief ich durch – gemächlich und hörbar atmend, aber ohne Reissen in der Brust. Es fühlte sich an wie eine Wunderheilung. Mittlerweile laufe ich mehrmals pro Woche und gehe zweimal im Monat zum Spinning. Was nichts daran ändert, dass ich bei Belastung zu keuchen beginne. Das geht anderen Sportlern auch so. Manche scheinen sich über ihr Atembedürfnis aber hinwegsetzen zu können. Biathleten zum Beispiel. Die Besten unter ihnen beruhigen ihren Puls auf den letzten Metern vor dem Schiessstand von rasenden 90 auf gefasste 65 Prozent der maximalen Herzfrequenz – einfach, indem sie ihren Atem kontrollieren.

DANN SITZE ICH MIT DEM HINTERN
AUF DEN FERSEN, DIE HÄNDE IM
SCHOSS, UND BEOBACHTE STILL
MEINEN ATEM
 

In wenigen Sekunden runterkommen: Das wollte ich auch können. Ich meldete mich zum Biathlon-Kurs an. Mein Trainer: der ehemalige deutsche Weltmeister Fritz Fischer. Im Schiessen bin ich ganz gut, und Langlauf beherrscht sogar meine Grossmutter, dachte ich. Beides eine Fehleinschätzung. Hechelnd liess ich mich am Schiessstand in den Schnee sinken, versuchte das Gewehr ruhig zu halten – aber der Lauf hüpfte mit meinem aufgeregten Atem auf und ab. «Ausatmung verlängern», riet mir Fritz Fischer. Profis wie er tun das schon, kurz bevor sie den Schiessstand erreichen. So schalten sie vom Ski- in den Schiess- Modus. Man könnte auch sagen: in den Ruhemodus. Denn die Ausatmung ist mit dem Parasympathikus verknüpft – dem Teil unseres Nervensystems, der für die Erholung zuständig ist. Eine verlängerte Ausatmung senkt Herzfrequenz und Blutdruck, Muskeln lockern sich, der Schütze wird gelassener. Kennt der Körper das Prozedere, genügen wenige Sekunden, damit das Stressniveau fällt. Erstaunlicherweise funktioniert diese Technik auch in «Das Kind übergibt sich schon den ganzen Morgen, aber ich kann im Job nicht fehlen»-Momenten. Es ist nur eine Frage des Trainings. Seitdem mache ich deshalb regelmässig Atemübungen. Um meine Atemmuskulatur zu kräftigen, aber auch, um einmal am Tag richtig durchzuatmen – ein Bedürfnis, das wahrscheinlich jeder kennt. Fünfzehn Minuten lang pumpe ich abwechselnd den Brustkorb auf, schnaube wie eine Dampflok, hyperventiliere und ziehe meine Ausatmung in die Länge. Und dann sitze ich für eine Viertelstunde mit dem Hintern auf den Fersen, die Hände im Schoss liegend, die Augen geschlossen, und beobachte still meinen Atem: Ein. Aus. Ein. Aus. Diese einfache Form der Meditation holt einen ins Hier und Jetzt. Weniger Gedanken-Pingpong – mehr Gelassenheit. Das wusste schon der Schriftsteller Henry David Thoreau, ein bekennender Yogi: «Um der körperlichen und geistigen Gesundheit willen, umwirb die Gegenwart», notierte er in sein Tagebuch. Seit ich meiner Atmung mehr Raum gebe, verstehe ich besser, was er meinte. Sie ist schon ein kleines Wunder.

Jessica Braun berichtet in ihrem Buch «Atmen», was sie von Apnoetauchern, Medizinern, Biathleten und Gurus über die Atmung gelernt hat. Verlag Kein & Aber, ca. 20 Fr.