Ist aussergewöhnliche Attraktivität eine Form von sozialer Behinderung? Eine Antwort am Beispiel des schönen Jakob und des schönen Jimmy.
Neulich begegnete ich völlig überraschend einem sehr schönen Mann, der noch dazu kaum etwas anhatte. Er hiess Jakob und war Sauna-Zeremonienmeister in der Therme von Bad Ragaz. Bisher wusste ich nicht einmal, dass dieser Beruf existiert, aber nachdem ich nun Jakob kenne, kommt der Sauna-Zeremonienmeister in meiner persönlichen Job-Hitparade gleich nach Legodesigner und Glückskeks-Autor. Eine wundervolle Tätigkeit!
Jakob leitete das Aufgussritual «Eis auf heiss» in einer Sauna aus schwarzem Abachi-Holz. Dicht an dicht wartete ich mit zwei Dutzend anderen Nackten in diesem dampfenden Darkroom auf den Beginn der Zeremonie. Da reckten plötzlich sämtliche Frauen den Hals, und die Temperatur im ohnehin schon vorhöllenmässig heissen Raum schien um weitere drei Grad anzusteigen: Jakob hatte die Sauna betreten, schön wie ein junger Gott. Der knappe Lendenschurz machte seine Nacktheit nur noch interessanter. Niemals hatte ich einen perfekteren Körper gesehen.
Jakob bot uns eine fantastische Show. Während sphärische Musik durch den Raum waberte, setzte er parfümierte Schneebälle auf den Saunaofen, die sich zischend in duftende Dampfwolken verwandelten. Wie ein Derwisch wirbelte er herum und fächelte uns mit raffinierten Wedeltechniken heisse Luft zu, derweil wir wie träge Haremsdamen auf unseren Frotteetüchern lagerten. Die Hauptattraktion jedoch war Jakob selbst, das Spiel seiner Muskeln, der goldene Glanz seiner von feinen Schweissperlen bedeckten Haut. Er hätte sich auch prima bei den Chippendales gemacht, aber das hier war exquisiter. Ist es verwunderlich, dass, als die Luft schliesslich beinah zu kochen anfing, zahlreiche Männer ins Kühle flüchteten, aber keine einzige Frau?
Was meine Freundinnen und ich nach der Zeremonie so redeten, ist mir zu peinlich, um es an dieser Stelle wiederzugeben. Ich befürchte, Jakob bekäme ein wenig Angst vor uns, und das will ich auf keinen Fall. Lieber erzähle ich von meinem eigenen Schrecken, den ich bekam, als ich mich erhitzt und überstimuliert an die Bar begab, um meinen Kreislauf mit einem kühlen Drink zu beruhigen. Denn wer stand hinter der Theke und wollte meine Bestellung aufnehmen? Jakob, der sexiest Saunameister alive!
«Trinken!», stammelte ich wie eine Verdurstende in der Wüste, woraufhin mich Jakob, der nun ein T-Shirt trug, freundlich und professionell über das Softdrink-Angebot informierte, bis ich wieder zu Atem gekommen war. Jakob, du arme Sau, dachte ich, wie hältst du das bloss aus, dass die Frauen bei deinem Anblick so durchdrehen? Hast du dich an diese Dauerhysterie längst gewöhnt? Oder gibt es Tage, an denen du dir wünschst, ein kleiner, dicker Mann mit Glatze zu sein, um eine Weile im Dickicht der Durchschnittlichkeit unterzutauchen? Bestimmt hatte Jakob keine Probleme, eine Partnerin zu finden. Doch nahmen ihn die Frauen hinter seinem prachtvollen Äusseren überhaupt wahr? Oder verliebten sie sich bloss in das schöne Bild, das er abgab, mit dem sie sich schmücken wollten? Ist aussergewöhnliche Attraktivität vielleicht sogar eine Form von Behinderung?
Schön und nett?
Der schöne Jimmy kam mir in den Sinn. Jimmy übte im Yoga manchmal neben mir den nach unten blickenden Hund. Ich konnte mich dann allerdings kaum konzentrieren, denn Jimmy sah aus wie ein Klon von Michelangelos David. Sogar die Frisur stimmte. Vermutlich ist Jimmy Amerikaner, doch so genau weiss ich das nicht. Und weil ich eigentlich gar nichts über ihn wusste, konnte ich ihm umso hemmungsloser alles Mögliche andichten.
Ich war zum Beispiel fest davon überzeugt, dass Jimmy ein Vollidiot ist. Denn gleichzeitig schön und nett zu sein – das ist ja wohl des Guten zu viel. Bestimmt ist ihm dank seines Aussehens immer alles zugeflogen: die schönsten Frauen, die tollsten Wohnungen, ein super Job bei Google, mit dem er das Zehnfache meines Gehalts verdient. Nichts als ausgleichende Gerechtigkeit, dass ich diesen vom Schicksal so überdimensional verwöhnten Schönling mit Verachtung strafte, oder? Auch der Yogalehrer nahm ihn stets extra hart ran. «Jimmy, du bist kein Wasserbüffel!», ermahnte er ihn vor der ganzen Klasse, wenn er im zweiten Krieger ein bisschen lauter schnaufte als wir anderen. Beim Tee nach dem Kurs stand Jimmy dann ganz allein da. Niemand traute sich, den überirdisch schönen Mann anzusprechen.
Schade eigentlich. Denn so habe ich niemals erfahren, was in Jimmys Leben vor sich geht. Vielleicht ist er ja gar kein eitler Pfau. Vielleicht pflegt er hingebungsvoll seine alzheimerkranke Mutter. Vielleicht ist er Arzt bei Médecins sans Frontières und wartet auf seinen nächsten Einsatz in einem Ebola-Gebiet. Oder er ist Versicherungsvertreter, Bankangestellter, IT-Spezialist und abgesehen von seinem Aussehen so strunznormal und durchschnittlich wie der grosse Rest der Welt. Vielleicht weiss er nicht einmal, wie schön er ist, wie das ja auch viele schöne Frauen nicht wissen, weil Selbst- und Fremdwahrnehmung zwei total verschiedene Dinge sind. Vielleicht ist er trotz meiner bösartigen Vorurteile schön und nett.
Doch das werde ich wohl leider nie erfahren, denn seit einigen Monaten kommt Jimmy nicht mehr ins Yoga. Ich befürchte, wir haben ihn vergrault. Und ich wünschte, ich wäre netter zu ihm gewesen. Denn schöne Männer brauchen das – vielleicht sogar ein bisschen dringender als alle anderen.