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Die Argerichs: Der Film über das bewegte Leben einer Klavier-Ikone

Die Argerichs: Der Film über das bewegte Leben einer Klavier-Ikone

  • Text: Julia Hofer; Fotos: Fabian Unternährer, Jeremy Fletcher/Redferns, Roberto Serra

Wie ist es, als Tochter der Klavier-Ikone Martha Argerich aufzuwachsen? Stéphanie Argerich hat einen Film über ihre Familie gedreht. Eine Reise in ein chaotisch-kreatives Matriarchat.

Martha Argerich (71) hasst Interviews. Dass «die Löwin am Klavier» diesmal überhaupt daran dachte, mit der Presse zu reden, ist allein dem Umstand zu verdanken, dass ihre Tochter einen Film über ihre Familie gedreht hat. Es ist eine subtile Auseinandersetzung mit der grossen Pianistin geworden, einer empfindsamen, extravaganten und geheimnisvollen Musikerin, deren Bühnenangst ebenso legendär ist, wie ihre Konzertabsagen gefürchtet sind – und die so gar nichts gemein hat mit den aalglatten Klassikstars, die heute Karriere machen. Es ist aber auch ein Film über eine Mutter geworden, die nie ein wohltemperiertes Leben gekannt hat und mit ihren Töchtern stattdessen in einer chaotischen Musikerwohngemeinschaft in Genf hauste. Oder anders ausgedrückt: eine Geschichte über eine geniale Künstlerin, die gleichzeitig auch Mutter war.

Wir treffen uns in einem Café in Genf. Tochter Stéphanie Argerich wohnt in der Stadt, Mutter Martha ist aus Brüssel angereist. Das Café wirkt mit seinen antiken Möbeln und der kleinen Kuchentheke très français. Stéphanie ist eine natürliche Schönheit mit langen dunklen Haaren. Martha Argerich, die Mähne in Würde ergraut, eine starke Persönlichkeit. Das Gespräch, das sich nur mühevoll organisieren liess, verspricht auf Anhieb unkompliziert zu werden. Die Tochter fummelt an Mutters Pullover herum. «Was ist?», fragt diese mit dunkler Stimme. «Ich dachte, du hast ein Loch im Pullover!», antwortet Stéphanie. Die Mutter hebt den Arm, kontrolliert: »Wo ist ein Loch?» Tochter: «Es hat kein Loch. Ich dachte nur, da wäre eins.» Sie lacht. So laut und ansteckend, bis alle am Tisch mit ihr lachen.

«Tochter einer Göttin»

ANNABELLE: Martha Argerich, wie gefällt Ihnen der Film, den Ihre Tochter gedreht hat?
MARTHA ARGERICH: Als ich ihn zum ersten Mal sah, mochte ich ihn gar nicht. Ich hatte schon immer Mühe, mich selbst anzuschauen, sogar als ich noch jung und schön war. Ich lasse mich nicht gern fotografieren oder filmen, weil ich nicht gern im Zentrum stehe. Ich finde, der Film dreht sich zu sehr um mich. Jetzt, wo ich ihn ein paarmal gesehen habe, gefällt er mir besser: Das Drehbuch ist gut.
STÉPHANIE ARGERICH: Der Film handelt von der ganzen Familie. Aber du stehst im Zentrum, das stimmt.
Handelt der Film auch von Ihnen, Stéphanie?
STÉPHANIE ARGERICH: Ja. Vielleicht hätte ich mich noch stärker einbringen können, aber ich bin auch präsent, wenn ich hinter der Kamera bin oder wenn man nur meine Stimme hört.
Sie nennen sich im Film «Tochter einer Göttin» …
MARTHA ARGERICH: Das fand ich schockierend!
… wie ist das Leben als «Tochter einer Göttin»?
STÉPHANIE ARGERICH: Natürlich könnte ich sagen: Oh my God, wie kann man es bloss mit einer solchen Mutter aushalten! Aber man kann auch etwas aus dieser Situation machen. Es ist inspirierend. Andererseits ist es natürlich auch schwierig, weil meine Mutter in einer ganz anderen Welt lebt.

Als Stéphanie 1975 zur Welt kam, hatte Martha Argerich bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Eine Wunderkindkarriere in Argentinien, gefördert und gecoacht von einer unnahbaren Mutter. Die berühmtesten Lehrer, mit sieben das erste Konzert, Klavierwettbewerbe. Anfang zwanzig dann eine ausgewachsene Schaffenskrise. Von Selbstzweifeln gequält, wollte sie Maschinenschreiben lernen und als Sekretärin arbeiten. Da wurde sie schwanger und heiratete den Vater in spe, den chinesischen Pianisten Robert Chen. Doch die Ehe scheiterte bereits nach drei Wochen; gemäss Argerich, weil sie mit ihren nackten Füssen Brotbrösmeli ins Ehebett geschleppt habe.

Schön, wild und rebellisch

Nach dem Brösmeli-Eklat zog die Schwangere zu ihrer Mutter, die mittlerweile in Genf lebte, und gebar dort ihre erste Tochter Lyda. Das kränkliche Baby wurde in einer Spezialklinik untergebracht, Martha zog nach Brüssel weiter, um, von ihrer Mutter dazu gedrängt, ihre darbende Karriere wieder aufzunehmen. Als Robert Chen einige Monate später doch noch Interesse an seiner Tochter zeigte und nach Genf reiste, wollte die eifersüchtige Grossmutter das Baby vor Chen retten, entführte es aus der Klinik und brachte es zu Martha. Darauf verlor diese das Sorgerecht für ihre Tochter, die dann zuerst bei Pflegefamilien und später bei ihrem Vater aufwuchs.

Als Martha Argerich 24 Jahre alt war, erreichte ihre mittlerweile wieder in Schwung gekommene Karriere einen vorläufigen Höhepunkt: Sie gewann den mythenumwobenen Chopin-Wettbewerb. Jetzt war sie eine gefeierte Pianistin, galt als Ausnahmetalent. Sie war schön, wild, rebellisch. Eine mitreissende Virtuosin, deren Spiel als «gipfelstürmend» und «technisch perfekt» bejubelt wurde. Fans prügelten sich um Konzertbillette.

Auch ihre zweite Ehe, mit dem Schweizer Dirigenten Charles Dutoit, die sie zur Schweizerin machte und aus der ihre Tochter Annie stammt, war nicht von Dauer. Nach fünf Jahren hatte Dutoit ihr Chaos, ihre Gäste und ihre Launenhaftigkeit satt. Stephen Kovacevich war ihre nächste Liebe – der äusserst disziplinierte Pianist schien mit Argerichs Lebensstil am besten klarzukommen. Mit ihm hatte sie ihre dritte Tochter: Stéphanie. Das Paar war nicht verheiratet, die beiden entschieden per Los, dass ihre Tochter den Nachnamen der Mutter und den Vornamen des Vaters tragen sollte. Doch auch diese Beziehung sollte in die Brüche gehen – Oliver Bellamy, der eine viel beachtete Biografie über die Pianistin verfasst hatte, schrieb dazu: «Martha übertrug ihre grosse Liebe zu Stephen Kovacevich auf ihre Tochter Stéphanie, die ihre Sanftmut und Zärtlichkeit ans Licht brachte.»

Ungefilterte Kindheit

Oft nahm sie Stéphanie mit auf Tournee. Dass diese deswegen den Schulunterricht versäumte, kümmerte sie wenig. Stéphanie lungerte gern hinter den Bühnen der grossen Konzerthäuser herum und schloss Bekanntschaft mit lauter interessanten Menschen. Sie erinnert sich aber auch an den Schrecken, den ihr die Mutter einjagte, wenn sie an Bahnhöfen aus dem Zug stieg, um zu rauchen, und erst in letzter Sekunde wieder einstieg, sodass Stéphanie jedes Mal glaubte, der Zug sei ohne ihre Mutter weitergefahren. Auch ihr groteskes Lampenfieber bekam die Tochter hautnah mit: «Nach dem Konzert war meine Mutter erleichtert und glücklich. Ich jedoch war noch immer ganz geschafft.» Martha Argerich vergötterte ihre jüngste Tochter, teilte alles mit ihr. «Es gab keinen Filter», sagt Stéphanie. «Als kleines Mädchen weiss man nicht, wie man damit umgehen muss. Es gab Zeiten, da habe ich sie angeschrien: Du hast mir meine Kindheit gestohlen!» Martha Argerich hat das natürlich nie so gesehen. Stéphanie sei sehr anhänglich gewesen, sagt sie, ein sehr glückliches Kind, das viel gelacht habe. Sie hatte Stéphanie gern um sich. Brauchte sie ihre Gesellschaft? «Wahrscheinlich, ja.»

Martha Argerich war mittlerweile zur Einsicht gekommen, es sei einfacher, Kinder ohne den Vater aufzuziehen. Sie lebte mit ihren Töchtern Annie und Stéphanie in einem ehemaligen Waisenhaus in Genf. Ein «besonderes Haus» sei das gewesen – so gross, dass Stéphanie eines Tages ein Zimmer entdeckt habe, das niemand zuvor betreten habe. Das Haus wurde von Marthas jungen Liebhabern, Freunden und Gästen bevölkert, die für einige Tage oder Monate abstiegen, sich aus dem Kühlschrank bedienten, auf einem der vier Flügel klimperten und sich manchmal auch um die Kinder kümmerten. Den Mädchen war alles erlaubt, die Mutter setzte keine Grenzen. Eine Portugiesin kümmerte sich zwischendurch um den Haushalt, doch das war ein schier unmögliches Unterfangen.

Sie hatten damals 22 Katzen, stimmt das?
MARTHA ARGERICH: Nein, nein …
STÉPHANIE ARGERICH: 18 Katzen. Und überall Katzenscheisse (lacht laut).
MARTHA ARGERICH: Ja, es war ein Chaos … (lacht jetzt auch)
STÉPHANIE ARGERICH: Ich fühlte mich zwar sehr frei – aber es war schon irritierend, sich am Morgen fragen zu müssen, wer wohl der Typ auf dem Sofa sein könnte, neben sich eine Wodkaflasche (lacht schallend).
MARTHA ARGERICH: Das Haus war nie abgeschlossen.
STÉPHANIE ARGERICH: Früher habe ich Mamas Lebensstil viel kritischer betrachtet als heute. Mein Leben mit meinen beiden Söhnen und meinem Ehemann ist zwar schön, aber manchmal finde ich es auch ein bisschen langweilig. Mein Alltag ist um meine Kinder herum organisiert. Hin und wieder fühle ich mich als Sklave der Schule, des Systems. Ich vermisse den Lärm und das Abenteuer.
MARTHA ARGERICH: Ich finde es gut, wenn Kinder mit vielen Erwachsenen aufwachsen. Das ist doch inspirierender als eine Kindheit bloss mit den Eltern, dem Fernseher und dem Computer.
STÉPHANIE ARGERICH: Ja, aber ich würde mir ein demokratischeres Zusammenleben wünschen, als es in deiner WG gelebt wurde. Dort drehte sich alles um dich …
MARTHA ARGERICH … das stimmt doch nicht. Da waren zum Beispiel Christian und Suzie …
STÉPHANIE ARGERICH: … aber es war dein Haus, sie kamen zu dir …
MARTHA ARGERICH: … nein, wir haben uns die Miete geteilt. Es war eine Gemeinschaft.

Realitätsfern

Stéphanies Vater, Stephen Kovacevich, hätte der ruhende Gegenpol in dieser Kindheit sein sollen. Eine der berührendsten Szenen des Films zeigt, wie Stéphanie ihn bittet, sie doch endlich offiziell als seine Tochter anzuerkennen. Der Vater, einen Stapel Dokumente in der Hand: überfordert. Die Tochter, mit Tränen in den Augen: überfordert. Bis heute ist ihr Wunsch nicht erfüllt worden. Sie glaubt ihrem Vater nicht, dass irgendwelche Papiere fehlen. Gereizt sagt sie: Wenn einer Hammerklavier spielen könne, müsste er auch in der Lage sein, seine Tochter anzuerkennen. Die Mutter gibt zu bedenken, ein historisches Tasteninstrument zu spielen, sei nicht dasselbe wie ein Gang durch die Bürokratie. Kovacevich sei schon immer «etwas realitätsfern» gewesen. Als junger Mann habe er geglaubt, Würste würden auf Bäumen wachsen.

Stéphanie Argerich studierte in New York Fotografie, jobbte als Fotoassistentin und in einer Galerie und wandte sich danach dem Film zu. Sie erzählt gerade, ihre ersten Musikerporträts seien eigentlich bloss «Vorstudien» für den Film über ihre Eltern gewesen, als die Mutter unvermittelt einwirft: «Eigentlich wolltest du Floristin werden. Du hast Blumen immer sehr gemocht.» Die Tochter schaut sie verwundert an, will wissen, warum sie das jetzt sage. Die Mutter seelenruhig: «Ich habe mich soeben daran erinnert. Es ist doch süss. Und es wurde noch nie erzählt.»

Natürlich könnte Stéphanie Argerich es Mama übel nehmen, dass sie just dann unterbricht, wenn es für einmal um die Karriere der Tochter geht. Aber nein, sie hält ihr Gesicht neben eine violette Topfpflanze und witzelt mit dem Fotografen, das gäbe doch ein gutes Bild: «La floriste.» Dabei lacht sie ihr ansteckendes Lachen, bis einem fast die Tränen kommen und allen klar ist: Sie rettet sich nicht einfach in die Clownrolle. Sie ist so. Wahrscheinlich hat ihre Mutter recht, wenn sie das grösste Talent ihrer Tochter wie folgt umschreibt: «Sie ist sehr im Leben. Sehr lebendig. Sie hat nichts Verhaltenes an sich.»
Und Stéphanie Argerich ist, möchte man ergänzen, klug genug, sich nicht mit ihrer Mutter, dieser Göttin, zu vergleichen. «Ihr Leben ist so verschieden von meinem, es wäre absurd, das zu tun.» Mit ihrer beruflichen Situation scheint sie, vielleicht auch deshalb, ziemlich zufrieden zu sein. Ganz im Gegensatz zur Mutter.

Widersprüchliche Natur

MARTHA ARGERICH: (theatralisch) Es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Spass verderben muss: Ich hasse die Bühne! Ich mag meinen Beruf überhaupt nicht. Ich gebe nicht gern Konzerte, ich bin nicht gern nervös, ich reise nicht gern. Leider ist das die Wahrheit. STÉPHANIE ARGERICH: Aber es macht dich auch glücklich. Du liebst die Musik.
MARTHA ARGERICH: Aber es würde mir vollkommen reichen, Musik zu hören. Oder für mich allein zu spielen. Nach jedem Konzert kommen Leute zu mir, die mich zu einem weiteren Auftritt überreden wollen. Das hasse ich am meisten.
STÉPHANIE ARGERICH: (lacht laut) Das findest du schrecklich? Du verbringst Stunden mit diesen Leuten!
MARTHA ARGERICH: Ich kann nicht Nein sagen.
STÉPHANIE ARGERICH: Mein Vater gibt ein Konzert – und geht wieder. Er lässt sich nie auf so was ein.
MARTHA ARGERICH: (interessiert) Wie macht er das?
STÉPHANIE ARGERICH: Er tut es einfach! Und er ist übrigens nicht der einzige Musiker, der das kann …
MARTHA ARGERICH: Er spielt oft in England, da ist es vielleicht einfacher.
STÉPHANIE ARGERICH: Er macht das überall auf der Welt so.
MARTHA ARGERICH: (ernst) Wahrscheinlich flieht er durch eine Hintertür.
STÉPHANIE ARGERICH: Du findest es lästig, dass du belagert wirst. Aber du geniesst die Aufmerksamkeit auch. Diese Widersprüchlichkeit gehört zu dir.

Stéphanie Argerich schaut ihre Mutter lächelnd an. Man spürt, wie nahe sich die beiden sind. Früher habe sie das Gefühl gehabt, ihre Mutter beschützen zu müssen, sagt sie. Das habe sie belastet. Doch irgendwann habe sie realisiert, dass ihre Sorgen unnötig sind. «Meine Mutter ist wie eine Katze. Manchmal sehe ich sie mit unmöglich verdrehtem Körper, die Beine in alle Himmelsrichtungen gestreckt, durch die Luft fliegen. Als Kind dachte ich dann jeweils: Das ist das Ende der Welt. Heute weiss ich, dass sie auf den Füssen landet.» Sie imitiert den Gesichtsausdruck der Katze, durch die Luft fliegend. Martha Argerich schaut sie amüsiert an. «Ich bin meiner Mutter ein Leben lang gefolgt», sagt Stéphanie.

Das tat sie auch, als sie eine Kamera in die Hand nahm und einen Film über ihre Mutter drehte. Allerdings gab es da einen entscheidenden Unterschied: Diesmal führte die Tochter Regie. Ob es befreiend gewesen sei, diesen Film zu machen? «Yes!!!» Und nun, da der Film fertig sei, witzelt sie weiter, sei auch die Mutter befreit. Denn klar, die fand es ziemlich lästig, von einer Kamera verfolgt zu werden, obwohl sie diese sogar im Schlafzimmer duldete. «Ich konnte Stéphanies Wünschen noch nie etwas entgegensetzen», sagt Martha Argerich. «Sie war schon als Kind sehr stark. Es war immer besser, sie machen zu lassen.»
 

— Stéphanie Argerichs Film «Argerich» ist derzeit in verschiedenen Schweizer Städten im Kino zu sehen.

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1.

«Natürlich könnte ich sagen: Oh my God, wie kann man es bloss mit einer solchen Mutter aushalten! Aber man kann auch etwas aus dieser Situation machen.» Stéphanie Argerich

2.

Beissende Bise beim Fototermin – beste Laune bei den beiden Interviewpartnerinnen: Martha und Stéphanie Argerich in Genf.

3.

«Es war schon irritierend, sich am Morgen fragen zu müssen, wer wohl der Typ auf dem Sofa sein könnte, neben sich eine Wodkaflasche.» Stéphanie Argerich

4.

«Ich hasse die Bühne! Ich mag meinen Beruf überhaupt nicht. Ich gebe nicht gern Konzerte, ich bin nicht gern nervös, ich reise nicht gern. Leider ist das die Wahrheit.» Martha Argerich

5.

«Argerich» läuft seit 4.4.13 in den Schweizer Kinos.

6.

Schön und genial: Martha Argerich 1970 mit ihrem zweiten Ehemann Charles Dutoit.

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