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Architekt Ferdinand Ludwig: «Die Überhitzung ist die grösste Naturkatastrophe unserer Zeit»

Architekt Ferdinand Ludwig: «Die Überhitzung ist die grösste Naturkatastrophe unserer Zeit»

Weltweit gibt es immer mehr Hitzetote, auch in der Schweiz. Ferdinand Ludwig, Architekt und Professor für Baubotanik, denkt den Städtebau neu – und träumt von der Stadt als bewohnbarem Wald.

annabelle: Ferdinand Ludwig, wenn Sie träumen dürfen: Wie sehen unsere Städte in hundert Jahren aus?
Ferdinand Ludwig: Meine Vision ist die einer Stadt als bewohnbarer Wald: Jedes Gebäude wäre aus klassischen Bauelementen und Bäumen gebaut. Die Stadtbewohner:innen wären, wie bei einem Waldspaziergang, ständig umgeben von Grün – das Fluchtbedürfnis «Raus aus der Stadt, ab in die Natur» wäre kaum mehr präsent.

Dieses Bedürfnis kennen viele Stadtbewohner:innen nur zu gut.
Städte müssen nicht so aussehen, wie sie es heute tun; uns auf Dauer stressen, uns aufs Gemüt schlagen. Es könnte auch Städte geben, in denen wir uns richtig wohlfühlen, weil wir binnen weniger Sekunden von unserer Wohnung auf den Balkon in die eigene Baumkrone treten können. Auch Brücken können Hybride aus Pflanzen und Technik sein – und uns so Naturerlebnisse ermöglichen, wie wir sie bisher nicht kennen. Wir würden durch Baumkronen spazieren.

Okay – und nun mal ganz ohne Träumereien: Wie sehen unsere Städte in hundert Jahren aus?
Das hängt ganz davon ab, wie sehr wir uns trauen, neue Wege zu gehen. Wenn wir in Trippelschritten weitermachen und vor allem Angst haben, das wir nicht kennen, geschieht die Transformation sehr langsam. Zu langsam.

Zu langsam wofür?
Sowohl, um den Klimawandel abzubremsen, als auch, um uns rechtzeitig an die Folgen anzupassen. Wenn wir nichts Neues wagen, werden wir die Auswirkungen, die wir heute schon spüren, bald noch viel drastischer wahrnehmen – etwa die Überhitzung der Städte. Ich fürchte mich davor, dass wir in eine Spirale der sich ständig verstärkenden negativen Effekte geraten.

Warum?
Wenn nur Technik eingesetzt wird, um auf die Folgen des Klimawandels zu reagieren, kann das böse enden. Nehmen wir das Beispiel Klimaanlagen: Wenn wir sie überall installieren und die Fenster zumachen, pusten wir die heisse Abluft raus auf die Strasse. Und draussen wird es immer unerträglicher. Das Drinnen und Draussen wird immer stärker separiert – und unser Bewegungsradius immer weiter eingeschränkt.

Das klingt apokalyptisch.
Das ist es auch! Die Überhitzung ist die grösste Naturkatastrophe unserer Zeit. Man geht davon aus, dass es 2003, während des verheerenden Hitzesommers, 50’000 bis 70’000 Hitzetote gab in Europa. Das ist eine gigantische Zahl. Wenn wir mit grüneren Städten auch nur ein klein wenig dazu beitragen können, die Temperaturen in den Griff zu bekommen, können wir zehntausende Leben retten.

Ist das das Versprechen der Baubotanik, bei der technische Bauteile mit Bäumen als lebenden Konstruktionselementen zusammenwachsen?
Das ist eines der Versprechen, ja. Die Baubotanik ist eine sehr gute Methode, sich an den Klimawandel anzupassen. Aber ich muss gleichzeitig auch ehrlich sagen: Das CO2, das wir in den Bäumen einspeichern, ist angesichts der globalen Herausforderung irrelevant.

Irrelevant?
Jede Person, die etwas anderes behauptet, betreibt Greenwashing. Selbst wenn wir komplett grüne Städte hätten, könnten wir den Klimawandel damit nicht bekämpfen. Das, was wir an CO2 einspeichern würden, stünde inkeinerlei Verhältnis zu dem, was täglich ausgestossen wird. Die Baubotanik ist vor allem auf lokaler Ebene sehr wirkungsvoll.

Also nur an Ort und Stelle, dort, wo das baubotanische Gebäude steht?
Ein einziges Projekt wirkt vor allem an dem Ort, an dem es steht, ja. Es werden dort etwa Habitate geschaffen; ein Baum ist ja auch Lebensraum für andere Pflanzen und Tiere. Indirekt profitiert aber auch der Umraum, weil der Baum die Sonnenenergie aufnimmt und in Verdunstungsenergie umsetzt. Heisst konkret: Er wirft das Negative, die Sonnenstrahlung, nicht einfach in den Stadtraum zurück wie Klimaanlagen oder Jalousien.

Wie viele baubotanische Gebäude wären nötig, damit eine ganze Stadt merklich runterkühlt?
Für einen messbaren Effekt müssten mindestens dreissig Prozent der Grundfläche einer Stadt von Baumkronen überschirmt sein. Je mehr Baumkronen, desto kühler wird es – deshalb sind Waldspaziergänge ja gerade an heissen Sommertagen so eine Wohltat. Ausserdem möchte ich die ästhetische Qualität der Baubotanik betonen: Den Wohlfühlwert für den Menschen erachte ich als genauso wichtig wie alle anderen Argumente, die dafür sprechen.

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«Wenn man von seinem Wohnzimmerfenster aus nur auf Hauswände glotzt, tut einem das nicht gut»

Ist es nicht Typsache, ob man sich in einer Baumkrone wohler fühlt als auf einem klassischen Stadtbalkon?
Situativ bestimmt, aber nicht längerfristig. Wir sind genetisch wahnsinnig stark auf Grün getrimmt – das merkt man zum Beispiel daran, dass wir ein so grosses Grünspektrum sehen können. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass Grün uns auf vielen Ebenen unheimlich guttut. Der niederländische Forscher Cecil Konijnendijk hat basierend auf diesen Studien die pfiffige 3-30-300-Regel entwickelt.

Wofür stehen diese Zahlen?
Konijnendijks Regel besagt: Um gesund zu leben, muss ich von meinem Wohnhaus aus mindestens 3 grosse Bäume sehen können, die Baumkronenfläche im Quartier muss mindestens 30 Prozent betragen – und es sollten maximal 300 Meter bis zum nächsten Park oder Wald sein. Bei dichter Bebauung kann diese Regel eigentlich nur erfüllt werden, wenn Baubotanik ins Spiel kommt. Denn woher sollen in einer dichtbevölkerten Stadt plötzlich all diese Bäume kommen? Es braucht sie als Wohnfläche, sonst kommen wir nie auf die nötige Anzahl.

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Weiss man, warum wir Menschen so auf Grün getrimmt sind?
Unsere menschlichen Anfänge erlebten wir in einer grünen Welt – dort musste sich der Mensch gut orientieren können. Es gibt Theorien, die besagen, dass Menschen bereits früher in Baumkronen gelebt haben. Ausserdem steht Grün für Fruchtbarkeit: Nur dort, wo Photosynthese möglich ist, wo es Licht und Wasser gibt, können wir auf Dauer überleben. Die Studien, die es zu dem Thema gibt, kann man im Umkehrschluss so zusammenfassen: Je weniger Grün wir sehen, desto schlechter geht es uns – körperlich wie mental.

Warum nicht einfach die Betonwände grün bemalen?
Man weiss, dass homogene technische Flächen negative Auswirkungen auf die Psyche haben. Wenn man also von seinem Wohnzimmerfenster aus nur auf Hauswände glotzt, tut einem das nicht gut. Für eine positive Wirkung braucht es heterogene Flächen und Strukturen, also Abwechslung fürs Auge. Das gilt auch bei Pflanzen, mit pflanzlichen Monokulturen wäre es ebenfalls nicht getan. Erst in der Summe der Stimuli ergibt sich der Mehrwert. Bäume bieten – je älter und grösser, desto besser – hier sehr viel: Sie liefern aufgrund ihrer Aufteilung in Stamm und Baumkrone per se Abwechslung fürs Auge.

«Baubotanik ist keine Spinnerei. Die grössere Spinnerei wäre, weiterzumachen wie bisher»

Welche Herausforderungen bringen Bäume als Teil des Wohnraums von Menschen mit sich?
Allergien müssen bei der Planung berücksichtigt werden – und auch scheinbar banale Risikofaktoren, etwa, dass man im Herbst auf dem Laub ausrutschen könnte. Man muss sich auch mit den anderen Bewohnern der Baumkrone auseinandersetzen. Schmetterlinge oder Rotkehlchen finden die meisten Leute ganz toll – nicht so sehr aber Spinnen oder Tauben.

Wie lässt sich all das in der Planung berücksichtigen?
Hauptsächlich durch die Wahl der Baumart.

Welche Bäume kommen infrage, welche nicht?
Wir haben auf den Versuchsfeldern der Technischen Universität München Dutzende Bäume angepflanzt, um sie zu beobachten und weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Was wir aber definitiv schon wissen: Den idealen Baum gibt es nicht. Es geht immer darum, den bestmöglichen Kompromiss zu finden: Je nach Standort und Bedürfnislage müssen zig verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Das ist bei klassischen Strassenbäumen nicht anders. Da wir in der Baubotanik mit dem Einwachsen technischer Teile arbeiten, stellt sich zum Beispiel die Frage: Kann der Baum das? Kommt er mit den Bedingungen klar, die wir ihm bieten? Und dann gibt es noch all die Faktoren, die den Menschen betreffen – etwa die Frage nach der Baumkronendichte: Wie viel Licht kommt durch, wie viel Schatten möchte ich?

 

Was entgegnen Sie, wenn jemand Baubotanik als utopische Spinnerei abtut?
Vieles! (lacht) Der Hauptgrund, warum Leute so etwas sagen, ist ja oft, dass etwas noch nicht vollumfänglich erprobt ist – was in der Natur der Sache liegt, wenn etwas neu entwickelt wird. Das ist aber eine fatale Haltung, die wir uns angesichts der Klimakrise nicht leisten können. Ich sehe die Baubotanik als eine Notwendigkeit. Die grössere Spinnerei wäre, weiterzumachen wie bisher.

Dauert es aber nicht tatsächlich viel zu lange, bis so ein baubotanisches Gebäude steht?
Wenn es eilt, gibt es die Möglichkeit der Pflanzen-Addition. Mit dieser Technik, bei der wir aus hunderten Jungbäumen einen grossen Organismus zusammenwachsen lassen, entsteht relativ schnell das Volumen eines ausgewachsenen Baumes. Das ist allerdings aufwändiger und entsprechend teurer. Deutlich günstiger und weniger aufwändig ist es, Bäume aus der Baumschule zu nutzen, die schon acht bis neun Meter gross sind und mit denen wir direkt eine Höhe von zwei bis drei Stockwerken erreichen. Das ist ein Teil meiner Antwort auf die Frage nach der Zeit.

Und der andere?
Mit dem Anspruch, dass alles wie ein Produkt funktioniert, das ich im Internet anklicke und am nächsten Tag ist es da, kriegen wir den Wandel nicht hin. Wir müssen lernen, mit Zeit zu planen. Angesichts der Klimakrise müssen wir ja eh ganze Städte umbauen – das sind alles Projekte, die Jahrzehnte dauern. Da fügen sich Bäume mit ihrem Wachstum ganz gut ein. Wir müssen nur rechtzeitig damit beginnen.

Gibt es denn irgendwo auf der Welt schon Bestrebungen, die Baubotanik im grossen Stil umzusetzen?
Nein. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das bald ändern wird. Die Baubotanik ist noch eine relativ junge Disziplin – deshalb war bisher viel Skepsis spürbar. Nach fast zwanzig Jahren Forschung und experimenteller Umsetzung haben wir mittlerweile einen guten Wissens- und Erfahrungsstand, um nun richtig loslegen zu können. Auch die Notwendigkeit der Baubotanik wurde immer wieder infrage gestellt – daran wird aufgrund der steigenden Temperaturen bald niemand mehr zweifeln.

Warum reicht es eigentlich nicht, die Häuser zu begrünen? Zumindest das sieht man in den Städten ja schon relativ häufig.
Begrünung ist immer gut, ich will da gar nichts schlechtreden. Was man allerdings wissen muss: Wenn Bäume auf Balkonen wachsen sollen, wie wir das beispielsweise vom Bosco Verticale in Mailand kennen, ist die Instandhaltung deutlich aufwändiger und teurer. Die sogenannten gebäudegebundenen Systeme müssen zeitlebens mit einer ausgeklügelten Technik bewässert werden. Der Baum eines baubotanischen Gebäudes wiederum versorgt sich selbst. Auch die Klimabilanz ist viel schlechter, wenn ich ein Haus ohne Bäume baue, weil ich mehr Baumasse benötige. Und dann komme ich wieder zum Wohlfühlargument: Je nach Begrünungsart sehe ich von dem Grün nicht viel, wenn ich aus meinem Fenster schaue. Wenn die Baumkrone Teil des Wohnraums wird, habe ich Grün von allen Seiten.

Bleibt eine Frage: Was passiert, wenn ein Baum krank wird oder stirbt? Bricht dann das ganze Gebäude in sich zusammen?
Dass immer wieder einzelne Äste und Zweige, die der Baum nicht mehr braucht, absterben, ist ein natürlicher Prozess, den wir in der Planung berücksichtigen. Selbst das Absterben ganzer Bäume liegt in der Natur der Sache – denn mit zunehmender Grösse nimmt die Konkurrenz durch andere Bäume zu und oft ist dann zum Beispiel nicht mehr genug Licht für alle da. Diese Prozesse lassen sich durchaus vorhersagen und wir berücksichtigen sie, indem wir so planen, dass der Ausfall einzelner Bäume nicht zum Problem wird. Was man nie ganz ausschliessen kann, sind Baumkrankheiten. Hier ist die Baumpflege immens wichtig. Wenn das gut gemacht wird, können Bäume problemlos mehrere hundert Jahre alt werden.

Bauen mit lebenden Pflanzen: Das ist Baubotanik. Die Wuchsform eines Baumes wird mit technischen Mitteln beeinflusst – so kann eine Fusion aus Pflanze und klassischen Bauelementen entstehen. Der Begriff Baubotanik entstand am Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart, an dem 2007 das Forschungsgebiet begründet wurde.

Ferdinand Ludwig ist Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der Technischen Universität München und Co-Autor des Buchs «Wachsende Architektur: Einführung in die Baubotanik» (2022). Mit seinem Architekturbüro Office for Living Architecture setzt er baubotanische Projekte um – zurzeit einen Hain mit einwachsenden Sitzgelegenheiten auf einem Kirchenvorplatz in München. Auf dem Bild ganz oben ist ein experimenteller Bau aus Moorbirken von Ferdinand Ludwig und Cornelius Hackenbracht in Wald-Ruhestetten (Deutschland) zu sehen.

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GJW

Sich über Hitze zu beklagen und Photovoltaik zu promoten, ist wirr. Immerhin setzen diese Elemente höchstens 1/4 der Sonnen-Energie in elektrischen Strom um; 3/4 werden als Hitze abgestrahlt. Störche und Segelflieger nutzen die heissen Aufwinde über Photovoltaik-Elementen, aber immer mehr Gewitter-Zellen werden so produziert.

Ralf G. Landmesser

Schön, mal so etwas Ungewöhnliches zu lesen – allerdings gibt es diese Experimente schon seit über 50 Jahren. Lebende Häuser und lebendes Mobilar wurden schon gebaut. Auch Naturvölker haben diese Technik bereits genutzt – die Brücke im Artikel ist ein gutes Beispiel. Es wäre einen Folgeartikel wert, zu recherchieren, was aus den Jahrzehnte zurückliegenden Experimenten geworden / gewachsen ist. Das würde auch Fragen in dem jetzigen Artikel beanworten.