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annabelle kürte Annemarie Käslin 1968 zur «idealen Schweizer Frau»: «Erstmals hatte ich das Gefühl, dass ich doch jemand bin»

Leben

annabelle kürte Annemarie Käslin 1968 zur «idealen Schweizer Frau»: «Erstmals hatte ich das Gefühl, dass ich doch jemand bin»

Annemarie Käslin wurde 1968 in einem annabelle-Wettbewerb zur «idealen Schweizer Frau» gekürt. Heute ist sie 85 und lebt noch immer in Nidwalden. Dort haben wir die ehemalige Wirtin und vierfache Mutter besucht und mit ihr über ihre Tagebücher, die Rolle der Frau und den Weg zum eigenen Glück gesprochen.

Da steht sie auf der Bühne, mit beiden Händen umklammert sie einen riesigen Blumenstrauss, hält sich scheinbar daran fest. Sie steht da, fassungslos, in ihrem selbst genähten Kleid. Annemarie Käslin hat soeben den landesweiten Wettbewerb zur «idealen Schweizer Frau» gewonnen, den annabelle 1968 bereits zum zweiten Mal ausgerufen hatte.

Sie ist dreissig Jahre alt, Mutter von vier Kindern, Köchin im elterlichen Restaurant «Zum Schwanen» im nidwaldischen Beckenried, das bekannt ist für seine lauschigen Eckbänke und Rahmrosetten auf dem Jägerschnitzel, wie es später in einer Reportage in annabelle über die Siegerin heisst.

55 Jahre später sitzt die ideale Frau in einem Plastikstuhl mit Sitzkissen auf dem Balkon eines Wohnblocks in Stans. Von den nahen Hügeln her riecht es nach frisch gemähtem Gras. Drinnen hängt eine schwere Pendeluhr an der Wand und ein aufwendiges Blumenbild, selbstverständlich von Annemarie Käslin selbst gestickt.

Inzwischen ist sie 85 Jahre alt, wirkt aber bedeutend jünger, so schnell und wendig, wie sie zwischen Küche und Balkon hin- und herpendelt. Der Blick durch eine Halbrandbrille wach, interessiert. Sie trägt eine perfekt gebügelte Bluse mit Blumenmuster und erkundigt sich, wie die Fahrt war, wie meine sichtbare Schwangerschaft verlaufe, und sagt – und es klingt nicht kokettierend, sondern ehrlich verwundert: «Jetzt kommen Sie von so weit her, nur um über mich zu schreiben.»

Die ganze Fülle eines Lebens auf 300 Seiten

Dass wir auf Annemarie Käslins Balkon sitzen, ist einem Zufall zu verdanken. Am Anfang stand ihre Enkelin, die in Japan lebt. Für ein Schulprojekt hatte sie ihre Grossmutter über deren Jugend befragt. Annemarie Käslin beschloss daraufhin, ihre vielen Tagebücher «nicht nur abzustauben», sondern sie zu durchstöbern. Und sie begann, ihr Leben aufzuschreiben.

Entstanden ist ein oranges, knapp 300 Seiten umfassendes Buch mit dem Titel «Reise durch mein Leben», von dem sie mehrere Exemplare über das Kulturprojekt Edition Unik korrigieren, drucken und binden liess. Nach einer kleinen Vernissage mit ihren drei in der Schweiz lebenden Grosskindern überreichte sie es ihrer Familie, ihren zwei Töchtern und zwei Söhnen, der ältere der beiden lebt in Japan. Inzwischen sind sie selbst alle um die sechzig Jahre alt.

Annemarie Käslin leuchtet in diesem Buch in die dunklen Ecken ihrer Geschichte, zeichnet die Höhen, die ganze Fülle eines Lebens. «Eine befreiende Rückschau» sei es geworden, schreibt sie im Nachwort. Ein Kapitel daraus schickte eine Projektleiterin von Edition Unik unserer Redaktion in Absprache mit Annemarie Käslin zu, es widmete sich der annabelle-Wahl von 1968. Der Titel: Höhenflug.

 

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«Ich hatte mir das doch überhaupt nicht zugetraut. Ich, ein ausgeprägtes Landei mit vier Kindern»

Auf dem Balkontisch in Stans stehen eine selbst gebackene Linzertorte, deren Reste sie nach dem Interview für mich in Alufolie packt, und volle Kaffeetassen, auf denen sich rosafarbene Blumen ranken.

Es knistert, wenn Annemarie Käslin die Seiten des grüneingefassten Albums umblättert, in das sie alles über diese Wahl sorgfältig beschriftet abgelegt hat: dieses Schwarz-Weiss-Bild, auf dem sie den riesigen Blumenstrauss umklammert, das kurz nach der Siegerinnenehrung entstand; Zeitungsberichte, Fanpost, ein Kioskplakat des «Blick»: «Annemarie aus Beckenried ist die ideale Frau». «Jesses Maria», sagt sie wie zu sich selbst. «Ich hatte mir das doch überhaupt nicht zugetraut. Ich, ein ausgeprägtes Landei mit vier Kindern.»

Als ihre Schwester Emma ihr die Ausschreibung für den Wettbewerb «zur idealen Schweizer Frau» unter die Nase hielt und sie drängte, sich doch zu bewerben, befand sich die westliche Welt gerade im Umbruch. Es war Frühling 1968, Menschen weltweit gingen auf die Strasse, um gegen den Krieg, repressive Regimes, verstaubte Moralvorstellungen und Rollenbilder zu protestieren. An annabelle jedoch schienen diese gesellschaftlichen Umwälzungen damals noch vorbeizugehen.

Die ideale Schweizer Frau

Der Anforderungskatalog an die «ideale Schweizer Frau» in der Mai-Ausgabe 1968 liest sich eher wie aus den 1950er-Jahren: Die gesuchte Frau sollte «zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt sein, verheiratet, von Beruf Hausfrau, vielleicht auch noch berufstätig. Entweder bereits Mutter oder doch mütterlich veranlagt.

Sie kann kochen, nähen, Geld einteilen, die Wohnung wohnlich gestalten. Sie ist frisch, sauber, gepflegt, nicht unbedingt eine Schönheit, aber eine Freude für die Augen. Sie ist warmherzig, hilfsbereit, gastfreundlich, weiss sich zu helfen, hat vielseitige Interessen.» Die ausgewählten Frauen hätten sich dann an einer praktischen Prüfung zu beteiligen. Es seien Aufgaben, die «der Hausfrau vertraut sind».

Die Bewerbung war eine Spielerei

Ein Katalog, der offenbart, wie wenig Zeit doch vergangen ist, seit die Lebenswege der Frauen – augenscheinlich auch in der Auffassung der damaligen annabelle-Redaktion – insbesondere im Häuslichen und unter der Ägide ihres Ehemannes zu verlaufen hatten; nicht einmal ein ganzes Menschenleben. Ob sie es damals eigenartig oder unrecht fand, von einer Jury bestehend aus zwei Journalistinnen, einem Restaurantbetreiber, einem Modehausbesitzer sowie dem Chefredaktionsduo Hans Gmür und Eva Maria Borer zu ihren Hausfrauenqualitäten und ihrem Äusseren beurteilt zu werden?

«Nein, gar nicht. Ich habe mir darüber auch keine Gedanken gemacht. Heute mag das vielleicht so wirken, aber damals empfand ich das nicht so», sagt sie. Für sie war die Bewerbung sowieso vor allem ein Spass, eine Spielerei. Das ganze Auswahlprozedere sah sie als Ausflug in eine glamouröse Welt in Zürich, das sie nidwaldnerisch «Zirri» ausspricht, die ihr unheimlich weit entfernt erschien von Beckenried aus, mit ihren vier Kindern, die– während sie in der Restaurantküche Pommes frittierte und Schnitzel briet – um sie herum und durchs ganze Haus wuselten.

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«Es kommt unerwartet Besuch, aber der Kühlschrank ist fast leer. Machen Sie etwas daraus»

Tausend Frauen aus der ganzen Schweiz bewarben sich auf die Ausschreibung in annabelle, sechs davon schafften es nach Vorauswahlen in Luzern, Bern und Zürich an die Endausscheidung. Darüber schreibt Annemarie Käslin in ihrem orangen Buch: «Alle sechs Frauen bekamen dieselben praktischen Aufgaben zugeteilt. ‹Es kommt unerwartet Besuch, aber der Kühlschrank ist fast leer. Machen Sie etwas daraus.› Oha. Da lagen Schinken, Eier, Erbsen, Tomaten, Schnittlauch. Ich bastelte einen Zweigänger: Einlaufsuppe, dann Schinkenomelette und mit Erbsli gefüllte Tomaten. Als Einzige präsentierte ich eine warme Mahlzeit.

«Ich hatte doch keine Ahnung, wie das geht»

Als Nächstes stand Hemdenbügeln an. Wenns weiter nichts ist. Dann ein Interview mit Eva Maria Borer und Hans Gmür. Sie testeten Allgemeinwissen, auch in Kunst und Literatur, Staatskunde samt Sprachkenntnissen.» Danach wurden die sechs Frauen in ein Beautycenter gefahren, wo sie sich für den Abend zurechtmachen mussten. Annemarie Käslin erinnert sich: «Ich hatte doch keine Ahnung, wie das geht. Ich stand schliesslich den ganzen Tag in der Küche, war nie geschminkt. Ich sagte: ‹Bei Rot und Grün kenn ich mich besser aus im Strassenverkehr›.» Der Spruch habe nachher die Runde gemacht.

Den Moment, als bei der anschliessenden Siegerinnenehrung tatsächlich ihr Name fiel – nicht nur, weil sie die «höchste Punktzahl in den Wettbewerbsprüfungen erreicht hat, sondern auch wegen ihres frischen, natürlichen Wesens, ihrer Vitalität und Unkompliziertheit», wie es später in annabelle heisst –, beschreibt sie in ihrem Buch so: «Mir blieb das Herz wirklich fast stehen. Auf jeden Fall schaltete mein Herzschlag auf unregelmässig. Gleichzeitig schossen mir Tränen in die Augen, zu allem Überf luss wurde auch noch ein Statement erwartet. Wahrscheinlich keine Glanzleistung.»

«Ich war völlig platt ab diesem Echo in allen Zeitungen»

Sie lehnt sich nach vorne in ihrem Balkonstuhl: «Der erste Monat nach der Wahl, nein, Sie glauben es nicht! Ich war völlig platt ab diesem Echo in allen Zeitungen, im Restaurant und auf der Strasse. Mir hat das nicht gefallen. Das engte mich ein.» Das Rampenlicht mag Annemarie Käslin bis heute nicht besonders. Es war daher nicht ganz einfach, sie zu diesem Artikel zu bewegen.

Während der langen Korrespondenz vorab über Mail, Whatsapp, Telefon, die sich wegen meiner Ansteckung mit Corona und meiner Babypause über mehr als ein Jahr hinzog, schreibt sie einmal, sie könne sich nicht vorstellen, dass es Interesse an einem Artikel über sie geben könnte. «Mein Leben ist gänzlich unspektakulär verlaufen, wie Tausend andere auch.» Wir aber wollten sie unbedingt treffen. Weil ihre Geschichte eng mit jener von annabelle verwoben ist. Und weil sie für so viele Frauenleben in diesem Land steht.

«Als ich jünger war, habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht: Wenn ich tue, was die anderen wollen, geht es mir gut»

Im Gespräch sagt Annemarie Käslin irgendwann: «Wissen Sie, als ich jünger war, habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht: Wenn ich tue, was die anderen wollen, geht es mir gut.» Als Mädchen, das in den 1940er-Jahren in der beschaulichen Altstadt von Stans aufwuchs, lebte sie in einem Rahmen, den andere für sie abgesteckt hatten. Etwa die Grossmutter, die zu ihr sagte: «Du bisch nid, us dier wird nid.»

Die lehrende Nonne in der Primarschule, die ihr nach der bestandenen Sekundarschulprüfung sagte, dass sie nie gedacht hätte, dass sie durchkommen würde. Von der Mutter, die drohte, sie würde «in den See gehen», wenn die Tochter zaghaft versuchte, ihren eigenen Weg zu finden, ihre Träume zu erfüllen.

Sie hätte gern im Ausland gelebt

Etwa, als sie nach Amerika fahren wollte, um dort zu arbeiten. Träume hatte Annemarie Käslin. Sie lernte sehr gern, war wissbegierig, sprach nach dem Aufenthalt in einem Institut im Welschland fliessend Französisch, danach folgte die Handelsschule, später ein mehrmonatiger Aufenthalt in London.

Sie hätte später gern im Ausland gelebt, hätte gern studiert. Zum Beispiel Geschichte, Wirtschaftsethik, Psychologie und Philosophie, sagt sie heute. «Aber das Selbstvertrauen hatte ich nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich intelligent genug bin.» Sie arbeitete als Kellnerin in Zürich und half zuhause im Restaurant aus. Schliesslich heiratete sie. Und schon bald kam dann das erste Kind.

Ein zentraler Wendepunkt in ihrem Leben

Neben dem riesigen Blumenstrauss erhielt Annemarie Käslin als Gewinnerin des Wettbewerbs eine Flambiergarnitur, ein Beautycase in Schlangenlederoptik voller Schminkutensilien und einen Schmuckgutschein. Sie tauschte ihn später ein in Perlohrringe und einen Solitärring. Den Ring trägt sie seither jeden Tag. Sie streckt ihre Hand über den Balkontisch hinweg aus, da steckt er an ihrem Finger. Seit 55 Jahren. Zart und glänzend.

Er erinnert sie täglich an diesen Ausflug in die Glamourwelt, der später bei der «Donna Ideale», der europaweiten Suche nach der «idealen Frau» im italienischen Montecatini Terme weitergehen würde, wohin sie die Swissair exklusiv flog. Gewonnen hat dort am Ende eine Norwegerin, eine «ganz tolle Frau», wie Annemarie Käslin sich erinnert. Und der Ring steht auch dafür, dass die annabelle-Wahl zu einem zentralen Wendepunkt, einem Umbruch in Annemarie Käslins Leben wurde.

Als sie nach der Siegerinnenehrung im Juni 1968 spätnachts völlig übermüdet und glückstaumelnd nach Beckenried zurückkehrte, stand vor dem «Schwanen» eine grosse Tanne. Ein paar Burschen hatten den Baum im nahen Wald gefällt und hier aufgestellt, um der Siegerin zu gratulieren. «Wie bei der Aufrichte eines Hauses, so eine nette Idee», erzählt sie. Und aufgerichtet, so scheint es, wurde auch Annemarie Käslin selbst in dieser Nacht.

«Diese Wahl war ein Dammbruch. Erstmals hatte ich das Gefühl, dass ich doch jemand bin. Dass ich nicht nur ferngesteuert bin vom Willen anderer»

Heute sagt sie, und sie schreibt es auch im Schlusswort ihres Buches: «Diese Wahl war ein Dammbruch. Erstmals hatte ich das Gefühl, dass ich doch jemand bin. Dass meine Grossmutter unrecht hatte mit ihrer Prognose, du bisch nid, us dier wird nid. Dass ich nicht nur ferngesteuert bin vom Willen anderer.» Diese Wahl, die heute so reaktionär anmutet, war auch eine Ermächtigung für sie.

Eine befreiende Rückschau

Danach begann sich Annemarie Käslins Wille zu regen. Nach der Wahl gab sie annabelle zu Protokoll: «Mein Mann war ganz patriarchalisch eingestellt, das gab anfangs Schwierigkeiten, weil ich mich nicht aufgeben wollte. Schliesslich hat er mich geheiratet, weil ich so bin, wie ich bin.» Als sie Anfang der 1970er-Jahre denelterlichen «Schwanen» zur Miete übernahm, schwor sie sich, diesen nicht mehr als 15 Jahre lang zu führen – tatsächlich hörte sie 1984 auf und arbeitete fortan als hauswirtschaftliche Leiterin im Alters- und Pflegeheim in Stans.

In Grossbuchstaben schrieb sie damals in ihr Tagebuch: «Ja, es ist mein Traumjob.» Bereits in dieser Zeit entschied sie auch, dass sie sich bis 2000 von ihrem Mann scheidenlassen würde, sofern sich die Ehe nicht massgeblich verbesserte. Kurz vor Weihnachten 1999 kamen die Scheidungspapiere. Sie schreibt: «Wichtig war meine innere Freiheit. Mein Heraustreten aus einer missglückten Ehe.»

Der Mut, Entscheidungen zu treffen

Eine Lebensgeschichte erscheint im Rückblick immer folgerichtiger, als das Leben mit all seinen Windungen womöglich tatsächlich gewesen ist. Wenn man Annemarie Käslin zuhört und ihr Buch liest, dringt da aber immer wieder durch, dass ihre Biografie ein Resultat ist aus Entscheidungen, sehr bewusst gefällt im schmalen Spielraum eines Frauenlebens dieser Zeit.

Sie scheint Herrin geblieben zu sein über ihr Leben, trotz allem. Als ich sie danach frage, überlegt sie kurz und sagt dann: «So habe ich es noch nie betrachtet. Aber es stimmt schon. Was ich immer hatte, war der Mut, Entscheidungen zu treffen.»

«Mit ihm konnte ich endlich reisen»

Diesen hatte sie auch, als sie nach ihrer Scheidung wieder auf Partnersuche ging. Über das Älterwerden schreibt sie in ihrem Buch unverblümt: «Altwerden tut weh und jeder ist da ganz für sich allein.» Und dennoch, ein paar Zeilen später: «Die Leichtigkeit des Seins, ich setzte sie mir zum Ziel.»

Eines Nachts lag sie auf ihrer Terrasse und blickte in den Sternenhimmel. «Und ich dachte, es müsste doch noch jemanden geben fürs Alter.» Sie war damals 63 Jahre alt und eine der Ersten, die Anfang der 2000er-Jahre im Netz nach einer neuen Beziehung suchte. War das schwierig? «Überhaupt nicht.» Der zweite Mann, den sie über die Plattform «Partner Winner» traf, war Heinz. Und mit Heinz ist sie bis heute zusammen. Mit ihm holte sie vieles auf, was ihr früher verwehrt war. «Mit ihm konnte ich endlich reisen.» Afrika, Asien, Amerika. Zusammen waren sie schon auf zwanzig Kreuz- und Flussfahrten.

«Frauen meiner Generation ist das Dienen in die Wiege gelegt, wir kennen nichts anderes»

Nicht alles lief rund in den 22 Jahren, in denen sie zusammen sind. Sie schreibt in ihrem Buch: «Frauen meiner Generation ist das Dienen in die Wiege gelegt, wir kennen nichts anderes. Ich im Besonderen.» Sie kämpfte in dieser neuen Beziehung dagegen an, versuchte, Schritt für Schritt diese Prägung abzulegen. «Ich sehe es so, wir alle haben ein Rucksäckchen, da kommen Steine rein. Wenn man diese kennt und weiss, woher sie kommen, dann kann man mit ihrer Schwere besser umgehen. Selbst wenn man deswegen schlaflose Nächte hat.» Und sie fügt an: Ich habe mich in meinem Leben immer hinterfragt. Und meistens bekam ich eine Antwort.» Sie lacht.

Ein einziges grosses Hinterfragen

Auch dieses orange Buch ist ein einziges grosses Hinterfragen, eine umfangreiche Suche nach Antworten. Im Schlusswort schreibt sie: «Dieses Dauerschreiben, Nachdenken, Einordnen und Sortieren rückte meine Emotionen und Erwartungen endlich in ein klares Licht.»

Heute verbringen Heinz und sie ihre Zeit meist gemeinsam, aber auch mal getrennt. In einem Appartement in Brissago im Tessin oder in der Wohnung in Stans mit der Pendeluhr und der Wandstickerei. Annemarie Käslin besucht Ausstellungen und Vorträge, geht ins Theater, unterhält sich mit ihren vier Kindern, mit ihren erwachsenen Enkeln und Enkelinnen, trifft Freundinnen. Die Leichtigkeit des Seins, mit 85 Jahren scheint Annemarie Käslin sie gefunden zu haben.

Das ideale Leben

Eine Wahl zur «idealen Schweizer Frau» ist heute nicht mehr vorstellbar. Frauen öffentlich als Gesamtkunstwerk zu beurteilen, nicht mehr zeitgemäss. Annemarie Käslin sagt: «Ich amüsierte mich schon immer etwas über diesen Begriff ‹ideal›.» Vielleicht muss man die Frage heute anders stellen. Vielleicht sollte es nicht mehr darum gehen, wie die ideale Schweizer Frau ist, sondern wie das ideale Leben für eine Schweizer Frau ist.

Diese Frage stelle ich ihr nach unserem Gespräch, in einer Whatsapp-Nachricht. Sie schreibt zurück: «Ich stelle fest, dass ich es, auch dank meiner stabilen Gesundheit, geschafft habe, meine Wünsche und Ziele in eine für mich ideale Balance zu bringen. Das macht mich heute glücklich, zufrieden und sehr dankbar.»

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Hanna Bider

Eine wahre wunderbare Lebensgeschichte und heute von dieser Generation nicht nachvollziehbar. Frau Käslin chapeau!

Leslie Schnyder

Gratuliere zu diesem schönen Porträt, das ich mit viel Freude gelesen habe!

Su Ann

Herzlichen Dank für dieses wunderbare Lebensporträt.

Conway

Tolle Frau. Schade nur, dass sie als vierfache Mutter erst etwas Anderes brauchte um das Gefühl zu bekommen, dass sie “jemand” ist.

Bianca

Richtig schön, tolle Frau, alles Liebe weiterhin und danke der Autorin für den wunderbaren Artikel!

Charlotte

Was für ein schöner Artikel!