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Die angesagte Sucht

Die angesagte Sucht

  • Text: Stephanie Hess; Foto: Netflix

annabelle-Redaktorin Stephanie Hess über eine der letzten Substanzen, die wir masslos konsumieren dürfen – und die für unsere Sinne dennoch nicht ungefährlich ist: Netflix.

Wir haben einen neuen Mitbewohner, er heisst Netflix. Seine Vorgänger waren VHS-Kassetten, es folgten bunt bedruckte DVD-Boxen, bis schliesslich er kam, Netflix, mit seinen Hunderten aufwendig produzierten Serien im Gepäck. Wir haben Tage, Abende, Nächte mit ihm verbracht, stundenlang summte der warme Laptop auf den Oberschenkeln. Was völlig in Ordnung ist: Wenn man heute sagt, dass man sich bis spät in die Nacht Serien reinzieht, klingt das nicht mehr nach sozialer Isoliertheit. Sondern zeugt von kulturellem Sachverstand. Denn es sind die intellektuellen «Fargo»-Folgen, die sich an den gleichnamigen Film der Coen-Brüder anlehnen. Oder die bildgewaltige Serie «The Get Down» über die coolen Jungs, die den Hip-Hop erfunden haben.

TV-Serien haben sich in unsere Welt geschlichen, in unseren Alltag und strukturieren ihn, «noch diese Folge, dann koche ich». Die Satisfaktion, die wir in den nicht enden wollenden Geschichten suchen, erhalten wir immer nur in kleinen Happen. Das Ende und die endgültige Befriedigung blinken nur schwach in der Zukunft. Irgendwo in Staffel 10. Nach 293 Folgen. Vielleicht bietet uns Netflix eine der letzten Substanzen, die wir masslos konsumieren dürfen, nachdem wir all die bewährten Freudenbringer wie Kohlehydrate, Masslos-Shopping, Alkohol, Steaks und Flugreisen in gesunde, ethisch vertretbare Portiönchen einteilen mussten.

Geschichten können süchtig machen, das ist nicht neu. Spannungsrausch gab es immer auch in der Literatur. Nur stürmen Bücher nicht so brutal über all unsere Sinne hinweg. Lesen ist ein aktiver, schöpferischer und irgendwie befriedigender Prozess, bei dem wir Welten im Kopf selber weben. Wir lassen Orte entstehen, fügen Gesichter, Farben, Formen ein.

Bei TV-Serien hingegen liefern wir uns einer lähmenden Macht aus. Durch ihre sauber konstruierten, sich von Cliffhanger zu Cliffhanger schwingenden Handlungen ziehen sie uns aus unseren Alltagszweifeln, aus der bedrohlichen Umwelt.

Es ist genau das, was wir wollen, wir suchen ja bloss Entspannung. Und dann tauchen wir ein in diese erbarmungslosen («House of Cards»), übersexualisierten («Games of Thrones»), menschenverachtenden («Narcos»), todessehnsüchtigen («13 Reasons Why») und morbiden («Fargo») Bildschirmrealitäten. Oft stundenlang, mehrmals pro Woche.

Aber wo bleiben bei so intensiver Beschäftigung mit fiktionalen Welten unsere eigenen, die kleine, intime und die grosse, draussen vor der Tür? Bei mir jedenfalls klappt die echte Welt erst wieder auf, wenn ich den Laptop auf den Oberschenkeln zuklappe. Lähmende Leere breitet sich dann aus und diese Scham darüber, dass ich einmal mehr nicht entsagen konnte.

Ich liege da, aufgekratzt von so viel Brutalität und Spannung, die Bilder aus meinem Leben und diejenigen der Bildschirmrealität drehen sich in meinem Kopf, vermengen sich. Längst ist es Nacht geworden. Und gekocht habe ich auch nicht.