Altenpflege: Eine Woche als Praktikantin im Pflegeheim
- Text: Barabara Achermann; Fotos: Anne Gabriel-Jürgens
In der Schweiz gibt es immer mehr Betagte und viel zu wenig Menschen, die sich um sie kümmern. Warum eigentlich?, hat sich annabelle-Redaktorin Barbara Achermann gefragt – und eine Woche als Pflege-Praktikantin gearbeitet.
Frau Bitterli * erwacht um halb zehn, strahlt und sagt: «Heute gibt es Blutwurst.» Im Zimmer nebenan ist Frau Marti schon wieder eingeschlafen. Ich versuche sie zu wecken: reibe ihre Hände, ihre Schultern, rufe ihren Namen. Sie schnarcht. Der Arzt sagt, sie sollte essen. Also halte ich ihr einen Becher mit Vanilleshake an die Lippen, 400 Kilokalorien. Sie trinkt ihn mit geschlossenen Augen leer. Die Storen sind geöffnet, doch das Winterlicht traut sich kaum ins Zimmer hinein. Nur zögerlich fällt es auf das kantige Gesicht.
Frau Marti ist 82, hat Alzheimer und wird immer leichter. Fast hätte ich ihre Tabletten vergessen, fünf pastellfarbene Kügelchen, die wie Kuchendeko aussehen. Ich kippe sie auf das mit Eiweiss angereicherte Pfirsichjoghurt. «Mögen Sie noch?» Sie gibt keine Antwort. Ich löffle weiter Kalorie um Kalorie und frage mich, ob das richtig ist. Ich will sie nicht zum Essen zwingen. Mir ist flau. Ich rieche das künstliche Pfirsicharoma, ihren Atem und ihren Urin. Jetzt noch der Himbeersirup. Doch Frau Marti schläft schon wieder. Ich wische ihr den Mund ab und decke sie zu.
Erster Arbeitstag
Es ist Montag, mein erster Arbeitstag. Nachdem ich am Morgen um fünf Uhr dreissig aufgestanden bin, schneide ich meine Fingernägel kurz, binde meine Haare zusammen, lege Ohrringe und Halskette ab. So steht es auf dem «Merkblatt zum äusseren Erscheinungsbild», das ich von der Personalchefin bekommen habe. Vorgeschrieben ist auch: keine Uhr, keine Halstücher, keine sichtbaren Tätowierungen oder Piercings, keinen Nagellack, keine auffälligen Frisuren.
Eine Woche lang werde ich im Pflegeheim Am Süssbach im aargauischen Brugg ein Praktikum machen. Ich habe keine Erfahrung in der Alterspflege, aber ich weiss: In der Schweiz gibt es immer mehr Betagte und viel zu wenig Menschen, die sich um sie kümmern. Warum eigentlich? Was macht diesen Beruf so anspruchsvoll? Dieser Frage möchte ich nachgehen.
Eine Flasche Desinfektionsmittel
Vom Bahnhof bis zum Süssbach sind es zu Fuss zehn Minuten. Als ich in die Fröhlichstrasse einbiege, dämmert es, aber die meisten Zimmer im grossen Backsteingebäude liegen noch im Dunkeln. Dana empfängt mich freundlich, obwohl sie eigentlich keine Zeit für mich hat. Sie ist die Stationsleiterin, muss stets drei Dinge auf einmal tun, hat immer warm und immer rote Wangen. Sie führt mich in die Wäscherei und drückt mir einen Kasack in die Hände, eine kurzärmlige Bluse mit vier Taschen, dazu eine hellgelbe Hose und eine Flasche Desinfektionsmittel. Das Erste, was ich von ihr lerne: nach jedem Zimmer die Hände einreiben.
Es ist jetzt kurz nach elf. Im Stübli sind einige Bewohner noch immer beim Frühstück. Ich streiche Brote mit oder ohne Rinde, tauche Möckli in Milchkaffee, Gipfeli kosten extra. Frau Zobrist hat Besuch. Sie ist mit 69 die jüngste Bewohnerin und leidet an einem Hirntumor im Endstadium. Ihr Mann streichelt ihr zärtlich übers Gesicht. Die Geste ist so intim, dass ich wegschauen muss.
143 000 Menschen
Das Süssbach ist ein typisches Pflegeheim, mittelgross, im Mittelland, 111 Betten, Baujahr 1978. Reine Altersheime gibt es in der Schweiz fast keine mehr, weil die Spitex immer mehr ältere Menschen zuhause betreut. Erst wenn es daheim nicht mehr geht, kommen sie ins Heim. Gleichwohl werden es immer mehr: Jeder vierte Einwohner über achtzig wohnt in einem Pflegeheim, das sind 143 000 Menschen. Die meisten sind Frauen, auch auf meiner Station. Zuhause pflegten sie den älteren Ehemann, bis er starb. Als sie selber Hilfe brauchten, kamen sie ins Süssbach. Hier leben sie nun mit einer Fremden im Doppelzimmer.
Die wenigen Einzelzimmer haben lange Wartelisten und sind teuer. Frau Bolliger hat den Tod von drei Bettnachbarinnen miterlebt. Frau Fritz teilt das Zimmer mit Frau Buser, die manchmal tagelang schreit. Frau Honegger ist derart verwirrt, dass sie sich mitunter zu Frau Graf ins Bett legt. Kaum haben wir das Frühstück abgeräumt, tischen wir das Mittagessen auf. Wer nicht kauen kann, hat drei Pürees auf dem Teller: gelb (Beilage), grün (Gemüse), beige (Fleisch).
Bisch en freche Siech
Dana hat mich angewiesen, das Essen mit der braunen Sauce aus der Thermosflasche zu übergiessen, damit es besser die Speiseröhre runterrutscht. Frau Vögeli lacht, sie scheint die Schlammschlacht auf ihrem Teller zu geniessen. Während ich sie füttere, streiten sich an unserem Tisch Frau Giger und Frau Stirnimann. Du cheibe Trucke du. Ghöreder die. Die schnoret eifach immer. Bisch en freche Siech, e Tschättere. Ich cha au öppis säge: Bisch en Tubel. Das Gezanke hat etwas Heiteres. Ich bin froh um die beiden. Sie sind die Einzigen, die reden. Die übrigen Bewohner essen schweigend, wenn auch nicht lautlos.
Jetzt tritt Frau Giger Frau Stirnimann ans Schienbein, aber ihre Kraft reicht nur, um sie sanft anzustupfen. Ich mische mich nicht ein, ihr Streit scheint mir neckisch, nicht bösartig. Nach dem Essen assistiere ich Kai, 19 Jahre alt und im dritten Lehrjahr. Die Pflegenden auf meiner Abteilung tragen fünf verschiedene Berufsbezeichnungen. Es gibt Pflegeassistentinnen, Pflegehelferinnen, Pflegefachfrauen, Fachangestellte Gesundheit, Assistentinnen Gesundheit und Soziales, und die entsprechenden Titel in männlicher Form.
Kai geht mit den alten Menschen so selbstverständlich um, als wären es seine Kollegen. Er fasst sie sanft an, zieht sie geschickt aus und verbindet sorgfältig ihre Wunden. Frau Vögeli hat eine handflächengrosse entzündete Druckstelle am Gesäss, Frau Benedetti eine Operationsnarbe, die vom Knie bis zum Hüftknochen geht, und bei Frau Hasler sieht man durch die offene Wunde am Arm eine Schraube.
Patientenlifter
Frau Bitterli ist beleidigt, weil ihre Zimmergenossin zuerst aufs WC durfte, und sie fürchtet sich vor dem Patientenlifter. Der sieht aus wie ein Minikran und ist im Süssbach ständig in Gebrauch. Wer sich wie Frau Bitterli nicht mehr auf den Beinen halten kann, wird damit auf die Toilette gehievt. Eigentlich ist sie eine herzliche Frau, strickt für alle Angestellten Topflappen und redet mit einer hohen Singsangstimme. Trotzdem nehme ich mich in Acht, als ich mich vor sie knie, um den breiten Haltegurt um ihren Bauch zu schnallen. Kai sagt, sie habe schon Pflegerinnen an den Haaren gerissen und auf den Kopf gehauen.
Als wir sie per Fernbedienung aus dem Rollstuhl heben, läuft sie rot an und schreit: «Ihr tötet mich!» Kai redet ihr gut zu, fährt sie zum WC und lässt sie hinunter. Als ich ihr Gesäss abwischen soll, merkt Kai, wie ich zögere. Er rät mir zwei Plastikhandschuhe übereinander anzuziehen, manchen helfe das gegen den Ekel. Später machen wir für Frau Bitterli einen sogenannten Kotstrich. Die Darmentleerung der Bewohner wird täglich in einer Tabelle protokolliert. Viele haben Verdauungsprobleme.
Nicht Windel, sondern Einlage
Im Verlauf des ersten Tages lerne ich: Wir sagen nicht füttern, sondern Essen eingeben, nicht Latz, sondern Serviette, nicht Windel, sondern Einlage. Die Menschen, um die wir uns kümmern, nennen wir Bewohnerinnen und Bewohner. Manche Demente dürfen wir mit Vornamen anreden, weil sie dann eher reagieren.
Frau Honegger heisst Hedi. Sie wandert stundenlang den Gang rauf und runter. Ihr Sohn kommt sie jeden Tag besuchen. Chasch echli höckle, Mueti. Muesch niene meh ane. Ned? Nei. Hedi war ein Verdingkind, «Dienstmagd für eine Bissgurre», sagt der Sohn. Das ganze Leben lang hat sie hart gearbeitet. Als sie langsam müde wurde, gab sie ihm das Postbüechli, damit er fortan die Zahlungen machen könne, und sagte: «Ich will ins Heim.» Trotzdem hat sie am ersten Tag im Süssbach geweint.
5600 Franken im Monat
Vor dem Lift treffe ich Herrn Hug. In seinem Wollpullover haben sich Graupelkörner verfangen. Er lacht, war mit dem Rollstuhl im Städtchen, hat einen Stumpen geraucht und achtgegeben, dass ihm keiner das Portemonnaie aus der Bauchtasche stiehlt. Er müsse das Geld horten. Obwohl er wenig Hilfe benötigt und im Doppelzimmer wohnt, kostet ihn sein Heimplatz 5600 Franken im Monat: Essen und Unterkunft plus Selbstbehalt der Betreuungs- und Pflegekosten. Das Süssbach liegt mit seinen Preisen im Schweizer Durchschnitt.
Herr Hug nimmt die weisse Olma-Kappe ab und rezitiert Gedichte, die er schon als Fünftklässler in der «Krone» in Wangen an der Aare vorgetragen hat. «Jeden Abend sollst du deinen Tag prüfen.» Er hält es wie Hermann Hesse: Bevor man zur Ruhe geht, sollte man Unrecht eingestehen und sich seiner Liebsten besinnen. Aus der Brusttasche zieht er ein Foto seiner drei Enkeltöchter, die in Hongkong leben.
Um 16.24 Uhr endet meine Schicht. Draussen atme ich die neblige Winterluft ein und bin froh, dass ich die überheizten Räume verlassen darf: die gelb marmorierten Linoleumböden und anonymen Möbel, die zwar praktisch sind, aber an Spital erinnern. Viele Zimmer sehen aus, als ob ihre Bewohner nicht lange bleiben wollen: An der Wand hängt eine Postkarte oder auf dem Computer ausgedruckte Fotos von Katzen, auf dem Sims steht ein Kaktus oder ein Orchideengestänge ohne Blüten.
Es motiviert mich, wenn ich Menschen glücklich machen kann
Trotzdem freue ich mich auf den nächsten Tag. Das hat vermutlich mit Sema zu tun. Ich habe die 16-jährige Praktikantin gefragt, weshalb sie diesen Beruf lernen will. Sie antwortete mit einem Satz, den sie wohl bereits fürs Bewerbungsgespräch auswendig gelernt hatte, den ich ihr aber aufs Wort glaube: «Es motiviert mich, wenn ich Menschen glücklich machen kann.»
Der Dienstag geht schnell vorbei. Wenn jemand läutet, leuchtet die rote Lampe über der Tür. Irgendwo leuchtet sie immer. Ich renne den Pflegenden hinterher und übernehme mehr und mehr Arbeiten selbstständig: für das Ehepaar Tschumi die Betten frisch beziehen, Frau Zumbrunnen den Mund mit Kamillentee spülen, Abfallsäcke leeren, Hedi waschen. Vor diesem Praktikum habe ich noch nie einen alten Menschen nackt gesehen. Die erste Intimwäsche kostet mich Überwindung, ich traue mich nicht recht hinzuschauen und fürchte, dass ich mich ungeschickt anstelle. Doch bald fühle ich mich sicher, fast schon routiniert.
Fehler passieren
Manchmal mache ich bei der Arbeit Fehler: Frau Vögeli sitzt regungslos vor dem Teller, bis ich merke, dass ich vergessen habe, ihr Gebiss einzusetzen. Herrn Vonmoos schütte ich Wasser übers Hemd, weil ich den Spezialbecher verkehrt herum halte. Herr Hediger beschwert sich, dass ich seinen Verband zu langsam abwickle. Am Mittwoch habe ich mich bereits ein wenig an die Gerüche gewöhnt, an die Stille beim Mittagessen, das Pfeifen der Hörgeräte, an Frau Heinimann, die den ganzen Tag flucht, und Frau Stirnimann, die stundenlang stöhnt. Und ich habe nette Bekanntschaften geschlossen.
Nachdem mich Herr Hediger mit «Sie sind aber ein Ungeschicktes» zurechtgewiesen hat, bietet er mir Schnaps an, Pflümli, selbst gebrannt. Ich muss husten. Noch einmal, als er mir erzählt, dass er damit täglich seine Zehen übergiesst. Die waren ständig entzündet und begannen zu faulen, da half weder Bepanthen noch Betadine. Also griff der ehemalige Bauer zum Hochprozentigen, und die Wunden heilten. Die Lunge hat er sich beim Heuwenden kaputt gemacht, die Zähne beim Klarinettenspielen. Nur die Leber ist noch gut. Er blinzelt mit seinen kleinen Augen und sagt: «Also ich habe nie während der Arbeit getrunken.»
Gekratzt und geschlagen
Am Donnerstagmorgen richtet Dana die Medikamente. Jeder kriegt etwas, manche bis zu zwölf am Tag: Temesta gegen Unruhe, Dipiperon oder Haldol fürs Gemüt, Zolpidem für den Schlaf, Laxan oder Colosan für die Verdauung, Levemir oder Victoza für den Blutzucker, Symbicort für die Atmung, Novalgin oder Dafalgan gegen Schmerzen. Kurz nach neun Uhr ist Rapport. Eine Pflegerin erzählt, Frau Peyer habe sie beim Waschen gekratzt und nach ihr geschlagen. «Ich musste sie ganz fest halten. Hoffentlich kriegt sie kein Hämatom am Arm.»
Dana entscheidet, dass Frau Peyer die Morphintropfen künftig schon vor dem Frühstück bekommt. Als Stationsleiterin trägt sie viel Verantwortung. Sie ist vor fünf Jahren von Berlin in den Aargau gekommen und ist bei weitem nicht die einzige Ausländerin in einem Schweizer Pflegeheim: Vierzig Prozent aller diplomierten Angestellten haben ihre Ausbildung im Ausland gemacht. Die Schweiz bildet viel zu wenig Pflegefachkräfte aus. Hierzulande haben nahezu alle Heime Mühe, Personal zu rekrutieren, auch das Süssbach. Das Problem wird sich weiter zuspitzen, denn in den nächsten zwanzig Jahren wird sich die Zahl der über 80-Jährigen im Kanton Aargau mehr als verdoppeln.
101 Jahre alt
Ein wichtiger Teil der Arbeit im Süssbach wird von freiwilligen Helfern geleistet. Die dreissig Frauen machen es möglich, dass fast jeden Tag ein kleines Unterhaltungsprogramm stattfindet. Frau Steiner nimmt mich mit zum Turnen. Am liebsten mag sie das Spiel mit dem Ballon, den sie sich im Kreis zuspielen. «Ui ui, wo ane wetter?», ruft Frau Senn, 101 Jahre alt, und kickt ihn mit dem Fuss hoch in die Luft. Frau Meyer lädt mich zum Singen ein: «Im Aargau sind zwöi Liebi, es Meiteli und es Büebli, die händ enander so gern.» Sie möchte noch einmal nach Norwegen reisen, schaffe es aber höchstens an den Hallwilersee.
Frau Zumbrunnen war noch nie im Ausland, Frau Baumann ist einst barfuss auf die Klewenalp gewandert. Es gibt herzliche Bewohnerinnen wie Frau Graf, die sich über jeden Wortwechsel freut, gern Händchen hält und sich anlehnt, sobald man sich neben sie setzt. Ich reibe ihre Arme und Beine mit Bodylotion ein. Sie ruft: «Mei, riecht das gut!»
Schnaps wie immer. Prost.
Schwieriger ist der Umgang mit Menschen wie Frau Lüscher, die das Leben im Heim schwermütig macht. Ich helfe ihr im Badezimmer. Darf ich Ihnen den Rücken waschen? He jo. Gehts? Es mues. Ich wasche noch unter den Brüsten, ist gut? Dänk scho. Ich überlege krampfhaft, wie ich unser Gespräch in eine freudigere Richtung lenken könnte, da schiebt Carmen ein mit Medikamenten vollgepacktes Wägelchen ins Zimmer, ruft «Minibar», reicht Frau Lüscher ein Becherchen und sagt: «Schnaps wie immer. Prost.» Frau Lüscher lächelt.
Ich bewundere die Pflegerinnen und Pfleger des Süssbach. Mary, die beim Waschen stets eine Hand auf dem Körper lässt, damit sie die Verbindung zum Menschen nicht verliere. Robin, der bereits mit 14 wusste, dass er diesen Beruf unbedingt lernen will. Sema, die vor Freude weint, wenn man sie lobt. Farah, die den alten Damen Locken wickelt, Zöpfe flicht und Bürzi mit Perlen verziert. Dana, die darauf achtet, dass die Brotmöckli am Morgen schön appetitlich aussehen. Melissa, die gern eine halbe Stunde vor Schichtbeginn kommt, damit sie sich genug Zeit für alle nehmen kann. Fürsorge ist eine Begabung. Man muss gern helfen, um diesen Beruf zu mögen.
Die Stimmung unter den alten 2013 Menschen ist oft melancholisch, viele haben Schmerzen, sind traurig, müde, einsam. Als Pflegerin versucht man ständig, gute Laune zu verbreiten, will die Leute motivieren, sie sollen sich bewegen, essen, reden, stricken, jassen. Aktivierung heisst das im Fachjargon. Doch dafür braucht es Zeit, und davon haben die Pflegenden wenig. Am Freitag habe ich frei. Zuhause füttere ich meinen elf Monate alten Sohn und wechsle seine Windeln. Obwohl es ähnliche Handgriffe sind, fühlt es sich ganz anders an: vertrauter, vergnügter.
Gerüche
Am Samstag sitze ich wieder im Süssbach in der Kantine vor einem Teller Pommes frites und Fischknusperli, als mir fünf Pflegerinnen erzählen, der Geruch nach Urin oder Kot sei für sie ein Geruch wie jeder andere geworden. Davor ekeln sie sich längst nicht mehr. Einzig nach langen Ferien müsse man sich wieder ein bisschen daran gewöhnen.
Trotzdem haben alle ihre eigenen Hemmungen. Melissa kann kein Erbrochenes sehen. Annemarie kann es nicht riechen. Sie zieht jeweils einen Mundschutz an und legt einen Pfefferminzteebeutel vorne rein. Carmen macht es nichts aus, einen bis zum Hals mit Kot verschmierten Bewohner zu waschen, aber sie ekelt sich, wenn sie Frau Bitterli helfen muss, die Blutwurst aus der Haut zu pressen. Vor dem Fenster fällt Schneeregen. Die alte Kastanie, die für den Erweiterungsbau gefällt werden soll, hat längst alle Blätter verloren.
Der Tod gehört dazu
«Wenn die Tage kürzer werden, fängt das Sterben an», sagt Carmen. Im Gang hängt die Todesanzeige von Herrn Kobler aus dem zweiten Stock. Es werden weitere folgen. Carmen sagt: «Der Tod gehört dazu. Traurig macht er trotzdem.» Frau Rebsamen war ihr wie eine Freundin. Es war abgemacht, Carmen würde sie beim Sterben begleiten. Doch der Tod kam rasch und unerwartet. «Eines Nachts träumte ich, dass sie bei mir am Bettrand sitzt. Als ich aufwachte, wusste ich, sie ist allein gegangen.» Carmen war wochenlang traurig und fürchtete sich vor ihren eigenen Träumen.
Samstagabend. Ich serviere Püriertes, streiche Brot mit und ohne Rinde. Frau Giger schaut mich schelmisch an und sagt: «Also ich erwarte en Kafi. Es mues nöd schnell go. Ich säge nume, ich würdi eine erwarte.» Sie wird mir fehlen. Ich hoffe, dass ich nie ins Pflegeheim muss. Aber ich könnte mich damit abfinden, wenn ich im Alter so würde wie sie: in Gedanken weit weg, manchmal auf eine schwermütige Art verloren, aber unverhofft wieder ganz hier, streitlustig, witzig und weise.
Nach dem Essen setzen wir uns auf die Bank vor dem Stübli und schauen zu, wie sie in Einerreihe ihren Rollator den Gang hinunterschieben. Sie sagt: «Wänn de Vati lached, lached alli mit.» Zwei Minuten später: «Me het überhaupt ekei Ahaltspunkt meh.» Dann greift sie nach meiner Hand und kichert. «Was furt isch, isch furt. Und was chunt, weiss me nöd.»
* Die Namen aller Heimbewohnerinnen und -bewohner sind geändert.
Pflegepersonal dringend gesucht
Immer mehr ältere Menschen. Der Anteil der über 65-Jährigen steigt rapide an. Heute sind von 100 Menschen 17 über 65, in dreissig Jahren werden es 27 sein.
Die Schweiz bildet zu wenig Pflegende aus. Bis im Jahr 2020 ist der voraussichtliche Bedarf an Pflegepersonal beinahe doppelt so hoch wie die tatsächliche Anzahl der Ausbildungsabschlüsse.
Personalmangel und grosser Arbeitsaufwand. 92 Prozent der Heime haben Schwierigkeiten, Pflegefachpersonal zu rekrutieren. 12 Prozent des Pflegepersonals erwägen, ihre Arbeit aufzugeben und in einen anderen Beruf zu wechseln, und jede dritte Mitarbeitende wird in den nächsten 15 Jahren pensioniert. Laut einer aktuellen Umfrage leiden Pflegende unter dem Personalmangel und hohem Arbeitsaufwand. Ein Drittel der Befragten gab an, dass sie Bewohner, die geläutet hatten, mehr als fünf Minuten warten lassen mussten, und 19 Prozent, dass sie in der vergangenen Woche freiheitsbeschränkende Massnahmen angewendet oder beruhigende Medikamente verabreicht hatten, da sie Bewohner nicht genügend beaufsichtigen konnten. Auch um die Gesundheit des Pflegepersonals steht es nicht besonders gut: Zwei Drittel leiden unter Rückenschmerzen sowie allgemeiner Schwäche und Müdigkeit.
Quellen: BFS, GDK-Bericht 2009, SHURP 2013
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Wer nicht kauen kann, hat drei Pürees auf dem Teller: gelb (Beilage), grün (Gemüse), beige (Fleisch)
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annabelle-Redaktorin Barbara Achermann hatte vor dieser Reportage keine Erfahrung in Altenpflege
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Pfleger Robin wusste bereits mit 14, dass er diesen Beruf lernen will
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Altersheime erinnern uns an das, was wir gern verdrängen: Einsamkeit, Leid, Tod
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Stehts drei Dinge auf einmal: Stationsleiterin Dana
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«Es motiviert mich, wenn ich Menschen glücklich machen kann»: Praktikantin Sema
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