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Agota Lavoyer: «Die Glaubwürdigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt wird immer noch angezweifelt»

Zeitgeist

Agota Lavoyer: «Die Glaubwürdigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt wird immer noch angezweifelt»

Agota Lavoyer ist Leiterin der Opferhilfestelle des Kantons Solothurn. Im Interview erklärt sie, warum Reformen für die Opfer von Sexualdelikten notwendig sind, welche Macht die sozialen Medien haben und was sie von Jurist:innen fordert.

Vor einigen Wochen sorgte die Urteilsbegründung des Appellationsgerichts in Basel schweizweit für Schlagzeilen. Am 1. Februar 2020 vergewaltigten in der Elsässerstrasse in Basel zwei Männer eine Frau. Einer der beiden Männer wurde daraufhin zu viereinviertel Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil reduzierte das Appellationsgericht Basel Ende Juli auf drei Jahre. Das Opfer hat nämlich vor der Tat einen anderen Mann geküsst und somit laut Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) «mit dem Feuer gespielt». Die Stellungnahme entfachte heftige Diskussionen zum Thema sexualisierte Gewalt in der Schweiz und das geltende Sexualstrafrecht. Agota Lavoyer ist Leiterin der Opferhilfestelle des Kantons Solothurn und arbeitet mit Opfern sexualisierter Gewalt. Als Netzaktivistin hat sie den Diskurs genau beobachtet. Zum Urteil von Basel möchte sie sich nicht mehr äussern.

Agota Lavoyer, in den letzten Wochen wurde das Thema sexualisierte Gewalt in den Medien intensiv diskutiert und kommentiert. Wie haben Sie diesen Diskurs wahrgenommen?
Ich engagiere mich seit gut zwei Jahren als Netzaktivistin und betreibe Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit über sexualisierte Gewalt. Was mir auffällt: Es tut sich wahnsinnig viel. Aufschreie in den sozialen Medien bahnen sich den Weg auf die Strassen und in die Politik, so auch in den letzten Wochen. Das ist bemerkenswert und sehr wichtig. Mich hat auch sehr berührt zu sehen, was dieser Diskurs für von sexualisierter Gewalt Betroffene bedeutet hat. Ich würde mir allerdings wünschen, dass bei solchen Diskursen mehr Jurist:innen öffentlich zu Wort kommen.

Warum?
Wir brauchen Jurist:innen, die den Mut haben, die aktuelle Gesetzeslage oder auch ein Urteil zu kritisieren. Denn das würde auch der Kritik vonseiten der Zivilgesellschaft mehr Gewicht geben. Von grosser Wichtigkeit ist zum Beispiel, dass die erste Staatsanwältin vom Kanton Baselland vor Kurzem in der «NZZ» gesagt hat, dass in der heutigen Rechtsprechung immer wieder Vergewaltigungsmythen zementiert werden. Denn solange sich nicht auch Jurist:innen aus der Praxis kritisch äussern, entsteht das verzerrte Bild, dass die Kritiker:innen aus der Zivilgesellschaft zu wenig von der Rechtsprechung verstehen würden und ihre Kritik deshalb weniger berechtigt ist.

Expert:innen – wie zum Beispiel die Rechtsprofessorin Marianne Heer, die sich in der Tagesschau in Bezug auf das Basler Urteil äusserte – kritisieren sehr oft, dass Laien solche Rechtsprechungen nicht verstehen. Wie sehen Sie das?
Mir ist es ein sehr grosses Anliegen, dass meine Aufklärungsarbeit in Bezug auf das Sexualstrafrecht der breiten Bevölkerung verständlich ist. Und diese Erwartung habe ich in diesem Diskurs auch an Jurist:innen: Dass sie ihre Meinung so vermitteln, dass sie auch Laien verstehen und Kritiker:innen nicht mit dem Argument abwerten, dass sie die Juristerei nicht verstehen. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass Kritik auch dann angebracht ist, wenn zwar eine Aussage oder ein Urteil juristisch «korrekt», aber trotzdem verwerflich ist, da es zum Beispiel opferabwertend ist. Die Rechtsprechung muss mit der Zeit gehen und den gewandelten sozialen Anschauungen Rechnung tragen.

Der Zeitpunkt für Reformen ist also definitiv gekommen?
Auf alle Fälle, ja. Denn obwohl die Rechtsprechung in der Lage ist, ein unterdessen veraltetes Gesetz, in diesem Fall das Sexualstrafrecht, gemäss heutigem sozialem Kontext zu interpretieren, gibt es sehr viele Fälle, in denen eine beschuldigte Person nicht verurteilt werden kann, obwohl man nachweisen kann, dass gegen den Willen des Opfers sexuelle Handlungen an ihm vollzogen wurden. Ich glaube, schlussendlich geht es darum, welches soziale Verhalten man in einer Gesellschaft erwartet. Was vor 30 Jahren, als das Sexualstrafrecht in Kraft trat, noch einigermassen entschuldbares Verhalten war, ist es heute nicht mehr, und das sollte sich auch im Gesetz widerspiegeln. Wenn ich heute mit Schüler:innen und jungen Erwachsenen spreche, haben viele dasselbe falsche Bild von sexualisierter Gewalt, wie wir es vor 20 Jahren hatten.

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«Was vor 30 Jahren, als das Sexualstrafrecht in Kraft trat, noch einigermassen entschuldbares Verhalten war, ist es heute nicht mehr, und das sollte sich auch im Gesetz widerspiegeln»

Agota Lavoyer

Und was für ein Bild ist das?
Das sind Bilder beziehungsweise falsche oder stereotype Annahmen über sexualisierte Gewalt: über die Taten selbst, über die Opfer und über die Täter. Das Bild des fremden gewalttätigen Psychopathen, der Frauen nachts überfällt und vergewaltigt, ist in vielen Köpfen noch sehr präsent. Die Glaubwürdigkeit der Opfer wird, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, immer noch reflexartig infrage gestellt. Opfern wird immer noch häufig eine Mitverantwortung an der Tat gegeben, weil sie sich vor oder während der Tat «falsch» verhalten haben sollen. Während zum Beispiel Männer entlastet werden, indem das Bild des triebhaften Mannes, der sich nicht zurückhalten kann, wenn eine Frau aufreizend ist, zementiert wird.

Welche Veränderungen bräuchte es denn konkret?
Mit der Gesetzesänderung allein ist es nicht getan. Die ist zwar eine sehr wichtige Basis, da das Gesetz die Haltung der Gesellschaft widerspiegelt, dass Sexualität auf Einvernehmlichkeit beruhen muss. Nebst dem braucht es aber noch viel Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit auf allen Ebenen. Nur so können wir diese falschen Bilder aus der Welt schaffen. Denn diese Mythen werten das Opfer ab, entlasten Täter und bagatellisieren das Ausmass sexualisierter Gewalt. Es braucht flächendeckende obligatorische Schulungen für alle Berufsgruppen, die mit Opfern sexualisierter Gewalt in Berührung kommen. Diese Forderung ist im Übrigen alles andere als neu und wird von der Opferhilfe und von NGOs schon seit Jahren an die Politik herangetragen. Es braucht Schulungen von Richter:innen, Sozialarbeitenden, Psycholog:innen, medizinischen Fachpersonen, Fachpersonen aus dem Bereich Asyl und Migration oder auch von Journalist:innen. Das Thema sexualisierte Gewalt ist also mit einer Gesetzesänderung noch nicht erledigt.

Im Zuge der Revision des Sexualstrafrechts werden vor allem Stimmen von Männern laut, die fürchten, dass sie zu Unrecht verurteilt werden. Was antworten Sie darauf?
Nicht nur ist diese Befürchtung irrational, solche Stimmen zeugen auch von tiefer Frauenverachtung. Sie zementieren ein Bild von rachsüchtigen, lügenden Frauen, die unschuldige Männer anzeigen. Das ist völlig haltlos. Schlussendlich versucht man mit diesem Argument den Diskurs zu verschieben, Opfer abzuwerten und das Ausmass sexualisierter Gewalt zu negieren.

Was brauchen Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind?
Wenn ich es wirklich komplett herunterbreche, dann besteht die Hilfe aus vier Schritten: Grundsätzlich geht es erst einmal darum, dass man den Betroffenen glaubt. Das klingt nach wenig, ist aber extrem viel und leider auch immer noch selten. Zweitens, den Betroffenen sagen, dass die Verantwortung für die Tat allein beim Täter liegt. Das Opfer hat sich nämlich nicht dazu entschieden, ein Opfer zu werden, während der Täter oder die Täterin die Entscheidung getroffen hat, die sexuelle Grenze des Opfers zu ignorieren und das Opfer auf diese Weise massiv zu verletzen. Drittens: Das Verhalten des Opfers nicht infrage stellen. Weder das Verhalten vor der Tat noch während der Tat noch nach der Tat. Gerade das Verhalten nach der Tat wird oft kritisiert, im Sinne von: «Wäre es wirklich so schlimm gewesen, dann hättest du etwas getan». Egal wie sich das Opfer nach der Tat verhält, müssen wir uns daran festhalten, dass dieses Verhalten eine Überlebensstrategie ist. Es wäre falsch und anmassend, dies infrage zu stellen. Und viertens sollte man die Betroffenen unterstützen, damit sie ihr Schweigen brechen und sich die benötigte Hilfe holen können. Deshalb betreibe ich auch Netzaktivismus in der Hoffnung, dass die Opferhilfe auch in der breiten Bevölkerung bekannter wird. Ich habe nämlich das Gefühl, dass die Opferhilfe noch viel zu unbekannt ist, obwohl es sie bereits seit fast 25 Jahren gesetzlich institutionalisiert gibt.

Was empfehlen Sie Betroffenen, wenn sie Opfer eines Sexualdelikts wurden?
Ich empfehle, sich bei einer Opferhilfestelle zu melden. Die Aufgabe der Opferhilfe ist es, den Opfern zur Seite zu stehen bei der Bewältigung des Erlebten und bei Fragen, die sich nach einer Straftat stellen. Diese Fragen können sehr vielfältig sein. Nebst der psychosozialen Unterstützung ist auch juristische Beratung ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Ich bin überzeugt, dass viel mehr Betroffene sich an die Opferhilfestellen wenden würden, wenn sie wüssten, wie breit unser Angebot ist. Unsere Beratungen sind unentgeltlich und können unabhängig davon, ob das Opfer Anzeige erstattet hat oder nicht, in Anspruch genommen werden. Auch Jahre oder Jahrzehnte nach der Tat. Opferhilfe verjährt nie.

Oft stellt sich nach einem Sexualdelikt die Frage nach einer Anzeige. Sexualdelikte verjähren 15 Jahre nach der Tat, die Beweislage ist jedoch besser, wenn Opfer die Tat möglichst zeitnah anzeigen. Ob tatsächlich Anzeige erstatten wird, ist den Opfern selbst überlassen. Die Opferhilfestellen können Betroffene bei dieser Entscheidung unterstützen. Auf Wunsch begleiten sie auch zu den Einvernahmen, vermitteln Fachpersonen wie Anwält:innen, Therapeut:innen und Ärzt:innen. Zudem können Opferhilfestellen von Gewalt betroffene Personen je nach Bedürfnis finanziell unterstützen. Die Beratungen und Hilfsangebote können von allen Personen, die Gewalt erfahren haben, in Anspruch genommen werden.

Weitere Informationen und Standorte der Opferhilfestellen findest du hier.

Agota Lavoyer gibt Schulungen zum Thema Opferhilfe und setzt sich als Aktivistin für Betroffene sexualisierter Gewalt ein.

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