«In Afrika ist Kunst immer politisch»
- Interview: Dietrich Roeschmann; Foto: Prix Meret Oppenheim, Bundesamt für Kultur, 2020, Mehdi Benkler
Koyo Kouoh ist eine der wichtigsten Figuren der afrikanischen Kunstszene. Die Sommer verbringt die frisch gekürte Meret-Oppenheim-Preisträgerin am liebsten in Basel und Zürich.
Koyo Kouoh sitzt entspannt auf dem Sofa, die Beine übereinandergeschlagen, der rechte Arm ruht ausgestreckt auf der Rückenlehne. Sie trägt die Haare zu Zöpfchen gef lochten eng am Kopf, ihr Blick ist konzentriert. «Die Menschen hinter den Kunstschaffenden sind es, die mich hauptsächlich interessieren», sagt sie in fast akzentfreiem Zürcher Dialekt direkt in die Kamera. «Sie sind für mich noch spannender als ihre Werke». Seit ein paar Wochen steht das Video auf der Website des Bundesamts für Kultur, das Kouoh jetzt mit dem Prix Meret Oppenheim würdigt. Der Preis gilt als die bedeutendste Auszeichnung für Schweizer Kunstschaffende, Architektinnen und Architekten und Kunstvermittelnde über vierzig.
Als wir Koyo Kouoh am Telefon gratulieren, ist sie gerade auf dem Sprung. Die 52-jährige Kuratorin, die in Basel, Dakar und Kapstadt lebt, hatte viel zu tun in den letzten Wochen. Als eine der einflussreichsten Vermittlerinnen zeitgenössischer Kunst aus Afrika reist sie oft quer durch den Kontinent, um Vorträge zu halten oder Kunstschaffende zu treffen für Ausstellungsprojekte, Symposien und Workshops, die sie organisiert. Kouoh ist in Kamerun geboren und kam im Jahr 1981 in die Schweiz.
Sie hat bei der Credit Suisse in Zürich eine Bankausbildung absolviert, bevor sie Mitte der Neunzigerjahre nach Senegal zog und dort 2008 in Dakar die international renommierte RAW Material Company gründete, ein unabhängiges Zentrum zur Förderung des künstlerischen und intellektuellen Nachwuchses in Afrika. Seit Mai 2019 ist Koyo Kouoh zudem Geschäftsführerin und Chefkuratorin des Zeitz MOCAA in Kapstadt. Das Museum in einem riesigen ehemaligen Getreidesilo ist das weltweit grösste Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst in Afrika. Wegen Covid-19 hatte es seit März geschlossen, was der Institution um ein Haar das Genick gebrochen hätte. Um sie vor dem Aus zu bewahren, musste Kouho die Löhne kürzen – diejenigen der Mitarbeiter ein bisschen, den eigenen um fast die Hälfte. Jetzt rollt der Betrieb wieder an, und das Handy läutet ununterbrochen.
annabelle: Koyo Kouoh, herzlichen Glückwunsch zum Prix Meret Oppenheim. Die Jury nennt Sie eine Brückenbauerin der zeitgenössischen Kunst Afrikas. Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit bewirken?
Koyo Kouoh: Ich glaube, Kunst kann den Menschen die Augen öffnen für die Welt ausserhalb Europas und Amerikas. Sie ist nicht allein Form und Ästhetik, sondern macht auch gesellschaftliche Prozesse sichtbar. In Afrika ist Kunst fast ausschliesslich politisch. Wir müssen uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um daraus zu lernen, zu heilen. Denn unsere Vergangenheit prägt die Gegenwart, in der wir über unsere Zukunft nachdenken. Kunst schärft das Bewusstsein für uns selbst und das Bewusstsein für andere.
Sie selbst sind in Kamerun geboren. Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?
Ich wuchs als typisches Stadtkind in Douala auf und hatte eine ganz normale, afrikanische Kindheit. In Kamerun wird man nicht nur von seinen Eltern erzogen, sondern von der ganzen Familie und Nachbarschaft – und ich habe eine sehr grosse Familie. In der Schule, die von Jesuiten geführt wurde, lernte ich viel über Europa, was mich damals als postkoloniales Subjekt faszinierte. Als ich neun Jahre alt war, wanderte meine Mutter in die Schweiz aus und ich blieb bei meiner Grossmutter.
Mit 13 holte Ihre Mutter Sie und Ihre Schwester in die Schweiz. War der Umzug nach Zürich ein Schock?
Als wir 1981 hier ankamen, kannte ich nur Kamerun und die Elfenbeinküste, wo wir einmal in den Ferien waren. Douala war mein Zuhause. Doch ich passte mich schnell an. Meine Mutter hatte einen Schweizer geheiratet, der jetzt mein neuer Vater war. Er kümmerte sich liebevoll um uns und bemühte sich, besonders aus mir eine echte Schweizerin zu machen – vermutlich mit Erfolg. Ich liebe tropische Gegenden und das Leben in Afrika, doch ich fühle mich auch in der Schweiz zuhause. Mir würde etwas fehlen, wenn ich nicht den Sommer in Basel und Zürich verbringen könnte.
Ihre Pubertät haben Sie in der Schweiz erlebt. Wie prägte das Ihre Identität als junge, schwarze Frau?
Anfang der Achtzigerjahre sah man auf der Strasse in der Deutschschweiz so gut wie niemanden aus Afrika. Wirklich fremd fühlte ich mich trotzdem nicht. Wie jeder Teenager wollte ich dazugehören, also habe ich in wenigen Monaten Deutsch und Schweizerdeutsch gelernt. Durch die Sprache fühlte ich mich voll integriert. Der Schock kam erst viele Jahre später, als ich um die zwanzig war und mir plötzlich bewusst wurde, dass ich wirklich anders bin.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Als junge Afrikanerin in der Schweiz hatte ich oft den Eindruck, Zuschauerin eines Bühnenstücks zu sein, in dem ich selbst keine Rolle spielte. Doch als ich nach meinem Berufsabschluss das erste Mal seit vielen Jahren wieder nach Kamerun reiste, begriff ich, welchen Reichtum es auch bedeutete, in diesen verschiedenen Welten zuhause zu sein. Später spürte ich den dringenden Wunsch, wieder nach Afrika zu ziehen.
Sie haben sich für Dakar entschieden. Warum?
Dakar ist das Mekka der Kunst und Kultur in Afrika. Der Dichter Léopold Sédar Senghor, der später Senegals erster Präsident wurde, hatte hier in den Vierzigerjahren das philosophische Konzept der Négritude entwickelt, die für die kulturelle Selbstbehauptung der Menschen in Afrika eintrat. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der eigenen Kultur war in der Stadt seither immer sehr präsent. Heute hat Dakar eine der lebendigsten Kunst- und Kulturszenen Afrikas.
Im Jahr 2008 haben Sie hier die RAW Material Company gegründet. Was war Ihr Ziel?
Schon als junge Kuratorin war ich der Überzeugung, dass Kunst ein Medium der Kritik und Auseinandersetzung mit der Gesellschaft ist. Sie kommt nie aus dem Nichts und weist immer über die eigene Form hinaus, setzt Ideen in die Welt, stösst Diskussionen an. Die RAW Material Company bietet für diese Auseinandersetzung eine Plattform und ist zugleich ein Ort, an dem junge Kunst- und Kulturschaffende aus Afrika recherchieren, sich miteinander austauschen und vernetzen können. Der Name ist Programm: Die Rohstoffe, die wir für unsere Entwicklung brauchen, finden wir im eigenen Land – in unserer Natur, Gesellschaft, Geschichte und Spiritualität.
«Man begegnet auch im Kunstbetrieb Menschen, die sich nicht bewusst sind, dass die Welt grösser ist als die Blase, in der sie leben»
Die Sichtbarkeit zeitgenössischer Kunst aus Afrika hat im Westen stark zugenommen, auch in der Schweiz. Kader Attia ist derzeit im Kunsthaus Zürich zu sehen, zuvor war Zanele Muholi mit einer grossen Soloschau im LUMA-Westbau zu Gast. Eine Entwicklung in die richtige Richtung, oder?
Schon. Doch hoffentlich ist das nicht bloss ein kurzfristiger Trend, von denen es so viele gibt im Kunstbetrieb. Für einen echten Systemwechsel braucht es eine gründliche programmatische und politische Infragestellung. Mit ein bisschen Farbe ist es nicht getan. Man begegnet auch im Kunstbetrieb Menschen, die sich nicht bewusst sind, dass die Welt grösser ist als die Blase, in der sie leben. Euro-Amerika dominiert den Kunstbetrieb total.
Wie sehr prägt die Erfahrung von Krisen das Kunstschaffen in Afrika?
In Afrika ist die Krise seit Ankunft der ersten Kolonisatoren aus Europa ein Dauerzustand. Krisenmanagement gehört zum kollektiven Wissen, das von Generation zu Generation weitergereicht wird. Die Krise ist in gewisser Weise zu einer Form des Daseins geworden, aus der die Menschen in Afrika enorme Kreativität schöpfen. Aus der Perspektive der Kunst interessiert mich deshalb weniger die Idee des Mangels, von der westliche Kuratoren ihren Blick auf Afrika nach wie vor oft leiten lassen, sondern der Reichtum, den das kreative Schaffen in Afrika bereithält.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper in der Kunst. Gibt es eine afrikanische Perspektive auf den Feminismus?
Ja, anders als in Europa und Amerika richtet sich der Feminismus in Afrika jedoch nicht gegen problematisches Männerverhalten, sondern er engagiert sich für die Anerkennung der Vielfalt weiblicher Lebensweisen. Für mich ist Feminismus eine Selbstverständlichkeit, die ich im Grunde nicht mehr diskutieren möchte, sondern frei auslebe, wie ich es bei den Frauen in meiner Kindheit beobachtet und bewundert habe.
Inwiefern?
Ich komme aus einer Familie, in der es sehr viele starke Frauen gab und Männer kaum eine Rolle spielten. Ich bin mit meiner Urgrossmutter und Grossmutter aufgewachsen. Meine Mutter erlebte ich als eine unabhängige Frau, die ihren eigenen Weg ging. Ich wurde von Frauen erzogen und sah um mich herum fast nur Frauen, die ihr Leben selbstständig in die Hand nahmen und sich weder nach Männern richteten noch mit dem gesellschaftlichen Kodex der «Anständigen» identifizierten. Das waren die Vorbilder, an denen ich mich orientierte. Bis heute finde ich, Frauen sind die schönsten und interessantesten Menschen, die es gibt. Es wird höchste Zeit, dass ihr Blick und ihre Expertise als Kunstschaffende, Kritikerinnen und Kuratorinnen in der Kunstwelt mehr Gewicht erhalten. Daran arbeite ich.