Leben
7 Erkenntnisse, die wir aus dem Lockdown mit in den Alltag nehmen
- Redaktion: Marie Hettich, Bild: GettyImages
Was bleibt nach einem wochenlangen Ausnahmezustand? Die annabelle-Redaktion verrät ihre persönlichen Aha-Momente der Corona-Krise.
1. Hallo, Langeweile!
Es ist gegenüber all jenen, die während des Lockdowns 14-Stunden-Schichten in Spitälern geleistet haben, ja ziemlich zynisch. Aber meine Corona-Erkenntnis lautet tatsächlich: Langeweile is king. Mir war seit Jahren nicht mehr so langweilig wie in jenen Wochen. Vermutlich nicht mehr seit meinen letzten Sommerferien als Kind. Während der Corona-Krise lag ich abends oft im Bett und hab durchs offene Dachfenster Gedanken in den Himmel gestarrt, anstatt mich mit Freunden auf ein Glas Naturwein zu treffen. Hab ganze Wochenenden lang auf dem Sofa rumgelümmelt, anstatt mal eben kurz nach Berlin zu reisen. And guess what? Ich habe selten so viel reflektiert, so viele Erkenntnisse gewonnen. Hatte endlich wieder die Musse, persönliche Projekte voranzutreiben – und wenn es nur der Balkon-Holzboden war, der endlich verlegt werden wollte. Ich hatte tatsächlich lange nicht mehr so viele Ideen. Und bin erschrocken, dass wir der Langeweile keinen grösseren Stellenwert beimessen – gerade in einer Leistungsgesellschaft wie unserer. Langeweile ist ja nicht nur Ausgleich. Sie ist auch Antrieb. (Redaktorin Leandra Nef)
2. Weg mit dem Food Waste
Die Pasta vom Vorabend oder das angefangene Joghurt im Kühlschrank – sie landeten früher oder später im Müll. Ich bin wirklich nicht stolz darauf, aber ich gebs zu: Ich war ein Food Waster. Erst im Lockdown habe ich gemerkt, wie viel Essen ich eigentlich wegwerfe. Eine Schande! Während den Wochen in meiner Wohnung habe ich gelernt, Mahlzeiten zu planen und Reste besser zu verwerten. Nicht nur das: Ich habe gemerkt, wie viel Spass mir das eigentlich macht. Ich habe neue Rezepte ausprobiert und schraubte meine erbärmlichen Koch-Skills auf ein Level hoch, das mittlerweile glatt als «gut» durchgehen könnte. Da macht das Resteessen auch gleich mehr Freude. (Redaktorin Vanja Kadic)
3. Telefon-Connections
Während des Lockdowns habe ich fast täglich mit Menschen telefoniert, von denen ich wusste, dass ihnen die Corona-Krise zu schaffen macht – mit Nachbarn, Bekannten oder entfernten Verwandten. Das möchte ich mir beibehalten. Vielleicht nicht mehr so oft und so regelmässig, aber die Gewohnheit ist mir liebgeworden. Unter anderem auch, weil ich dabei viele interessante Lebensgeschichten erfahren habe: Da war zum Beispiel ein älterer Herr, der sich, nach dem von Bundesrätin Viola Amherd verordneten miltärischen Grosseinsatz, an seine eigene Aktivdienstzeit erinnerte. Er sprach von den schweren Nagelschuhen, die ihm, dem Gebirgsoffizier, Blasen an den Füssen verursachten, vom «Kaputt» und meinte damit den filzigen Militärmantel, der bei jedem Regentropfen schwerer wurde, oder vom «Aff» – das war, wer weiss das schon, die Bezeichnung für den Tornister aus Kuhfell. Ich erfuhr auch von unvorstellbaren Liebesgeschichten, vom Verlust der Lebenspartner, von Einsamkeit. Und trotz allem war immer wieder eine heitere Gelassenheit zu spüren. Wie bereichernd und schön! (Freie Mitarbeiterin Monique Henrich)
4. Ab in die Natur
Fernab der alltäglichen Reizüberflutung und des Überflusses an sozialen Begegnungen, hatte ich plötzlich viel Zeit. Zeit, um am Sonntagmorgen verschlafen in meinem Bett zu liegen und zu überlegen, was ich denn heute gerne machen würde. Mehrmals habe ich mich dazu entschieden, spontan wandern zu gehen – und habe dabei die Schönheit der Natur wiederentdeckt. Endlich hatte ich genug Zeit, um aus der Natur – den sattgrünen Bäumen, den mächtigen Bergen, den wilden Blumenwiesen – Kraft zu schöpfen und eine enorme Verbundenheit zu spüren. Nicht nur zur Umwelt, sondern auch zu mir selbst. (Céline Geneviève Sallustio, Praktikantin Reportagen)
5. Bewegung is key
Auch wenn ich den Fakt immer wieder verdrängt habe, muss ich mittlerweile zugeben: Bewegung ist wirklich der Bringer. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich den Lockdown ohne meine täglichen Spaziergänge oder Pilates-Livestreams niemals so gut überstanden hätte. Bewegung beruhigt mein Gedankenkarussell, bringt mich zurück in die Mitte, hebt meine Laune, und gibt mir das grandiose Gefühl, ich sei ready für alles, was kommt. Jedes einzelne Mal. Deshalb versuche ich auch jetzt, zurück im Alltag, täglich ein bisschen was zu tun – denn gute Nerven brauchts auch ohne Lockdown. Noch so eine Erkenntnis, die ich hatte. (Redaktorin Marie Hettich)
6. Mehr Leerlauf
Kurz joggen, mit einer Freundin Kaffeetrinken gehen, später in den Apéro und dann vielleicht noch zu diesem Gartenfest. Morgen zum Wandern abgemacht und am Abend mit Freunden zum Nachtessen. Wenn ich heute auf das Programm blicke, das in den letzten Jahren – oft weit im Voraus geplant – meine Wochenenden ausfüllte, wird mir eng in der Brust. Die erste leichte Beruhigung meines überaktiven Soziallebens brachte die Geburt meiner Tochter letztes Jahr. Die zweite – und effektivere – folgte mit dem Lockdown. Ich merkte: Abgesehen von diesem warmen zwischenmenschlichen Funken, der entsteht, wenn man nahe Freunde und Familie trifft, vermisse ich nichts. Ich lernte, die leeren Samstage und Sonntage wieder zu schätzen und war in der Ereignislosigkeit der Lowndown-Tage im Grunde sehr glücklich. Diese Ruhe in die kommende Zeit hinüberzuretten, wird nicht einfach. Aber es war wichtig zu merken, wie wohltuend sie ist. (Redaktorin Stephanie Hess)
7. Netflix, jetzt also doch
Ach, wie habe ich mich jahrelang dagegen gesträubt und bloss die Nase gerümpft, als man mit glasigen Augen von irgendwelchen neuen Netflix-Serien schwärmte, die man zwingend gesehen haben musste. Nun, dieser eherne Widerstand wurde ungefähr in der Woche Drei der Lockdowns gebrochen. Ich erinnere mich noch genau, wie es geschah: Es war ein kalter, ziemlich einsamer Abend, ich sass mit eisigen Füssen in eine Decke gewickelt auf dem Sofa und haderte mit der Ödnis der dunklen Wohnung. Da plötzlich, aus einer unerklärlichen Eingebung heraus, zog ich mein Laptop auf die Knie, hielt den Atem an, kniff die Augen zusammen – und tippte «netflix.com» in die Suchmaske. Ich loggte mich ein mit dem Gefühl, etwas Unerhörtes zu tun, löste ein Probeabo und wählte mit einem zaghaften Klicken die erste Episode der Miniserie «Unorthodox», die Geschichte einer jungen chassidischen Jüdin aus Brooklyn, die aus einer arrangierten Ehe nach Berlin flieht. Ha! Das genügte. Ich war angefixt. Auf «Unorthodox» folgte die schwedische Serie «Kalifatet», und ich erlebte zum ersten Mal das Phänomen Binge Watching: Eine Episode glitt in die andere hinüber, von Cliffhanger zu Cliffhanger, ich schaute vier, fünf Folgen am Stück und konnte mich jeweils nur mit ganz grosser Kraft zum Zähneputzen losreissen. Ich benahm mich wie eine Frischverliebte und war fassungslos. Das mir das noch passieren konnte! Inzwischen ist das Probeabo in ein reguläres übergegangen und Netflix schickt mir mindestens einmal täglich ein nettes Email («Hi Helene, möchtest du nicht endlich «Fauda» fertig schauen»?). Mittlerweile wähle ich die Abende, an denen ich mich Netflix hingebe, sehr bewusst aus. Aber es gibt sie, die neue Schamlosigkeit. (Redaktorin Helene Aecherli)