Angestarrt, begrapscht, zu sexuellen Handlungen gezwungen: Eine neue Studie von Amnesty International zeigt erstmals, wie stark sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt in der Schweiz verbreitet sind.
Die Zahlen sind erschütternd: Über die Hälfte der Frauen in der Schweiz ab 16 Jahren ist der Ansicht, dass sexualisierte Gewalt in der Schweiz verbreitet ist. Sexuelle Belästigung wird gar von drei Vierteln der Frauen als ein fast schon omnipräsentes Phänomen wahrgenommen. Aber mehr noch: Jede fünfte Frau hat mindestens einmal in ihrem Leben ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, zwölf Prozent haben Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen erlitten. Auf die Gesamtzahl der Frauen in der Schweiz hochgerechnet, bedeutet dies, dass insgesamt rund 800 000 Frauen von unerwünschtem Sex betroffen sind, 430 000 Frauen von erzwungenem Geschlechtsverkehr – letzteres entspricht ungefähr der Bevölkerung der Stadt Zürich.
Diese Zahlen liefert eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts Gfs Bern, die im Auftrag von Amnesty International unter fast 4500 Frauen erstellt wurde. Und sie ist bahnbrechend: Denn es ist die erste Umfrage überhaupt, die genauere Zahlen zur Verbreitung sexueller Gewalt an Frauen in der Schweiz liefert. Bis anhin gab es zwar detaillierte Zahlen zu häuslicher Gewalt, sexualisierte Gewalt als ein gesamtgesellschaftliches Problem hingegen, blieb merkwürdig schwammig – was angesichts der breiten medialen Präsenz im Zuge der #MeToo-Bewegung umso mehr verwundert. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass die Bandbreite an Belästigungen und Übergriffen gigantisch und somit schwierig zu definieren ist. Wohl aber auch damit, dass mit dem Kampf gegen sexualisierte Gewalt kaum politische Lorbeeren zu holen sind, ja nicht einmal ein Schulterklopfen. Zu stark herrscht noch die Haltung vor, dass sexualisierte Gewalt primär Privatsache sei, um die man sich gefälligst selbst zu kümmern habe. Zu oft wird sie trotz allen Aufschreis und sozial-medialer Debatten noch immer als «Frauenanliegen» abgetan, das höchstens ein gelangweiltes Murren entlockt. Fakt ist: Die Täter werden in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen, die Tat selbst verniedlicht, die Verantwortung für Übergriffe nicht beim Täter, sondern beim Opfer gesucht, bei dessen Kleidung, Gebaren, beim Mass seiner Gegenwehr. «Vergewaltigungsmythen» nennt sich dies im Fachjargon. So geschieht es noch immer, dass Frauen, die eine Vergewaltigung erlitten haben, vor Gericht gefragt werden, ob sie sich denn nicht hätten wehren können, warum sie nicht geschrien hätten oder ob wohl ihr Alkoholkonsum oder gar das Outfit eine Rolle gespielt habe, sagt Agota Lavoyer von der Beratungsstelle Lantana. Zudem sei erschreckend wenig Fachwissen darüber vorhanden, was sexualisierte Gewalt überhaupt ist. Agota Lavoyer erzählt von einer Anhörung vor Gericht, der sie selbst beigewohnt hat. Eine vergewaltigte Frau forderte vom Täter eine Entschädigung von hundert Franken für das Kleid, das sie an jenem Abend getragen hatte und nun nicht mehr ansehen konnte. Der Richter habe bloss gefragt: «Können Sie das Kleid nicht einfach waschen?» Diese Vorstellungen, dass Frauen für die erlittene Tat mitverantwortlich sind, sei jedoch auf beiden Seiten noch tief verankert, gerade auch in den Köpfen der Frauen selbst. Folglich gibt fast die Hälfte der in der Studie Befragten an, einen Vorfall sexualisierter Gewalt aus Angst oder Scham für sich zu behalten, zehn Prozent wenden sich an eine Beratungsstelle, nur gerade acht Prozent erstatten Anzeige.
Das soll sich nun ändern: Amnesty International hat eine Petition lanciert, um Betroffene von sexualisierter Gewalt zu schützen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Organisation fordert von Justizministerin Karin Keller-Sutter unter anderem eine Revision des Strafgesetzbuchs, damit alle sexuellen Handlungen ohne Einverständnis strafbar sind, sowie eine systematische Datenerhebung zu allen Formen sexualisierter Gewalt. Das ist gut so. Denn die Schweiz hat ein veraltetes Sexualstrafrecht, das grundlegend refomiert werden sollte. «Weil die Vergewaltigungsnorm eine Nötigung voraussetzt, verlangt man vom Opfer, dass es sich zur Wehr setzt. Ein Nein allein reicht nicht aus. Damit wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung missachtet», erklärt Nora Scheidegger, Juristin und Expertin für das Schweizer Sexualstrafrecht. Mit anderen Worten: Eine Frau kann ihre Ehre nur retten, indem sie Gegenwehr leistet. Tut sie es nicht, trägt sie eine Mitschuld. Eine Haltung, die zutiefst problematisch ist, so Scheidegger, da «Freezing», Erstarren, das heisst, stumm zu bleiben oder sich körperlich eben nicht zu wehren, häufige Reaktionen sind auf sexualisierte Gewalt.
Gemäss der Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen, das hierzulande im April letzten Jahres in Kraft getreten ist, gilt als sexualisierte Gewalt, beziehungsweise Vergewaltigung, wenn es sich beim Akt um ein «nicht einverständliches vaginales, anales oder orales Eindringen» handelt. Von Zwang ist in der Konvention keine Rede. Auf dieser Grundlage könnte das Schweizer Strafgesetz angepasst werden. Zwar werden im Parlament Änderungen im Sexualstrafgesetz bereits diskutiert. Erst letzten November hat der Bundesrat vorgeschlagen, die Definition der Vergewaltigung zu erweitern, sodass neu auch Männer Opfer von sexualisierter Gewalt werden können. Einen Anlass, das Gesetz im Sinne der Istanbul-Konvention zu revidieren, sieht er jedoch nicht.
Bleibt zu hoffen, dass der Vorstoss von Amnesty International nun nicht einfach bloss weitere Hashtags bewirkt, sondern neue, nüchterne Diskussionsgrundlagen schafft, die breit abgestützte Präventions- und Sensibilisierungskampagnen ermöglichen, vielleicht eines Tages sogar flankiert von TV-Spots, Plakaten sowie von Lernprogrammen in Schulen und Ausbildungsstätten. Kampagnen, die einen tiefgreifenden Mentalitätswandel herbeiführen und endlich klar machen, dass Grabschen, Anpöbeln oder Anmache auf den Sozialen Medien in die Ecke der No-Gos gehören, und dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen nicht mehr unterschwellig als Kavaliersdelikte gelten, sondern nur Eines sind: gravierende Menschenrechtsverletzungen, die gesetzlich geahndet werden.