Carla Guelfenbein, Chiles zurzeit wichtigste Autorin, blickt ohne Bitterkeit auf eine Jugend voller Gewalt zurück. Ihre Familie gehörte zu den prominentesten Opfern von Pinochets Militärdiktatur.
Wörter fliegen hin und her, verletzen und töten, wie im Krieg.» Der kleine Tommy, ein zarter, schüchterner Knabe, ist von Sprache besessen. Er redet nicht viel, doch er lauscht nach Worten, Sätzen, Gesprächen. Denn sie konstruieren die Wirklichkeit. Er sitzt unter Tischen, hinter Büschen, hört der Welt zu – und nimmt sie auf: Sein Recorder schneidet die Wörter mit, die als Pfeile durch die Luft schwirren. Und dann wird Tommy selbst getroffen. Der Pfeil kommt aus dem Mund einer Tante, als Tommy bei einem Familienfest unter dem Tisch sitzt. «Selbstmord» ist das Wort, das sich in sein Herz bohrt. Sofort versteht er: Die Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein soll, hat ihn freiwillig verlassen. Sein Vater und seine Stiefmutter verschwiegen die Wahrheit vor ihm – denn auch sie sind verstrickt ins Unsagbare. Doch das Schweigen frisst sich wie Rost in die Familie. Und Worte werden zur echten Bedrohung.
«Der Rest ist Schweigen» ist der dritte, ungemein lesenswerte Roman der Chilenin Carla Guelfenbein. Er wurde mit Spannung erwartet, denn ihr letztes Buch «Die Frau unseres Lebens» war ein Weltbestseller. Guelfenbein, geboren 1959, ist die zurzeit wichtigste Schriftstellerin Chiles. Sie begann erst mit vierzig zu schreiben, nachdem sie in England Biologie und Design studiert hatte, nach Santiago zurückgekehrt war und dort bei der Frauenzeitschrift «Elle» die Ressorts Kunst und Mode verantwortet hatte. Irgendwann kündigte sie ihren Job, obwohl sie ihn liebte. «Ich musste es einfach tun. Das Bedürfnis, mich acht Stunden am Tag in meine Stille zurückzuziehen und zu schreiben, wurde übermächtig.»
Carla Guelfenbein zerlegt die Wirklichkeit, verdichtet sie, formt sie zu Geschichten um, die so nah an der chilenischen Realität sind, dass die Chilenen süchtig sind nach ihren Büchern. Stets spielen ihre Romane vor dem einen grossen Hintergrund: Chiles Vergangenheit in der Diktatur. Guelfenbein wurde in eine jüdisch-atheistische Familie geboren. Ihre Mutter lehrte Philosophie an der Universität von Santiago de Chile. Nach dem Putsch verhalf sie Menschen, die auf der Todesliste standen, zur Flucht, wodurch sie selbst ins Visier von Pinochets Schergen geriet, verhaftet wurde und später an Krebs starb.
Die Lage wurde immer gefährlicher, und als Carla Guelfenbein 17 Jahre alt war, floh die Familie nach London. Auch Guelfenbeins späterer Schwiegervater Carlos Altamirano, Kopf der Sozialisten in der Regierung Allende, war geflohen. Er galt als meistgesuchter Mann Chiles. Carla Guelfenbeins Vater, ein Architekt, war ebenfalls Sozialist. Sein wichtigstes Projekt waren günstige, lichtdurchflutete Ferienhäuser, die sich alle leisten können sollten. Die Balnearios populares de Ritoque wurden unter Pinochet in Konzentrations- und Folterlager umgewandelt. Statt Kinderlachen hallten nun gequälte Schreie über das Gelände.
«Das hat meinem Vater das Herz gebrochen», sagt Guelfenbein. Sie wirkt dabei nicht bitter, nicht traurig. «Natürlich war es schrecklich, ins Exil zu gehen. Doch es gab auch sehr schöne Momente. Ich war jung – und fast alle meine chilenischen Freunde hatten ein ähnliches Schicksal», sagt sie. Am glücklichsten ist Carla Guelfenbein, wenn sie schreibt. Wenn sie Fäden spinnt, wenn sie überarbeitet und wieder überarbeitet, «bis ich ins Herz der Geschichte vorstosse», sagt sie. Wenn sie Worte einfängt, die wie Pfeile ins Mark treffen.
Carla Guelfenbein: Der Rest ist Schweigen. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, 288 Seiten, ca. 35 Franken