Ghosting kennt jeder. Doch wer hat schon von Orbiting gehört? Die englische Autorin Dolly Alderton weiss alles über die Tücken des Onlinedatings – und schreibt darüber so amüsant wie niemand sonst.
Dolly Alderton ist die Stimme der jungen Frauen in Grossbritannien. Die 32-Jährige weiss alles über Liebe, Sex und die Schwierigkeiten damit. Darüber hat sie als Gastgeberin des erfolgreichsten weiblichen Podcast des Landes geredet («The High Low»). Darüber hat sie Memoiren geschrieben, die sich 300 000 Mal verkauften («Alles, was ich weiss über die Liebe»). Nun erscheint ihr erster Roman «Gespenster». Per Videocall aus London erklärt Alderton, was zwischen Männern und Frauen so alles schiefläuft in der Datingwelt.
annabelle: Kürzlich hat ein junger Mann auf dem Datingportal Hinge geschrieben: «Lebe jeden Tag so, dass Dolly Alderton ihren Glauben an die Männer wiederfindet.» Was meint er damit?
Dolly Alderton: Ich hatte bis vor einigen Jahren eine Datingkolumne in der «Sunday Times». Da habe ich natürlich nicht über die perfekten Abende geschrieben, das will ja niemand lesen, sondern mich an Nora Ephron gehalten: Wenn du auf einer Bananenschale ausrutschst, sei die Erste, die darüber Witze macht. Seitdem denken viele, mein Liebesleben sei eine Katastrophe. Weil ich darüber gejammert habe, wie schwierig Männer sind, wie kompliziert die Kommunikation zwischen Heterosexuellen abläuft. Ich habe diesen Ruf, eine Männerhasserin zu sein, die Hoden mit der Mistgabel aufspiesst. Das stimmt natürlich nicht, ich liebe heterosexuelle Männer. Ich verdanke ihnen meine Karriere.
In Ihren Büchern kommen sie selten gut weg. Sind Sie sauer auf Männer, die sich nicht binden wollen?
Nein, ich verstehe sie komplett. Ich will mich auch nicht binden, den Grossteil meines Lebens war ich Single. Monogamie finde ich auf lange Sicht herausfordernd. Um ehrlich zu sein: Wenn ich ein Mann wäre, würde ich im nächsten Jahrzehnt keine Beziehung eingehen.
Doch Sie sind eine Frau in den Dreissigern. Machen Sie sich Gedanken um Familienplanung?
Das ist der grosse Unterschied! Ich kenne Männer, die sagen: «Ich will jetzt keine Kinder, erst mit 45, davor konzentriere ich mich auf die Arbeit, baue meine Traumwohnung aus, ziehe jede Nacht durch die Clubs und schlafe mit allem, was sich bewegt.» Okay, damit kann ich leben. Mich regt es jedoch auf, wenn Männer unaufrichtig sind. Eine Frau ist biologisch anders, sie will vielleicht Familie und Kinder. Wenn sie mit Ende dreissig ein Jahr mit einem Typen verbringt, der nicht ganz sicher ist, was er will, nur seinen Spass sucht, die ganze Zeit jedoch der Frau vorgaukelt, dass er sich vielleicht in einem Jahr eine Beziehung vorstellen könnte, dann hat er ihr die Zeit gestohlen.
Davon handelt auch der Roman, es geht ums Ghosting. Jemand verschwindet plötzlich ohne Vorwarnung. Gab es das nicht schon früher?
Ich habe die Memoiren der Verlegerin Diana Athill gelesen, darin beschreibt sie, wie ihr Verlobter sie in den 50er-Jahren einfach sitzen lassen hat. Dieses Phänomen gab es, aber es grassierte nicht so wie heute. Öfter höre ich Geschichten von Männern, die sich wochenlang mit einer Frau treffen und dann eines Tages eine Nachricht schicken: «Wir sehen uns am Mittwoch zum Kaffee», dort aber nicht erscheinen und nie wieder von sich hören lassen. Das Schockierende daran finde ich, dass es keinen mehr schockiert. Auf Dating-Apps fühlt sich niemand dem anderen gegenüber verpflichtet. Weil es nur eine Gemeinsamkeit gibt: Man ist auf derselben App gelandet. Man hat aber keine gemeinsamen Freunde, arbeitet nicht im selben Büro, trinkt nicht im selben Pub. Da denkt der Mann: Wenn ich verschwinde, bekomme ich keinen Ärger.
Neben Ghosting tauchen beim Onlinedating immer wieder neue Begriffe auf: Tinder Celebrity, Revenge Porn. Welche sind Ihnen zuletzt untergekommen?
Orbiting. Wenn du bemerkst, dass jemand deine Posts auf Social Media ansieht, aber nicht mehr auf persönliche Nachrichten reagiert. Sehr weit verbreitet. Der andere ignoriert den direkten Kommunikationsversuch, kreist aber um dich herum. Oh, und dann gibt es Breadcrumbing. Jemand hinterlässt kleine Spuren auf Social Media, kleine Krümel an Aufmerksamkeit, zum Beispiel Kommentare zu Bildern, sodass der andere annimmt, es bestehe Interesse, aber auch hier wird jede direkte Kommunikation abgelehnt. Und ganz schlimm ist Benching, wenn jemand die Möglichkeit einer Beziehung auf die lange Bank schiebt. Er sagt, vielleicht später mal, und gibt dir Hoffnung. Das finde ich schlimmer als Ghosting. Weil die andere Person wartet und wertvolle Zeit vergeudet.
Erfolglose Treffen machen einen Grossteil Ihres Schreibens aus. Warum ist Dating in Ihrer Generation so schwierig geworden?
Das klingt vielleicht dürftig, aber ich glaube, dass der Anstieg der Lebenserwartung eine Auswirkung auf die Lebensplanung hat. Meine Grossmutter ist vor einigen Jahren mit 73 gestorben, und alle in der Familie sind sich einig, dass das ein hohes Alter ist. Eine Freundin von mir hat gerade ein Kind bekommen, und der Arzt sagte, dessen Lebenserwartung läge nun bei 120 Jahren. Das ist nicht mehr wie zu Zeiten von Jane Austen, als du eine hoffnungslose Jungfer warst, wenn du mit 23 noch nicht geheiratet hattest. Die bindungslose und infantile Zeit der Adoleszenz dehnt sich plötzlich bis in die Dreissiger aus, viele Menschen schieben eine ernste Beziehung auf. Hinzu kommen die Dating-Apps, die alles verkomplizieren.
Es ist doch toll, mehr Optionen zum Kennenlernen zu haben.
Stellen Sie sich vor, ich würde nicht heute, 2021, sondern in den 1950er-Jahren in Camden Town wohnen. Ich könnte vielleicht von Cary Grant träumen, aber die einzigen Männer, die ich träfe, wären Freunde meines Bruders, die Brüder meiner Freundinnen und ein paar Jungs aus dem Pub nebenan. Das Internet hat die Welt für uns geöffnet, was befreiend, aber eben auch beklemmend ist. Wir haben die Qual der Wahl. Millionen von Partnern, Beziehungen und Lebensvariablen! Das führt zu einer Art Bindungspanik. Niemand will sich festlegen, weil hinter dem nächsten Profil die bessere Option warten könnte.
Tatsächlich hat das amerikanische Pew Research Center im vergangenen Februar eine Umfrage veröffentlicht, in der 57 Prozent aller Männer angaben, dass sie nicht genügend Aufmerksamkeit auf Onlineportalen finden – aber nur 24 Prozent aller Frauen.
Das überrascht mich kein bisschen. Ich habe grosses Mitleid mit diesen Männern. Denn wenn sie genau hinschauen, erzählt uns das etwas über das männliche Ego heutzutage. Dass Männer ihren Selbstwert über Promiskuität und Attraktivität definieren. Das führt im besten Fall zu einer Unzufriedenheit in der Statistik, im schlimmsten Fall greifen Männer zu Waffen und schiessen in Shoppingmalls um sich, weil sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen und sich von der Welt betrogen fühlen. Ich finde, das ist ein ernsthaftes Problem, das wir angehen müssen.
Wie denn? Plädieren Sie dafür, Männern ein besseres Gespür für ihre Emotionen beizubringen?
Absolut. Wir müssen Jungs anders erziehen als bisher, eine andere Sprache verwenden, das Konzept von Maskulinität verändern. So oft ich auch über heterosexuelle Männer murre, so leid tun sie mir. Selten erlebe ich, dass sie dieselbe Intimität und Nähe erfahren, die wir Frauen in unseren Freundschaften pflegen. Vielleicht hat Mutter Natur uns das als Trost mitgegeben, als Ausgleich für all die Erniedrigungen, die wir Frauen erleben: ein Unterstützungsnetzwerk, in dem alles diskutiert werden kann und in dem es keine Verurteilung gibt. Bei vielen Männern beobachte ich, dass sie vielleicht ihre Partnerin und ihre Mutter haben, um über solche Dinge zu reden – aber sie tun es kaum mit ihren Freunden.
«Mein Leben ist schwer weiblich»
Haben Sie selbst Männerfreunde?
Die kann ich an einer Hand abzählen: drei. Mein Leben ist schwer weiblich. Ich kann Männer schlecht fassen, ausser in einem romantischen Kontext. Vermutlich liegt es daran, dass ich auf eine Mädchenschule gegangen bin und nie richtig gelernt habe, entspannt mit ihnen umzugehen, ohne diesen Hintergedanken, gefallen zu müssen.
Was bereden Sie mit Ihren Freundinnen und was mit den Hetero-Männern?
Als ich dreissig war, habe ich mich öfter mit einem Typen getroffen, der mich schlecht behandelt hat. Jeden Tag habe ich mich mit meinen Freundinnen darüber unterhalten, wir haben ihn in Abwesenheit therapiert, seine Kindheit analysiert, seine Eltern, seine Ex-Freundin, die ihn vielleicht zu einem schlechteren Menschen gemacht hat. Sie haben mit unendlicher Geduld Probleme mit mir durchgekaut. Und dann ging ich eines Abends mit einem der drei männlichen Freunde aus, wir tranken Bier im Pub, und er sagte: «Ich hasse diesen Kerl, weil er dich so beschissen behandelt. Du solltest ihm nie wieder schreiben.» Das wars, Problem gelöst. Das ist wie Yin und Yang, eine nützliche Energie, die jeder in seinem Leben haben sollte.
Im Roman schreiben Sie, dass Sie sich als Frau wie eine Dolmetscherin für männliche Emotionen fühlen. Wünschen Sie sich manchmal, lesbisch zu sein?
Ich habs versucht. So gern hätte ich mich in meine Freundinnen verliebt! Ich mag weibliche Formen, ich verstehe die Psyche besser, wäre es da nicht schön, wenn ich eine Lesbe wäre? Aber wenn ich das sage, trivialisiere ich die Komplexität, die Brutalität, die Herrlichkeit dessen, was es bedeutet, lesbisch zu sein. Denn so einfach ist es dann doch nicht. Auch lesbische Paare leben nicht in einer sorgenfreien Utopie. Man sollte Frauen nicht als Gutmenschen idealisieren. Sie können genauso schrecklich wie Männer sein.
Denken Sie manchmal daran, wie vermeintlich einfacher es die Generationen vor Ihnen hatten: zufällige Treffen auf der Strasse, eine Einladung zum Kaffee?
Natürlich. Ich habe mit Anfang zwanzig angefangen, übers Internet zu daten, aber jetzt, nach all den Jahren, habe ich ein Erschöpfungssyndrom. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich möchte endlich jemanden im echten Leben kennenlernen. Niemand will auf Dating-Apps abhängen. Eilmeldung: Wir alle hassen es, dort zu sein. Jede von uns wünscht sich, dass ein Mann uns mal entdeckt, während wir in einem Café in Soho sitzen und auf der Couch ein Buch lesen. Dass er dann seine Telefonnummer auf eine Serviette schreibt, die er uns heimlich auf den Tisch legt.
Und das ist Ihnen noch nie passiert?
Doch, als ich zwanzig war. Aber seither nicht mehr. Mit dem Aufkommen der Apps hat sich etwas verschoben: Die Menschen sind für solche Begegnungen gar nicht mehr offen. Es passiert keinem mehr, wenigstens nicht in London und nicht meinen Freunden. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass ich mich in jemanden verliebe, dass wir zusammenleben – was ich bisher noch nie getan habe – und ein Kind haben. Aber wo soll ich diesen Kerl im Moment treffen? Es herrscht eine Pandemie, die Wohnung ist mein Büro. Ich könnte mich höchstens in den Briefträger verknallen.