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Wie der Podcast Paardiologie meine Wahrnehmung von Charlotte Roche veränderte

Popkultur

Wie der Podcast Paardiologie meine Wahrnehmung von Charlotte Roche veränderte

Nach 24 Folgen fühlt sich Claudia Senn wie eine ernüchterte Honeymoonerin: Sie weiss noch, warum sie Roche mag. Aber sie kennt jetzt auch deren Schattenseiten.

Ist es eine gute Idee, die eigene Ehe öffentlich in einem Podcast zu besprechen? Noch dazu, wenn man prominent ist und seit Jahren einen Dauerkrieg mit der Boulevardpresse führt? Ich bin sicher, die Paartherapeutin von Charlotte Roche (41) und ihrem Mann Martin Kess (56), die sie beide nur liebevoll «Dr. Amalfi» nennen, hat ihnen dringend davon abgeraten. Aus PR-taktischer Sicht ist dieser Schritt allerdings genial. Denn was gibt es für «Bild» & Co. jetzt noch zu enthüllen, nachdem die beiden freiwillig vor aller Ohren die Hosen runtergelassen haben? Geheimnisse, die man selbst ausplaudert, fliegen einem seltener um die Ohren. Das hat Roche folgerichtig erkannt. Nach den ersten fünf, sechs Folgen «Paardiologie» war ich hingerissen. Von der schonungslosen Ehrlichkeit und Intimität in den Gesprächen zwischen Charlotte Roche und Martin Kess. Überhaupt von Martin Kess (ein Mann, mit dem man reden kann wie mit einer Frau!). Von der humorvollen Art, die so überhaupt nichts Belehrendes hat. Von der grossen Tragikomödie, die ihrer beider Leben auszumachen scheint. Am interessantesten fand ich nicht so sehr die Sexthemen, stark war «Paardiologie» vielmehr dann, wenn Roche und Kess von den Abgründen ihres Lebens erzählten, «von der ganzen Scheisse, die wir durchgemacht haben», die sie am Ende zu den Menschen gemacht hat, die sie sind: die Alkoholsucht, die sie hinter sich gelassen haben. Die schrecklichen Schuldgefühle bei der Trennung von den früheren Partnern. Die von A bis Z missratene Hochzeit, die vielen verbockten Familienferien, weil die Bedürfnisse einfach nicht zusammenpassen wollten, der Seitensprung von Roche, nach dessen Ende der abservierte Lover damit drohte, zur Presse zu gehen.

Wenn man zwei Menschen so lang zuhört, lernt man sie zwangsläufig kennen, im Guten wie im Schlechten. Nach etwa einem Dutzend Stunden «Paardiologie» begann ich zu ahnen, dass Charlotte Roche manchmal sehr, sehr anstrengend sein kann. Erst waren es die kleinen Dinge, die mich stutzen liessen: dass sie dauernd auf Reisen ist, ihre Koffer nach der Rückkehr aber niemals auspackt, sondern sie einfach irgendwo in eine Ecke pfeffert, bis dort ganze Berge von Koffern liegen. Dass sie ausschliesslich Musik hört, die sie körperlich aufpeitscht. Dann kam jene Folge Anfang September, in der Roche nur noch ein Schatten ihrer selbst war, gerädert und ausgewrungen wie ein nasser Lappen, weil sie sich in den Tagen zuvor für eine bescheuerte Unterhaltungssendung zwei Titanhaken durch die Rückenhaut jagen liess und mit einem daran befestigten Bungee-Seil von einer Brücke in Russland gesprungen war. Wer tut so was? Freiwillig? Und vor allem: warum? Ihr Mann warf ihr vor, stets krasser als alle anderen sein zu wollen und für ein bisschen Anerkennung alles zu opfern, auch die Rücksicht auf Partner und Familie. Roche widersprach nicht. «Vielleicht bedeutet die Tatsache, dass du jetzt in so einem desolaten Zustand bist, solche Dinge in Zukunft besser nicht mehr zu tun», sagte Kess. «Auf keinen Fall», antwortete Roche. Ich war sehr froh, dass nicht ich mit ihr verheiratet bin.

Die beiden ritten sich immer tiefer in eine Beziehungskrise. Sie war dauernd auf Reisen. Er versuchte, zu ihr durchzudringen. Sie zickte rum. Dr. Amalfi musste konsultiert werden. Dann endlich eine Annäherung. Doch kaum flammten wieder romantische Gefühle auf, klatschte Roche begeistert in die Hände wie ein Kind und verkündete, sie wolle nun endlich mal Tinder ausprobieren. «Au ja, Martin, lass uns das machen! Einfach mal gucken, was geht!» Martin Kess, wie immer die Stimme der Vernunft, wollte nicht. Er sagte, kaum hätten sie ihr Leben wieder einigermassen im Griff, haue sie ihm mit der Bratpfanne auf den Kopf und stürze ihn ins nächste moralische Desaster. «Du sprichst immer davon, dass du so gern Ruhe hättest. Aber wenn du dann mal Ruhe hast, hältst du es nach spätestens drei Stunden nicht mehr aus.» Hindern an Tinder konnte er sie selbstverständlich nicht. In der Woche darauf war er krank, ein noch nicht näher bestimmter Parasit, vermuteten die Ärzte. «Kann es sein, dass ich der Parasit bin?», fragte Roche, die nun plötzlich sehr in Sorge war. Eine interessante Frage. Nach 24 Folgen «Paardiologie» geht es mir mit Roche wie einer ernüchterten Honeymoonerin: Ich weiss noch, warum ich diese so schillernde und unkonventionelle Frau einmal toll fand. Aber jetzt, wo ich auch ihre Schattenseiten kenne, merke ich, dass vieles bloss Projektion war. Dass sie bei all ihren Qualitäten auch eine ausgesprochen neurotische Frau ist. Ob sie diese Wirkung ihres Podcasts wohl miteinkalkuliert hat?

«Paardiologie» läuft auf Spotify. Jeden Samstag gibt es eine neue Folge