Where We Belong: Wie Kinder mit Trennungen umgehen
- Text: Mathias Heybrock; Fotos: Flavio Leone
Im berührenden Dokumentarfilm «Where We Belong» erzählen Kinder, wie sie die Trennung der Eltern erlebten. Die Zürcher Regisseurin Jacqueline Zünd (48) über die Dreharbeiten, starke Emotionen bei der Premiere – und ihren Rat an betroffene Eltern.
Carleton zögert, nimmt sich einen Moment Zeit. «Nein», sagt der 14-Jährige dann, der nach der Trennung der Eltern mit seiner Schwester in einem Heim lebt. Nein, einen Fehler würde er das Verhalten der Eltern nicht nennen. «Eher eine harte Schule. Sie haben uns auf ihre Art gezeigt, wie man durchs Leben kommt.» Der Bub aus Basel ist eines der fünf Trennungskinder, die die Zürcher Regisseurin Jacqueline Zünd in ihrem exzellent gestalteten Dokumentarfilm «Where We Belong» porträtiert. Sie zeigt die Kinder in Alltagssituationen, in vertrauten Momenten. Beim Spass-Haben. Beim Tanzen. Carleton und seine Schwester sind fantastische Tänzer. Lässig, fast schwerelos bewegen sie sich im Raum. Als schüttelten sie den immensen Druck aus dem Körper, der im Kontakt mit dem Vater oft herrscht. Dann wieder schaut Jacqueline Zünd ihren Protagonisten direkt ins Gesicht. Die Kinder sitzen vor der Kamera und beschreiben, wie sie die Trennung erlebten – und es trifft einen ins Herz. Die Erzählungen sind einfach und klar, sachlich, ohne Groll. Aber dahinter kommt auch die Traurigkeit zum Vorschein, die erlittene Not, der Verlust.
annabelle: Jacqueline Zünd, wie kam dieses Thema zu Ihnen?
Jacqueline Zünd: Die grundlegende Motivation war, dass mein Sohn selbst an zwei Orten aufgewachsen ist – sein Vater und ich haben uns relativ früh getrennt. Ich dachte dann, dass es an der Schule meines Sohnes ausser ihm keine anderen Trennungskinder gibt. Bis ich irgendwann merkte: Das stimmt gar nicht. Die tun nur nach aussen so, als seien sie noch zusammen.
Das Phänomen kenne ich: «Wusstest du, dass die seit Jahren getrennt sind», meinte kürzlich jemand zu mir über ein Paar mit drei Kindern. Wusste ich nicht.
Andere Länder gehen viel offener damit um. Frankreich zum Beispiel, auch die skandinavischen Länder. Bei uns ist es erstaunlicherweise immer noch schambelastet. Darüber reden tun oft nur die Rechtsanwälte und Psychologen. Kinder kommen dabei selten zu Wort. Und wenn, dann auf völlig abstruse Weise.
Nämlich wie?
Als wir uns damals trennten, bekam mein 10-jähriger Sohn Post vom Gericht. Das ist Standard, die schreiben alle betroffenen Kinder an. Sie informieren über die Möglichkeit, sich zu melden, falls sie mit der Situation nicht zufrieden sind. Da stand dann eine Telefonnummer, wo sich das Kind melden könnte. Doch das komplizierte Behördendeutsch dieses Schriftstücks hab sogar ich kaum verstanden. Die Absicht dahinter mag gut sein, die Art ist völlig absurd!
«Mich hat es sehr berührt, wie stark
sich die Kinder um das Wohl der
Eltern kümmern»
Sie machen es anders. Sie schaffen eine Atmosphäre, in der die Kinder gern und eindrücklich erzählen.
Ich stellte bald fest, dass es für ein gutes Gespräch mit den Kindern genau dasselbe braucht wie bei Erwachsenen: Man muss ihnen bloss gut zuhören und offen sein. Bei den Kindern fesselte mich nicht nur, was sie sagten, sondern auch wie viel man aus ihren Gesichtern lesen kann.
Jacqueline Zünd: «Für meinen Film habe ich mich auf die schwierigen Fälle konzentriert»
Wie haben Sie die Kinder gefunden?
Von Thomas, dem Bub aus der Landwirtschaft, hat eine Kollegin mir erzählt. Auf Carleton und Sherazade, die Geschwister aus Basel, hat mich eine Sozialarbeiterin aufmerksam gemacht. Die Zwillinge Alyssia und Ilaria habe ich über eine Westschweizer Institution kennengelernt, die Kindern bei der Verarbeitung von Tod und Trennung hilft. Genau diese Kombination. Spannend, oder?
Carleton beschreibt, wie er unter seinem dominanten Vater litt – fügt aber sofort an, der habe es als Kind eben auch nicht einfach gehabt. Das tönt wahnsinnig reif. Werden Trennungskinder schneller erwachsen?
Carleton wirkt wirklich sehr weise. Ich denke, es hat auch damit zu tun, dass er im Heim das Angebot zur Gesprächstherapie hat und allgemein im Heim viel diskutiert und ausgesprochen wird. Daraus fliessen wohl Erkenntnisse ein.
Die Geschwister Carleton und Sherazade leben seit der Trennung ihrer Eltern im Heim.
Die Zwillinge fragen sich einmal, ob sie die Trennung ihrer Eltern hätten verhindern können. Sherazade bereut, dass sie sich von ihrem Vater hat manipulieren lassen. Da ist viel Schuldgefühl bei den Kindern, das da eigentlich nicht hingehört.
Das stimmt. Mich hat es sehr berührt, wie stark sich die Kinder um das Wohl der Eltern kümmern. Aber ich denke, das ist wohl bei Kindern von nicht getrennten Eltern auch so.
Sind Trennungsgeschichten Leidensgeschichten?
Ich bin der Meinung, dass das nicht zwangsläufig so sein muss. Ich finde, die Kinder leiden vor allem dann, wenn zu viel gestritten wird – ob die Eltern nun zusammen sind oder nicht. Und auch, wenn sie merken, dass die Eltern unglücklich sind. Du kannst deinem Kind doch kein gutes Vorbild sein, wenn du nicht selbst glücklich bist.
«Kinder leiden vor allem dann, wenn
zu viel gestritten wird – ob die Eltern
nun zusammen sind oder nicht»
Wie verhindert man dann das Leiden der Kinder?
Die Erfahrung mit meinen Protagonisten zeigt mir, dass es stark drauf ankommt, wie die Eltern die Trennung handhaben. Vielen gelingt das leider nicht so gut. Ich habe bei der Recherche heftige Sachen gehört und gesehen. Zum Beispiel Eltern, die sich nicht einmal mehr von Weitem sehen können und deren Kinder deswegen bei der Übergabe am Bahnhof durch eine Art Schleuse müssen. Unglaublich traurig so etwas. Aber genauso gibt es Fälle, wo die Trennung bei den Kindern kaum Spuren hinterlässt. Deren grösster Konf likt ist dann vielleicht, dass sie beim Vater nicht ganz so lang gamen dürfen wie bei der Mutter. Sonst vermissen sie nichts. Das ist natürlich wunderbar – aber für meinen Film habe ich mich auf die schwierigen Fälle konzentriert. Der Mensch ist bekanntlich dem Drama zugeneigt.
Where We Belong: Alyssia und Ilaria aus der Westschweiz geraten bei den Erzählungen zur Trennung der Eltern fast in einen kleinen Streit.
Wie haben die Eltern der Kinder auf Ihr Anliegen reagiert?
Ich hatte Glück bei den Eltern meiner Protagonisten. Sie hatten von Anfang an grosses Vertrauen. Sie waren bei den Dreharbeiten ja auch dabei, gelegentlich sieht man sie vor der Kamera. Am meisten hat mich die Mutter der Zwillinge berührt, die sofort ihr Okay gab. «Jetzt ist es an der Zeit, zuzuhören», sagte sie einfach.
Bewundernswert. Gerade, weil auch sie ja nicht nur gut wegkommt.
Wieso?
Die Zwillinge erzählen, dass die Mutter dem Vater Betrug vorgeworfen, aber selbst betrogen hat.
Interessant, das habe ich anders wahrgenommen. Die Zwillinge erzählen unterschiedliche Versionen, geraten darüber fast in einen kleinen Streit. Für mich zeigt das eigentlich, dass die Schuldfrage, die Frage, wer angefangen hat, sinnlos ist.
Wie haben die Eltern reagiert, als sie «Where We Belong» sahen?
Das war an der Berlinale. Ein voller Saal, 800 eher junge Leute, alle begeistert und elektrisiert, das macht schon auch stolz. Und dann sehen und hören die Eltern im Film ja, wie wichtig den Kindern noch immer die Verbindung zu ihnen ist. Und was für coole Kids sie haben – Sherazade bekam einmal Szenenapplaus. Es war für die Eltern einerseits bestimmt schwer, diese intimen Geschichten zu sehen und zu hören. Andererseits denke ich, dass die heilende Wirkung überwog.
Wirklich?
Eigentlich sind fast alle durch die Dreharbeiten, die erneute Auseinandersetzung, wieder näher zusammengerückt. Am deutlichsten die Eltern der beiden Zwillinge. Die sind beide nach Berlin gekommen, zusammen mit Freunden.
Im Abspann danken Sie Ihren Eltern. Sind die noch zusammen?
Ja. Das sind sie.
Gewidmet ist der Film Ihrem 16-jährigen Sohn. Wie hat er auf ihn reagiert?
Er hat ihn einfach geschaut und dann gesagt: Wow!
«Where We Belong»: Ab 14. November im Kino