Wo gelingt Digital Detox am besten? In der Bibliothek, findet Redaktorin Stephanie Hess.
Es ist Detox-Saison. Nach der Pandemie, in der wir so oft in virtuellen Räumen sassen, weit oben auf der Entgiftungsliste: Digital Detox. Doch wo finden wir sie nur, eine wirkliche Auszeit vom Netz, wo tauchen wir ein in eine behaglichere Gegenkultur? Beim Waldbaden, im Yoga-Retreat, in der Berghütte ohne WLAN?
Als ich letzthin meine Eltern besuchte im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und an der Gemeindebibliothek vorbeifuhr, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mit so viel gedruckten Worten, raschelnden Tageszeitungen, kellerfüllenden Archiven bilden Bibliotheken den ziemlich exakten Gegenpol zum World Wide Web. Zwar ist ihr Zweck derselbe; beide sind Orte der Unterhaltung, der Information, der Dokumentation. Und doch unterscheiden sie sich grundlegend: Was im Internet schrill ist, flüchtig und ungeordnet, ist in der Bibliothek bedacht, ausgewählt, von Dauer. Und durchdrungen von Ruhe.
Einen milderen Zugang zur Welt
Anders als das Yoga-Retreat oder die abgelegene Berghütte hat sich die Bibliothek nicht der Abkehr von der Welt verschrieben. Aber sie ermöglicht einen bedeutend milderen Zugang zu ihr. Im Grunde ist sie das Ur-Internet, wenn man so will, zumindest war sie das für mich.
Als Primarschülerin verabredete ich mich in der Dorfbibliothek mit Freundinnen, wir streiften stundenlang durch die Regale, und manchmal traf ich den Jungen, in den ich verliebt war, bei den Videokassetten. Ich blätterte mich mit heissem Kopf durch die Aufklärungsbücher. Ich war nicht die Einzige; ständig soll sie meine Mutter, die dort arbeitete und mir die Liebe zum Lesen vererbte, in einem falschen Regal gefunden haben – vermutlich überstürzt irgendwo reingestopft.
Meine Ausleihliste war zusammengewürfelt wie ein Google-Suchverlauf: Abenteuerromane, Bastelanleitungen, Comics, alles über das Mittelalter und süsse Meerschweinchen, irgendwann Jugendbücher mit dramatischen Titeln wie «Ulla, 16, schwanger» oder «Reto – HIV positiv», alles über Tarot, die Hippiezeit und immer wieder die Bestof-Reggae-CD.
Später Liebesromane, Krimis, internationale Magazine, irgendwann Literatur. Bibliotheken sind als Institutionen maximal unaufgeregt. Sie kommen kaum in den News vor, eignen sich schlecht für Insta-Stories. Pomp und schickes Design findet man hier kaum. Die Böden sind oft mit Gummibelag bezogen, die Regale einfache Metallkonstruktionen. Bibliotheken sind «Buchbehälter», so lautet die wörtliche Übersetzung der aus der Antike stammenden Bezeichnung. Und doch viel mehr.
Mich durchströmt Sehnsucht
Sie sind ein Ort, der hundert Fenster zur Welt aufreisst. So viele offene Fenster wie im Browser meines Smartphones, die mich allesamt flattrig machen. Wenn ich eine Bibliothek betrete, macht sie mich nicht nervös. Mich durchströmt nur Sehnsucht. All diese vielen Geschichten, diese anderen Realitäten. Eine Bibliothek war immer auch ein Ort, der versprach, dass es etwas ausserhalb dieses Dorfes, dieses Lebens gibt.
Womöglich bieten Bibliotheken also genau das: eine Gegenkultur zum Leben, das wir gerade führen. Eine andere Wirklichkeit zum Ausleihen. Und damit ein ständig verfügbares und sehr günstiges Detox-Programm.