«Anonymous», der Film zum Verwirrspiel um die wahre Identität des Dichtergotts Shakespeare.
Als wärs ein Stück von ihm: Seit mehr als 200 Jahren rätseln Kenner über die wahre Identität des Dichters. Jetzt auch im Kino.
Sie kreuzten ihre Schwerter bereits Monate vor der Premiere. Auf der offiziellen Website von «Anonymous», dem neusten Film von Blockbuster-Regisseur Roland Emmerich, hinterlegten Shakespearekenner ihre Kommentare. Ja, er wars! Nein, er wars nicht! Stratfordianer gegen Oxfordianer. Leute, die keinen Zweifel haben, dass William Shakespeare der aus einfachen Verhältnissen stammende Schauspieler aus Stratford-upon-Avon war, wie es offiziell in den Lexika steht. Und Leute, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sich dahinter ein hochintelligenter, aber etwas unglücklicher Adliger versteckt: Edward de Vere, der Earl of Oxford, der Protagonist in Emmerichs Kostümfilm.
Alle diese Kenner zücken in ihren Gefechten stets gewichtige Argumente. Sie zitieren Fakten aus den jeweiligen Leben, interpretieren die Werke, argumentieren mit Erkenntnissen aus der Geschichte Englands. Und (fast) alles, was geschrieben wird, ist stringent und macht sehr viel Sinn. Als unvoreingenommener Leser neigt man dazu zu glauben, dass es nicht anders sein kann. Bis ein Gegner dieser Theorie im nächsten Forumsbeitrag entgegenhält: «Zeig mir den Beweis!»
Das ist fies, aber immer schlagend. Denn es gibt ihn nicht, den Beweis. Das macht das Mysterienspiel erst möglich. Und es wundert nicht, dass sich illustre Querdenker wie Sigmund Freud, Mark Twain oder Charlie Chaplin in die Diskussion einmischten.
Trotzdem erstaunt es, dass sich nun ausgerechnet ein Mann fürs Grobe wie Emmerich des komplexen Themas angenommen hat. Doch für den «Spielbergle aus dem Schwabenländle» («Spiegel») war es nur ein logischer Schritt. Nach seinem letzten Film «2012», den er als «Mutter aller Zerstörungsfilme» bezeichnet, blieb schlicht nichts mehr übrig, das er mit seiner ausgeklügelten Tricktechnik hätte wegpusten können. Also entschied er sich, mal ganz etwas anderes zu machen. Und zugleich blieb er sich treu: Die Provokation, sagt Emmerich, gehöre zu seinem Naturell. «Ich mag Geschichten, bei denen ich weiss, dass sich viele Leute ärgern werden.»
«Es gibt so viele heilige Kühe zu schlachten, dass man gar nicht weiss, wo anfangen»
Emmerich provozierte bereits an der Filmhochschule mit dem absolut teuersten Abschlussfilm (1.2 Mio. DM). Er provozierte die intellektuelle Heimat mit blindwütigem Nonsens für die Massen. Er provozierte das Establishment Hollywoods mit seinem perfekten Instinkt für Kassenschlager. Und jetzt provoziert er die Hüter der Lehrbücher mit seinem unverkrampften Zugriff auf historische Fakten. Emmerich: «Bei diesem Film gibt es so viele heilige Kühe, die man schlachten kann, dass man gar nicht weiss, wo anfangen.» Und prompt durfte er dann auch schon vor der Premiere die Proteste von ehrwürdigen Gelehrten ernten. Sie ärgern sich, wie der Deutsche den Dichtergott, die Virgin Queen oder das hochheilige Königreich darstellt. Nämlich so wie einen Zyklon: Immer ganz schön verdreht.
Das Verwirrspiel um die Identität Shakespeares begann im 18. Jahrhundert, also fast 200 Jahre nach seinem Ableben. Zwar gibt es Dokumente aus der Zeit des Dichters, die Zweifel an seiner Identität erlauben. Doch es sind rare und indirekte Anspielungen. Selbst James Wilmot, ein gelehrter Geistlicher, schüttet 1781 mit seiner Shakespeare-Biografie zwar Öl ins Feuer der Mutmassungen, doch auch er fand auf seiner Suche nach Quellen, Briefen, Büchern, die mit Shakespeare in Verbindung gebracht werden können, erschreckend wenig. Was wir heute, 230 Jahre später, wirklich über das Genie wissen, passt auf ein Blatt Papier.
Wer war Shakespeare? Lange Zeit galt Francis Bacon als Alternativanwärter auf den höchsten Thron der Dichtkunst. Als Wissenschafter, Philosoph, Höfling, Essayist, Historiker und einflussreicher Politiker besass er alles, was dem anderen (vermeintlich) abging. Bis auf das wichtigste: Bacon schrieb spröde.
Im Verlauf der Jahre tauchen stets neue Namen auf, die hinter dem Dichternamen stecken könnten: Der bekannteste dürfte Edward de Vere sein, der 17. Earl of Oxford, der länger in Venedig gelebt hatte. De Vere war ein gebildeter Theaterfreund, Poet und intimer Kenner der elisabethanischen Hofkultur. Nur so einer, sagen seine Lobbyisten, könne so kenntnisreich über alle Aspekte des damaligen Lebens schreiben, wie es Shakespeare tat.
Beide Lager lieben es, der Gegenseite Arroganz vorzuwerfen. Die Stratfordianer halten es für schändlich, einem Mann aus der Unterschicht abzusprechen, ein Genie sein zu können. Und die Antistratfordianer werfen den Gralshütern vor, sich in einem Elfenbeinturm zu verschanzen. Die Gilde der etablierten Wissenschafter beobachtet die Debatte aus sicherer Distanz und macht sich gern über die «Verschwörungstheorien» lustig. Auch Bestsellerautor Bruce Bryson, der eine der geistreichsten Biografien über Shakespeare geschrieben hat, verfährt so. Als annabelle mit ihm sprechen möchte, lässt er ausrichten: «Die Antworten auf alle Ihre Fragen finden Sie in meinem Buch.»
Die Vehemenz, der Witz, die Schlagfertigkeit, mit denen argumentiert wird, gibt der Diskussion grossen Unterhaltungswert. Doch für jene, die mit dem Vermächtnis Shakespeares arbeiten, ist es
nur viel Lärm um Nichts. Für ihre Arbeit am Theater sei die Urheberfrage «unerheblich», sagt etwa Barbara Frey, die als Intendantin des Zürcher Schauspielhauses Anfang nächstes Jahr «Richard III.» aufführen wird (siehe Interview im Dossier). Interessiert zeigt sie sich indes an der Frage, wes Geistes Kind sich dahinter versteckt: «Shakespeare war ein belesener, höchst aufmerksamer Beobachter. Daraus entstanden seine unglaublichen Figuren für die Theaterbühnen der Welt.» Eines sei sicher: «Wer immer dieser Dichter war – er war gigantisch.»
Shakespeare als Blockbuster
Obschon Roland Emmerich laut eigenen Aussagen mit den Werken Shakespeares nichts anfangen konnte, entpuppt sich der Meister der Blockbusterkelle als geschickter Erzähler des geheimnisumwitterten Künstlerlebens.
«Anonymous» von Roland Emmerich. Mit Rafe Spall als Shakespeare, Vanessa Redgrave als Queen Elisabeth I und Rhys Ifans als Earl of Oxford.