The Last Dinner Party sind grosses Rock-Drama: «Wir haben uns selbst die perfekte Band ausgedacht»
- Text: Torsten Gross
- Bild: Leonn Ward
Man ist sich einig: The Last Dinner Party ist die heisseste Band des Jahres. Ein Gespräch mit echten Rockstars.
An einem Freitagabend im schmutzignassen Berliner Februar stehen Abigail Morris, Emily Roberts, Lizzie Mayland, Georgia Davies und Aurora Nishevci am Bühnenrand und warten auf das Ende der Ouvertüre. Es läuft das Orchesterstück «Prelude to Ecstasy», welches auch das gleichnamige erste Album eröffnet, mit dem die fünf Freundinnen aus London aktuell gleich reihenweise vermeintliche Regeln der Musikbranche auf den Kopf stellen.
Ihre Band The Last Dinner Party ist der aufregendste Newcomer des Jahres, obwohl sie so ziemlich für alles steht, was im Pop zuletzt für niemanden unter fünfzig mehr eine Rolle zu spielen schien: Sie sind eine Band, sie machen im weitesten Sinne Rockmusik, sie spielen Gitarren, sie performen nicht zum Backing-Track, sondern live.
Dennoch stehen im Berliner Club Gretchen an diesem Abend Hunderte junge bis sehr junge Leute mit vor Aufregung und Vorfreude geweiteten Augen und verschwitzt glänzenden Gesichtern. Sie wissen: So intim, in so einem kleinen Club wird man The Last Dinner Party wohl nie wieder erleben dürfen.
«the year’s most hyped band»
Das Konzert ist schon ewig angekündigt, die Leute haben ihre Tickets gekauft, als The Last Dinner Party lediglich eine von vielen interessanten neuen Indie-Bands zu sein schienen. Nun beschreibt der britische «Guardian» sie als «the year’s most hyped band», grössere Hallen sind für die nächste Tour längst gebucht. So wird der Abend in Berlin zum exklusiven Event, in der Branche nennt man so etwas Underplay.
Das Tempo, mit dem sich die Band ganz nach oben spielte, ist wahrlich rasant: Nachdem sie sich am Londoner King’s College kennengelernt hatten, spielten The Last Dinner Party am 29. November 2021 ihr erstes Konzert im Londoner «The George Tavern» und waren auf einen Schlag die heisseste Band der Stadt. Bald darauf waren sie beim selben Management, das auch Metallica, die Red Hot Chili Peppers und Muse betreut, traten im Vorprogramm der Rolling Stones auf, unterschrieben einen Plattenvertrag beim Branchenriesen Universal Music.
In Zahlen: Vor zweieinhalb Jahren folgten ihnen 500 Leute auf Instagram, heute sind es knapp 300 000. Als «Prelude To Ecstasy» dann vor einigen Wochen endlich erschien, stieg das Album in den britischen Charts auf Platz eins und in der Schweiz auf Platz zehn ein.
«I’m only here for your entertainment», stand in grossen Lettern auf dem mit der Stylistin Rubina Vita Marchiori zusammengebastelten Kleid, das Abigail Morris bei den diesjährigen Brit Awards trug. Die Band wurde dort in der Kategorie Rising Star ausgezeichnet. Entertainment ist tatsächlich ihre Mission, das wird auch in Berlin schnell klar: Es geht damit los, dass The Last Dinner Party im «Gretchen» nicht einfach auf die Bühne kommen, sondern sie schreiten, ja stolzieren regelrecht.
Vom ganzen Saal getragen
Im Stil aller grossen Frontleute sucht Abigail Morris vom ersten Ton an mit Blicken und Gesten den Kontakt zum Publikum, sie steht direkt da vorne bei den Leuten, ihren Leuten, in diesem weissen, weiten Rock und dem schwarzen Top. Sie steht da wie in einer Brandung und müsste eigentlich gar nicht singen, weil jeder Song von der ersten bis zur letzten Zeile vom ganzen Saal getragen wird.
Die Ästhetik ist selbst ausgedacht
So könnte dieser Text weitergehen. Als eine Erzählung, wie man sie von den Arctic Monkeys oder anderen Indie-Bands kennt, die aus dem Nichts zu Superstars wurden. Der Unterschied, natürlich: The Last Dinner Party sind Frauen. Und da wir offenbar immer noch zumindest teilweise in einer Welt leben, in der bereits diese simple Tatsache den Erfolg der Musikerinnen für manche verdächtig macht, wurde ihnen bald überall vorgeworfen, ein künstlich gehyptes Industrieprojekt zu sein. Nichts spricht für diese These.
Aurora Nishevci hat an der Guildhall School of Music & Drama Komposition und klassisches Piano studiert, Emily Roberts an derselben Schule Jazzgitarre, die anderen haben seit Jahren in Bands gespielt. Ihren wilden Mix aus Romantik, Tudor, Rokoko, Renaissance, dem viktorianischen England, der Ästhetik einer Sofia Coppola, der Lyrik von Sylvia Plath und der Musik von Florence + the Machine, Kate Bush, Fleetwood Mac, Siouxsie and the Banshees und Abba haben Abigail Morris und Georgia Davies sich in nächtelangen Gesprächen selbst ausgedacht. Aber es gibt offenbar immer noch eine Menge Leute, die sich nicht vorstellen können, dass fünf Frauen ganz ohne männliche Hilfe zu so etwas in der Lage sind.
Dabei könnte alles so einfach sein. Man muss sich diese Band nur auf der Bühne ansehen. Oder mit ihnen sprechen: Bereits im Interview ist Abigail Morris auf charmante Weise theatralisch, sie spricht mit dramatischem Tremolo, ihre Stimme überschlägt sich beinahe, Georgia Davies und sie sind euphorisch, ergänzen die Sätze der anderen, lachen viel.
annabelle: Sie haben sich am Londoner King’s College kennengelernt und damit eine britische Pop-Tradition wiederbelebt. Auch Blur, Coldplay oder Radiohead waren zunächst Studentenbands.
Abigail Morris: I started this band! (lacht) Zuerst haben Georgia und ich uns kennengelernt, dann haben wir Lizzie getroffen, später kamen Emily und Aurora dazu. Wir gingen oft zusammen auf Konzerte. Leider spielte nie die Band, die wir wirklich gerne gesehen hätten, also standen wir nächtelang in Raucherecken von irgendwelchen Pubs und haben uns einfach selbst die perfekte Band ausgedacht.
Eher untypisch für Ihre Generation: Das Modell der Rockband ist eigentlich etwas aus der Mode gekommen.
Morris: Ich glaube aber, dass es jetzt wiederkommt, wir sind Teil einer grossen Rockband-Renaissance. Nach der langen Pandemiezeit haben die Leute ein Bedürfnis nach dieser Art von Gemeinschaftserfahrung. Die Figur des Bedroom-Producers hat sehr gut in die Zeit vor und während Covid gepasst, nun wollten die Leute Live-Musik sehen, bei der echte Menschen echte Instrumente spielen.
Ihre Bandgründung fiel in den Beginn der Pandemie, dadurch konnten Sie ewig nicht auftreten. Wie haben Sie die Zeit genutzt?
Georgia Davies: Indem wir endlos Auftritte und Videos von Leuten wie Queen oder David Bowie analysiert haben. Wir waren regelrechte Classic-Rock-Studentinnen, haben jede Pose, jede Ansage, jeden Move aufgesogen.
Morris: Bereits unsere halbe Kindheit bestand aus Rockstarträumen, nun haben wir Moodboards erstellt und uns genau überlegt, was wir machen wollten. Mir ist klar, dass das womöglich ein bisschen prätentiös wirkt, aber das sind wir nun einmal: prätentiös. Mit einem kleinen Augenzwinkern vielleicht.
Ihre Konzerte wirken perfekt durchchoreographiert, als hätten Sie nie etwas anderes getan. Wird Ihnen auch deshalb vorgeworfen, ein gemachtes Industrieprodukt zu sein?
Morris: Damals gab es noch gar keine Industrie, da waren nur wir fünf, sonst war da niemand. Wir hatten 500 Instagram-Follower.
Sie haben Komposition, Kunst, englische Literatur, Geschichte studiert. Es wirkt, als hätten Sie sich bereits in der Wahl Ihrer Studienfächer auf The Last Dinner Party vorbereitet.
Morris: Absolut, sehr gut erkannt.
Davies: Ich habe meinen Master über viktorianische Schauerliteratur geschrieben, das hat jedenfalls nicht geschadet. (lacht)
Gab es in dieser ganzen Vorbereitungszeit so etwas wie diesen einen Moment, an dem Sie gemerkt haben: Das ist es, hier ist die Magie, jetzt kommt alles zusammen?
Davies: Das Besäufnis!
Morris: Stimmt. Gott, waren wir betrunken!
Klingt interessant …
Morris: Wir hatten damals geprobt, geprobt, geprobt und irgendwann endlich unseren ersten Gig gebucht. Ungefähr eine Woche vorher standen wir im Proberaum und es lief überhaupt nicht, wir waren total verkrampft. Also sagten wir: Lasst uns ins Pub gehen und ein paar Pints heben. Anschliessend kamen wir fröhlich zurück in den Proberaum – und plötzlich lief alles wie von selbst.
Davies: Wir hatten uns ein bisschen zu sehr unter Druck gesetzt, wollten einfach zu perfekt sein. Das Bier hat uns aufgelockert.
Morris: Seitdem treten wir aber nur noch nüchtern auf. Mein Rat an junge Künstler:innen: nüchtern bleiben. Dennoch war das ein schönes kleines Experiment damals.
Alkohol hätte womöglich geholfen, als Sie wenige Monate nach Gründung im Vorprogramm der Rolling Stones im riesigen Hyde Park gespielt haben. Haben Sie die Stones getroffen?
Morris: Leider nicht. Sie haben ihren eigenen Backstage-Bereich und sind sehr gut abgeschirmt.
Davies: Sie geben sich nicht mit dem Pöbel ab. (lacht)
Ich bin mit der österreichischen Band Bilderbuch befreundet …
Morris: Oh mein Gott, ich liebe Bilderbuch! «Schick Schock», was für eine grossartige Platte, richte bitte viele Grüsse aus!
Jedenfalls sind Bilderbuch auch vor den Rolling Stones aufgetreten. Sie haben mir danach erzählt, dass der Laufsteg für Mick Jagger reserviert war. Sie wurden deutlich ermahnt, die entsprechenden Markierungen auf keinen Fall zu übertreten. Gab es bei euch auch solche Vorgaben?
Morris: Oh ja, mein Gott, absolut: «Übertretet diese Linie und wir ziehen direkt den Stecker», hiess es vorher, «dann bekommt ihr euer Geld nicht.» Ich habe dann demonstrativ einen Fuss über die Markierung gesetzt. Es ist nichts passiert.
Die meisten Songs auf dem Album handeln auf die eine oder andere Weise von Beziehungen, Liebe, gebrochenen Herzen. Warum ist die Liebe das zeitloseste Popsong-Thema überhaupt?
Morris: Weil es einfach so ist! Es ist das interessanteste Thema. Die ganze Geschichte der Welt basiert auf Liebe und Verrat. Es ist einfach fesselnd und wahnsinnig spannend, über Intimität, Verlust, Lust, Liebeskummer zu schreiben. Ab und zu schreibe ich auch mal über andere Dinge, aber eher selten.
Liebe und ihre Bedingungen werden von jeder Generation neu verhandelt. In Ihrem bislang grössten Hit, «Nothing Matters», singen Sie unter anderem: «And I will fuck you like nothing matters». Für TV-Auftritte in den USA musste die Zeile zensiert werden.
Morris: Eine Frau, die beim Sex aktiv ist, scheint für viele immer noch eine grosse Sache zu sein. Aber nicht mit mir, ich drehe den Spiess um. Jetzt bin ich mal dran!
Neben der Liebe kommen auch andere zeitlose Topoi des Rock’n’Roll vor, Autos und Motorräder zum Beispiel.
Morris: So siehts aus. Schlampen, verdammte Autos und Motoren, das ist mein Ding, Mann! (lacht)
The Last Dinner Party: Prelude to Ecstasy (Island Records)