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Shiori Itō über preisgekrönten Dokfilm: «Ich musste meine eigene Vergewaltigung nachstellen»
- Text: Manuela Enggist
- Bild: Oliver Abraham
Die Japanerin Shiori Itō wurde vergewaltigt. Mit dem Dokfilm «Black Box Diaries» über ihren Fall will sie die japanische Gesellschaft aufrütteln – und gewann am Zurich Film Festival gleich zwei Preise. Wir haben sie zum Gespräch getroffen.
Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt
Am Abend des 3. April 2015 trifft Shiori Itō, Praktikantin bei einem Medienunternehmen, Noriyuki Yamaguchi in einem Restaurant. Yamaguchi ist damals Leiter des Washingtoner Büros beim japanischen TV-Sender Tokyo Broadcasting System. Eine einflussreiche Persönlichkeit in Medien und Politik, befreundet mit dem damaligen Premierminister Shinzō Abe.
Shiori Itō glaubt, dass es sich um ein Vorstellungsgespräch handelt. Das Letzte, woran sie sich an diesem Abend erinnern wird, ist, dass sie sich im Badezimmer heftig übergeben musste. Am nächsten Morgen erwacht sie in einem Hotelzimmer, während Noriyuki Yamaguchi sie vergewaltigt. Shiori Itō ist damals 25 Jahre alt. Sie zeigt Noriyuki Yamaguchi an.
Neun Jahre nach der Tat geht ihr Fall um die Welt
Im Verlauf der Ermittlungen zieht die Polizei einen erlassenen Haftbefehl zurück und die Staatsanwaltschaft stellt das Strafverfahren ein. Später wird Shiori Itō vor einem Zivilgericht schliesslich Recht bekommen. Yamaguchi hingegen bestreitet bis heute, für das, was zwischen ihnen passiert sei, strafrechtlich verantwortlich zu sein.
2017 hält Itō eine Pressekonferenz ab, um ihre Geschichte öffentlich zu machen. Im selben Jahr publiziert sie das Buch «Black Box» über ihren Fall und die japanische Rechtslage. Parallel beginnt sie, die Geschehnisse mit der Kamera zu dokumentieren; filmt sich in Gesprächen mit Anwält:innen und beim Versuch, den Polizeichef zu interviewen, sowie in Momenten, in denen sie allein ins Handy spricht. Entstanden ist der Dokumentarfilm «Black Box Diaries», bei dem Itō nicht nur Protagonistin, sondern auch Regisseurin und Co-Produzentin ist.
Ihren Wohnsitz hat Shiori Itō, heute 35 Jahre alt, derzeit in Berlin. Aber dieses Jahr lebt sie aus dem Koffer, um ihren Film auf der ganzen Welt vorzustellen. Ob sie je wieder in Tokio leben wird? Darauf hat Shiori Itō heute keine Antwort.
annabelle: Shiori Itō, Sie präsentieren Ihren Film derzeit in der ganzen Welt. Wie reagiert das internationale Publikum auf Ihre Geschichte?
Shiori Itō: Für viele Menschen ist es schockierend zu realisieren, dass Japan so rückständig ist, wenn es um Frauen geht. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist in Japan noch immer ein Tabu. Wir Japaner:innen sind geübt darin, bei dieser Thematik nicht allzu genau hinzuschauen.
Weil die Opfer eines Sexualverbrechens in Japan noch immer mit einem Stigma behaftet sind?
Viele Japaner:innen erwarten, dass sich Opfer bedeckt halten, sich gar schämen dafür. Einige Menschen sehen meinen Film als eine Art Kampagne gegen Japan. Wir sind noch immer auf der Suche nach einem Vertriebspartner in Japan, damit meine Dokumentation auch in meiner Heimat in den Kinos laufen kann.
Sie gaben im Jahr 2017 eine Pressekonferenz und machten Ihren Fall damit publik, doch nur wenige nationale Medien berichteten darüber. Ist Japan nicht bereit für diese Geschichte?
Als ich 2017 beschloss, an die Öffentlichkeit zu gehen, tat ich dies in der Hoffnung, neue Beweise zu finden oder vielleicht andere Überlebende zu motivieren, sich zu melden. Ich vermutete, dass der Mann, der mir das angetan hat, dies nicht zum ersten Mal getan hat. Damals war die japanische Gesellschaft nicht bereit dafür. Über Vergewaltigungen wird in der Öffentlichkeit nicht gesprochen, was mir als Opfer damals Schamgefühle bereitete. Viele denken, dass Frauen schweigen und den Schmerz ertragen sollten.
«Viele denken, dass Frauen schweigen und den Schmerz ertragen sollten»
2016 haben Sie Tokio verlassen, um in London ein Buch über Ihren Fall zu schreiben. Entstanden ist «Black Box», ein Werk, in dem Sie nüchtern den Ermittlungsprozess beschreiben und das japanische Gesetz erklären. Wollten Sie bewusst keine Gefühle zeigen?
Aus irgendwelchen Gründen konnte ich meine Emotionen nicht niederschreiben. Ich hatte eine gewisse Distanz zu mir selbst als Opfer. Mit den Jahren, die vergingen, wurde mir klar, dass ich ehrlicher zu mir selbst als Überlebende sein musste. Deswegen ist der Dokumentarfilm sehr intim geworden.
Kurz bevor Sie ins Kreuzverhör müssen, filmen Sie sich selbst am Küchentisch. Sie nehmen eine Nachricht am Telefon auf, bedanken sich bei Ihren Eltern. Dann wird das Bild schwarz. Sie haben versucht, sich umzubringen.
Ich habe damals nicht realisiert, wie schlecht es mir ging. Ich wusste nicht, welche Auswirkungen es auf mich haben wird, dass ich Noriyuki Yamaguchi im Gerichtssaal gegenüberstehen muss. Es hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich habe gezögert, diese Szene zu zeigen, da ich lange dachte, dass ich in der Öffentlichkeit stets stark sein muss. Ich wollte kein schwaches Beispiel sein für all die Menschen, die sich getraut haben, den sexuellen Missbrauch, welchen sie erlebt haben, publik zu machen.
«Ich musste viele Demütigungen erleiden»
Sie sagen, dass die Ermittlungen oft traumatisierend für Sie waren. Wie meinen Sie das?
Ich musste viele Demütigungen erleiden, wie zum Beispiel die Vergewaltigung mit einer lebensgrossen Puppe nachzustellen.
Das war Bestandteil der regulären Ermittlungen?
Ja. Die Polizei sagte: «Wenn Sie eine Anzeige machen wollen, müssen Sie dies tun.» Meine Freundin war mitgekommen, weil ich Angst hatte und Hilfe brauchte. Sie durfte aber nicht im Raum dabei sein, um mir beizustehen. Stellen Sie sich mal vor, dass Sie von männlichen Ermittlern umgeben sind und Ihre eigene Vergewaltigung nachstellen müssen! Das ist einfach nur entwürdigend.
Haben Ihre Eltern «Black Box Diaries» gesehen?
Sie wissen, dass ich den Dokumentarfilm gemacht habe. Aber sie haben ihn noch nicht geschaut.
Im Intro des Films rät Ihre Schwester Ihnen davon ab, mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.
Meine Schwester hatte Angst vor den Online-Drohungen und davor, dass die Assoziation mit mir es ihr schwer machen würde, einen Job zu finden. Sie stand kurz davor, ihren Abschluss zu machen und einen Job zu suchen. Wir hatten nach der Pressekonferenz während eines Jahres kaum Kontakt, obwohl wir uns früher sehr nahestanden. Sie war aber mit ein Grund, warum ich meine Geschichte überhaupt publik machte.
Haben Sie mit ihr über das Erlebte sprechen können?
Ich habe sie ein paar Stunden nach der Vergewaltigung getroffen. Wir wollten eigentlich in einem hawaiianischen Restaurant etwas essen. Als sie dann bei mir zuhause auftauchte, konnte ich ihr nicht sagen, was passiert war. Aber als ich sie ansah, wusste ich, dass ich etwas tun musste. Wenn ich nicht sprechen würde, würde sie vielleicht dasselbe durchmachen.
Wie ist Ihr Verhältnis heute?
2020 wurde ich vom «Time Magazine» zu einer der hundert einflussreichsten Personen des Jahres gewählt. Seither findet sie mich etwas cooler. Aber es ist auch heute noch schwer, innerhalb der Familie darüber zu sprechen.
Nachdem das Strafverfahren eingestellt worden war, reichten Sie eine Zivilklage ein, die schliesslich 2019 gutgeheissen wurde, mehr als vier Jahre nach Ihrer Vergewaltigung. Der Richter entschied, dass Noriyuki Yamaguchi Sie vergewaltigte, als Sie bewusstlos waren. Er musste Ihnen 3.3 Millionen Yen bezahlen, 20’000 Franken. Eine grosse Genugtuung?
Ich habe die Zivilklage eingereicht, weil ich weitere Beweise gegen Noriyuki Yamaguchi sammeln wollte. Mir ging es auch darum, den öffentlichen Diskurs am Leben zu halten. Dies wird auch im Dokumentarfilm deutlich. In einer Gesellschaft wie der japanischen ist es sicher ein grosser Schritt, dass mir am Ende Recht gegeben worden ist.
Im Juni 2023 verabschiedete das japanische Parlament eine Reihe von Gesetzesentwürfen, die zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert die Gesetze zu Sexualverbrechen aktualisierten. Diese hatten bis dahin eher die Familienehre als die Opfer geschützt. Unter Vergewaltigung fallen nun auch Taten, bei denen die Opfer durch Alkohol oder Drogen beeinträchtigt sind, die von einer Autoritätsperson gezwungen werden oder die aufgrund eines Schockzustandes nicht in der Lage sind, ihre Ablehnung zu äussern. Das ist auch Ihrem Mut zu verdanken!
Es gibt mir Hoffnung, dass das Sprechen darüber etwas bewirken kann. Gleichzeitig war es eine Enttäuschung, dass etwa die Einwilligung zum Sex nicht wirklich thematisiert wurde. Ich hoffe wirklich, dass dieser Film irgendwie zu diesen Menschen gelangen kann, die die Macht haben, das Gesetz zu ändern.
«Es ist beschissen, dass in Japan beim Sex mit den Wörtern Ja und Nein gespielt wird»
Sie meinen, nur ein Ja heisst Ja beim Sex?
Genau. Konsens ist in Japan ein schwieriges Thema. Ein Kollege, der aus Deutschland stammt und in Japan lebt, hat mir erzählt, dass er bei Treffen mit japanischen Frauen selbstverständlich aufhörte, wenn diese Nein sagten. Doch diese seien daraufhin wütend geworden. Er verstand erst später, dass es in Japan Teil des Vorspiels sein kann, als Frau Nein zu sagen, um den Mann anzumachen. Es ist wirklich beschissen, dass mit den Wörtern Ja und Nein gespielt wird. Weder Jungen noch Mädchen wird beigebracht, wie man sich beim Sex verhalten soll.
Wie darf man sich Sexualerziehung in Japan vorstellen? Wird in der Schule über Sex gesprochen?
In den Schulen gibt es strenge Richtlinien. Eine Lehrperson darf Sex nur thematisieren, wenn es um die Zeugung an sich geht. Aber Einwilligung, Konsens, sicheren Sex, Verhütung oder Sexting dürfen sie nicht thematisieren. Es gab Fälle, wo Lehrpersonen trotzdem Sexualerziehung unterrichtet haben und dafür sanktioniert worden sind. Man solle den Kindern keine Flausen in den Kopf setzen.
In Tokioter Zügen gibt es «Women Only»-Waggons, um Frauen vor grapschenden Männern zu schützen. Ausserdem machen alle japanischen Smartphones Geräusche, um Frauen zu warnen, sollte jemand versuchen, sie heimlich zu fotografieren. Was läuft schief in dieser Gesellschaft?
In Japan sind noch zu wenige Menschen bereit, über diese Probleme zu sprechen. Ich habe das auch an den negativen Reaktionen auf meine Geschichte gemerkt, die fast ausschliesslich aus Japan kamen. Menschen schrieben mir Dinge wie «Bringe keine Schande über Japan» und «Verbreite keine Lügen», meist anonym und online. Grenzüberschreitungen beginnen oft schon in der Schule, wenn Jungen Mädchen begrapschen. Aber die wenigsten würden zur Polizei gehen, weil die eh nichts tut und man so nur unnötig einen Schultag verpasst. Manchmal frage ich mich, ob die japanischen Frauen aufgegeben haben.
«Meine Antwort auf das Schweigen unserer Gesellschaft ist dieser Dokumentarfilm»
Sie meinen, dass die japanischen Frauen im Kampf um Gleichstellung resigniert haben? Dass sie ihre Stimme nicht erheben wollen?
Ja. Hoffentlich finden wir eines Tages eine Möglichkeit, für uns einzustehen und unsere Geschichten zu teilen. Meine Antwort auf das Schweigen unserer Gesellschaft ist dieser Dokumentarfilm.
Wie erleichtert sind Sie, dass die Welt nun Ihren Film sehen kann?
Ich habe erst einige Tage nach der Premiere am Sundance Filmfestival realisiert, wie erleichtert ich bin. Der Film ist für mich eine ständige Erinnerung daran, wo wir in Japan stehen und was wir noch tun müssen, um Druck auszuüben, damit die Gesetze geändert werden. Es kann helfen, wenn die Welt Bescheid weiss.
«Black Box Diaries» ist ab 31. Oktober 2024 in den Deutschschweizer Kinos zu sehen. Am ZFF gewann Shiori Itōs Film den Preis für den besten Dokumentarfilm sowie dem Publikumspreis.
Informationen und Hilfsangebote zum Thema Gewalt findest du hier:
BIF – Beratungsstelle für Frauen
Für Männer, die Gewalt gegenüber ihre:r Partner:in einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt-und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.