Serien & Filme
«The Idol»: Der Skandal um die HBO-Serie ist nicht das Problem
- Text: Jacqueline Krause-Blouin
- Bild: HBO
Gestern erschien die erste Episode der HBO-Serie «The Idol» mit Lily-Rose Depp und Abel «The Weekend» Tesfaye. Für einen Skandal sorgte die vermeintlich ausbeuterische Darstellung der halbnackten Hauptfigur. Das eigentliche Problem der Serie liegt aber woanders, schreibt Editor-at-large Jacqueline Krause-Blouin in ihrem Kommentar.
Der grösste Skandal von Cannes in diesem Jahr war nicht, dass Johnny Depp uns weiterhin mit seiner Präsenz auf der grossen Leinwand belästigen darf, nein, der grösste Skandal kam von einer anderen Depp: seiner 24-jährigen Tochter Lily-Rose. Die Serie «The Idol», in der Depp den Popstar Miley Cyrus, Pardon, «Jocelyn» gibt, wurde nämlich geradezu verrissen.
«Torture Porn» sei da zu sehen, schrieb der «Rolling Stone». Die Show sei sozusagen eine Fantasie für creepy Männer mittleren Alters, denen es nicht mehr reicht, mit dem Fernglas die Nachbarin auszuspionieren. Hat da jemand «male gaze» gesagt?
Jede junge, nackte Frau muss heute gerettet werden
Ja, mit dieser populären Meinung kann man nichts falsch machen im Moment. Die arme junge Frau, erniedrigt, ausgenutzt, missverstanden und falsch dargestellt – nach Ana de Armas in «Blonde» oder Florence Pugh in «Don’t Worry Darling» ist Lily-Rose Depp nun das neuste Opfer.
«Ich hatte von Anfang an ein Mitspracherecht, wie wir meine Figur der Welt vorstellen wollten. Für mich war das ein Privileg», sagte Lily-Rose Depp in einem Interview. Aber solche Aussagen werden negiert. So was «muss sie ja jetzt sagen». Es passt nicht ins Narrativ, dass eine junge Schauspielerin sich auf diese Weise darstellen möchte, um ihrer Interpretation der Figur gerecht zu werden. Jede junge, nackte Frau muss heute gerettet werden, wie 1978 «Roxanne» von Sting.
Das eigentliche Problem von «The Idol» ist nicht die ausbeuterische Darstellung eines weiblichen Popstars, sondern dass die Serie den Skandal um sich selbst gleich direkt auf der Leinwand verhandelt. Man möchte womöglich Kritiker:innen den Wind aus den Segeln nehmen, indem man die Debatte, die man fürchtet, gleich selbst aufnimmt. Da sagt der Manager Dinge wie «Wenn du das Foto postest, bist du Teil des Problems» und die Labelchefin, die eben noch erklärt hat, warum psychische Erkrankungen «hot» sind, ruft: «Hört auf, sie zu slut shamen!».
Wie politisch korrekt muss Rock ’n’ Roll heute sein?
Der Intimacy-Coordinator, der sich darum kümmern soll, dass Jocelyn sich beim Fotoshooting nur so weit auszieht, wie das vertraglich geregelt ist, wird von ihr selbst vom Set verbannt und vom Manager ins Klo gesperrt. Als Zuschauer:in ist man dauernd aufgefordert, gesellschaftliche grosse Fragen zu beantworten: Ist der Popstar ermächtigt oder Opfer? Wie politisch korrekt muss Rock ’n’ Roll heute sein? Der Subtext jeder Figur scheint zu sein: «Ist der Satz, den ich hier sage, gerade moralisch okay oder total daneben?» Langweilig.
Diese vermeintlich provokative Serie ist in Wahrheit braver als «Highschool Musical» 1 – 3 und «Glee» zusammen, als wäre man live dabei, wie sich im Kindergarten zwei Fünfjährige ihre Genitalien zeigen. Als The Weekend, dem man wirklich «don’t quit your day job!» zurufen möchte, vor Jocelyns Mund mit einem Messer hantiert, wähnt man sich in einer Parodie von «Fifty Shades», falls es von einem derart lächerlichen Film überhaupt eine Parodie geben kann.
Wenn man provozieren will, ist Angst ein schlechter Berater
Ich wage mal zu behaupten, dass dieser «Skandal» vor allem auf zwei Tatsachen beruht: 1.), dass man in Cannes nun mal jedes Jahr einen neuen Skandal braucht und 2.), dass die ursprüngliche Regisseurin Amy Seimetz nach einer Auseinandersetzung gefeuert wurde, weil die Serie anscheinend zu viel weibliche Perspektive (!) bekommen habe. «Euphoria»-Regisseur Sam Levinson übernahm. Genau: ein Mann. Skandal perfekt.
Die Macher:innen hatten vor, eine provokative, edgy Serie über die Abgründe des Popbusiness zu machen. Wenn man aber provozieren will, ist Angst ein schlechter Berater. Mit angezogener Handbremse lässt sich so eine Serie nicht glaubwürdig produzieren. Zuweilen wünscht man sich dann die Furchtlosigkeit eines Harmony Korine herbei, der als Regisseur und Drehbuchautor mit Filmen wie «Kids» oder «Gummo» wirklich nachhaltig aufzurütteln wusste.
Die Zeit und Energie, die «The Idol» mit der Diskussion um die eigene Relevanz verbringt, hätte man besser in den Plot und die Arbeit an den Figuren gesteckt. So bleiben sie flach und klischiert. Man hat keine Ahnung, wer Jocelyn eigentlich ist. Aber womöglich ist die ernüchternde Botschaft ja, dass ein Popstar, dem es alle immer nur recht machen wollen, das selbst nicht so genau weiss.