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So nah kommt «High & Low: John Galliano» dem Modegenie

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So nah kommt «High & Low: John Galliano» dem Modegenie

  • Text: Barbara Loop
  • Bild: Pathé Films AG / David Harriman

Zu Beginn des neuen Dokumentarfilms «High & Low» verspricht John Galliano den Zuschauer:innen die ganze Wahrheit. Doch kann der Film dieses Versprechen wirklich halten? Chefredaktorin Barbara Loop ist zwiegespalten.

John Galliano zündet sich eine Zigarette an und blickt in die Kamera. «Oh, ich werde Ihnen alles erzählen!», versichert er. Wird er das? Nun, er wird in den nächsten fast 120 Filmminuten in der Tat vieles erzählen. Über seine Kindheit, den konservativen Vater, seinen Aufstieg zum gefeierten Modedesigner, über verstorbene Weggefährten, den Druck, die Sucht. Über jene Nacht vor 13 Jahren, als er in einem Pariser Bistro namens «La Perle» offensichtlich betrunken mit wüsten rassistischen und antisemitischen Tiraden auf Gäste losging – und dabei gefilmt wurde.

Ein Genie erobert die Welt

Mit dem Dokumentarfilm «High & Low», der jetzt in den Deutschschweizer Kinos läuft, bringt Kevin Macdonald die Geschichte von John Galliano auf die Leinwand. Er erzählt vom kometenhaften Aufstieg des jungen britischen Designers, von dessen Kreativität und Besessenheit. In verpixelten Filmaufnahmen lässt «High & Low» die Präsentation seiner Abschlusskollektion am Central Saint Martins College wieder aufleben: Schichten von Stoff, Schleifen und Rüschen unter langen, weiten Mänteln, dekonstruierte Nadelstreifenjackets und Zweispitzhüte, wie Napoleon sie getragen hat.

Extravagante Mode, theatralische Inszenierungen, fantastische Welten. In den 1990er-Jahren explodierte das Fashionbusiness, Mode wurde zum Massenphänomen, die Umsätze schossen in die Höhe und mit ihnen zwei junge britische Designer, die schon früh als Genies gehandelt wurden: John Galliano und Alexander McQueen. Während McQueen Gallianos Job bei Givenchy übernahm, wurde Galliano Chefdesigner von Dior. Ein britischer Designer an der Spitze eines französischen Traditionshauses: John Galliano eroberte die Welt der Mode, das legt der Film nahe, nach dem Vorbild von Napoleon. Auf dem Höhepunkt seines Triumphs trägt er den Zweispitzhut in kaiserlicher Manier selbst, als er sich nach einer rauschenden Dior-Show im Applaus des Publikums badet.

Die grosse Flucht

Egomanisch, genialisch und fern jeglichem Realitätssinn. John Galliano sei einer, der ständig auf der Flucht ist, so das Leitmotiv des Films: vor der Enge seiner Herkunft, vor dem Gewöhnlichen, vor dem Schmerz in die Fantasie. Im besten Fall. Im schlechtesten Fall rettet er sich in die Drogen und die Arbeit. Zeitweise entwarf er 32 Kollektionen pro Jahr für Dior und seinen eigenen Brand John Galliano.

Auch sein Kontrahent Alexander McQueen strauchelte im Hamsterrad des überhitzten Modebusiness und nahm sich 2010 nach dem Tod seiner Mutter sozial isoliert und depressiv das Leben. Beging Galliano nur wenige Monate später in jener Nacht in Paris vielleicht einen sozialen Selbstmord? War der Ausweg aus dem sich viel zu schnell drehenden Modekarussell nur um den Preis einer harten Landung möglich?

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der britische Regisseur Kevin Macdonald mit «High & Low» einem Star annimmt, der vor aller Augen in Ungnade fiel. Zuletzt tat er dies erfolgreich 2018 mit «Whitney». Aber anders als Whitney Houston, die geschwächt von ihrer jahrelangen Kokainsucht 2012 in der Badewanne ertrank, hat John Galliano die Katastrophe überlebt. Bei dieser Tragödie gibt es einen vierten Akt: Der gefallene Star muss wieder auf die Beine kommen, muss weitermachen, Reue zeigen – und sich den Fragen des Regisseurs stellen.

Wer ist John Galliano?

Und wenn Galliano das tut, dann blickt er wie gebannt in die Linse der Kamera. Kein Ausweichen, kein beschämtes Wegschauen, kein fragender Blick, der durch den Raum schweift. John Galliano will den Zuschauer:innen in die Augen schauen. Ich habe nichts zu verbergen, sagt sein Blick. Die Flucht in die Fantasie scheint hier für einmal keine Option.

Doch etwas ist merkwürdig mit diesem Blick. Nach und nach beschleicht einen das Gefühl, dass man nicht einem Mann dabei zu sieht, wie er offen über seine Gefühle, Taten und Gedanken spricht. Vielmehr glaubt man, einen Mann vor sich zu haben, der eindringlich Offenheit demonstriert. John Galliano performt, er spielt mit der Kamera. Es ist der Blick eines Showmans, der sein Leben lang unterhalten hat. Und der selbst in der Rolle des gefallen Stars noch gefallen will.

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«Galliano will selbst in der Rolle des gefallenen Stars noch gefallen»

Hier werden die Schwächen dieses Films deutlich: Zu verhalten sind die Nachfragen des Regisseurs, zu schnell lässt er Galliano vom Hacken. Wenn Galliano vorgibt, sich nicht daran zu erinnern, dass er in jener Nacht, die nicht nur sein Leben auf den Kopf gestellt hat, nicht nur eine Person verbal attackierte, sondern drei, dann müsste der Interviewer insistieren. Was ist es, das Galliano hier verdrängt? Wie kann es sein, dass er sich diese Videos nie angesehen hat? Will ein Mann, der bereut, nicht all seine Taten analysieren, um eine bessere Version seiner selbst werden zu können?

Die Strippenzieher:innen und der Masterplan

Zu sehen, welche Rolle die einflussreichsten Leute von Condé Nast-Verlag in der Karriere von John Galliano gespielt haben, gehört zu den interessantesten Aspekten des Filmes. Vogue-Journalist André Leon Talley und dessen Chefin Anna Wintour haben nicht nur kräftig an der Karriere des jungen John Galliano mitgebaut. Anna Wintour war es auch, die ihm nur zwei Jahre nachdem er im Pariser Café seine Liebe zu Hitler bekundete einen Job bei Oscar de la Renta verschaffte.

Der Film legt auch offen, dass es Condé Nast-Vorsitzender Jonathan Newhouse war, der das Treffen zwischen Galliano und führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinschaft organisierte, die Galliano um Vergebung bat. Warum sie das taten, stellt der Film nicht infrage. Stattdessen spekuliert jetzt die halbe Welt darüber, ob «High & Low» Teil eines grossen Masterplan sei, der John Galliano zurückbringen soll in die Topliga des Business, womöglich gar auf einen der vakanten Chefdesigner-Posten der grossen Modehäuser.

Die Mode und das Biest

Dass Galliano längst rehabilitiert ist, seit seiner jüngsten, frenetisch gefeierten Haute Couture-Show für Maison Margiela weit über die engsten Modekreise hinaus, tritt vor dem grossen, dramaturgisch tragenden Bogen von Aufstieg und Fall von «High & Low» in den Hintergrund. Die Mode ist ein schnelllebiges Biest mit einem kurzen Gedächtnis, das ist eine alte Weisheit. Aber was das bedeutet für John Galliano und das fast genauso reumütige Modegeschäft, das seit Jahren von der Notwendigkeit eines Wandels spricht, wäre die eigentlich spannende Frage.

«High & Low» ist ein sehenswerter Film, der die Mode und ihre Kraft feiert. Und es ist ein Film, der keine vorschnellen Urteile zulässt und keine Ambivalenzen scheut, sich aber leider damit auch schon zufriedengibt. Wider der Cancel Culture, die schnell in Schwarz und Weiss unterscheide, will Kevin Macdonald selbsterklärterweise das Licht auf den gecancelten Mann werfen, ihn in allen Facetten ausleuchten. Aber im Scheinwerferlicht erscheint ein Showman, vor dessen Genialität dieser Film in Ehrfurcht erstarrt.

«High & Low: John Galliano» läuft ab heute im Kino und kann auf Mubi gestreamt werden

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