Schauspielerin Tilda Swinton: «Ich habe nie an der Existenz der wahren Liebe gezweifelt»
- Text: Mariam Schaghaghi
Tilda Swinton, aktuell in «The Room Next Door» zu sehen, sucht als Schauspielerin die Fantasie. Privat strebt sie schlicht nach bedingungsloser Liebe.
Exquisit ist sie. Immer anders als alle anderen. Tilda Swinton ist nicht nur Ausnahmeschauspielerin und Indie-Ikone, die schottische Oscarpreisträgerin wirkt mit ihrem Alabastergesicht, dem androgynen Haarschnitt und ihren grünen Augen manchmal fast wie von einem anderen Stern – was sie beruflich wie privat gern mit ausgefallenen Looks unterstreicht.
Wir sahen sie etwa mit zitronengelben Haaren über den roten Teppich schreiten oder als Eiskönigin im Fantasy-Abenteuer «Die Chroniken von Narnia». Ikonenstatus hat Swinton aber auch wegen ihrer unkonventionellen Rollen in zahllosen Auteur- und Arthouse-Filmen. Bei unserem Gespräch am Marrakech Film Festival treffen wir die 63-Jährige leibhaftig und sind neugierig, ob sie auch im Gespräch mehr Mythos ist als Mensch.
annabelle: Tilda Swinton, Ihre Stylings sind mindestens so legendär wie Ihre schauspielerischen Darbietungen. Gibt es da eine Verbindung?
Tilda Swinton: Ich glaube, es hat wirklich etwas miteinander zu tun. Es gilt das gleiche Prinzip: Es geht um Kommunikation und um Beziehungen. Wenn ich Chanel trage, dann wegen meiner Beziehung zum Haus Chanel, und wenn ich Haider Ackermann trage, dann, weil er einer meiner engsten Freunde ist und wir beide konzeptionell arbeiten. Ja, was ich trage, ist mir wichtig, Stil ist Ausdruck meiner Kreativität. Ausserdem bin ich eigentlich ein eher schüchterner Mensch. Wenn ich also mit diesen Outfits in der Öffentlichkeit stehe, ist es fast, als leiste mir jemand Gesellschaft.
Wie wichtig ist Ihnen Feedback, sowohl bei Ihrer Kleidung als auch für Ihre Performances?
Ich bekomme Reaktionen auf mein Aussehen oft gar nicht mit. Ich bin ein Dinosaurier, nutze keine Social Media. Ich hatte noch nie einen Bezug zu ihnen. Aber Kritiken lese ich gerne. Ich finde fundierte, gute Filmkritik ganz wichtig, sie darf uns nicht abhanden kommen. Ich bin neugierig darauf, wie die Filme bei den Kritiker:innen ankommen. Auch wenn ich schon früh lernte, dass das nicht wirklich wichtig sein darf. Am wichtigsten ist mir das Feedback des Publikums.
Sie scheinen zeit- und alterslos zu sein. Altersdiskriminierung ist in Hollywood ja leider gang und gäbe. Waren Sie je damit konfrontiert?
Ich bin nicht in Hollywood. Und weiss daher nichts über Hollywood. Ich bin auf einem anderen Planeten unterwegs, arbeite mit Filmemacher:innen zusammen, die ihre Stoffe selbst entwickeln. Deswegen empfinde ich meinen Beruf als immer grössere Bereicherung.
Wie meinen Sie das?
Meine Zwillinge werden 27 Jahre alt. Ich habe jetzt also nichts mehr mit dem Schulbetrieb, Ausbildungsstress, der Fahrerei oder Organisation zu tun. In den letzten Jahren konnte ich mich öfter auf Projekte einlassen, die viel Zeit in Anspruch nahmen.
«Ich bin von Beginn an mit dem Wissen gesegnet gewesen, dass es bedingungslose Liebe wirklich gibt»
In Ihrem Film «I Am Love» von 2009 bricht eine Frau aus ihrem moderat glücklichen Leben aus, als sie sich masslos verliebt. Von Ihnen wurde lange behauptet, Sie lebten mit zwei Männern zusammen, bis Sie energisch mit diesem Missverständnis aufräumten. Muss Liebe immer revolutionär sein?
Was Liebe ist, liegt im Auge und im Herzen der Betrachtenden. Alle haben eine eigene Vorstellung davon. Ich glaube, dass bedingungslose Liebe erst möglich ist, wenn man sich selbst durch und durch kennt. Wenn man sich Gefühlen nur passiv hingibt, ist man nicht genug trainiert, um den Liebesmuskel richtig bewegen und nutzen zu können.
Wann haben Sie persönlich diesen Punkt erreicht, Liebe so leben zu können, wie Sie sie gerade definieren?
Ich bin von Beginn an mit dem Wissen gesegnet gewesen, dass es bedingungslose Liebe wirklich gibt. Sie wurde von meinen Eltern gelebt und war in meiner Erziehung fest verankert. Das war ein Segen, denn diese Erfahrung konnte mir niemand nehmen. Ich habe nie an der Existenz der wahren Liebe gezweifelt. Sie war für mich immer Realität.
Wenn es Selbstkenntnis braucht, um wahrhaftig lieben zu können, ist echte Liebe dann eine Frage des Alters?
Das sehe ich nicht so. Reife ist nicht an Alter gebunden. Es geht eher darum, wann man für sich feststellt, dass es bedingungslose Liebe tatsächlich gibt. Dass Menschen sagen: «Egal, wer du bist oder wohin du dich entwickelst, wir lieben dich und sind für dich da. Wir stehen alles mit dir durch.» Ich denke, dass dieses Bewusstsein das Beste ist, was man einem Kind mitgeben kann.
Ihre Tochter Honor Swinton Byrne schauspielert nun auch, zweimal sind Sie gemeinsam in Filmen von Joanna Hogg vor der Kamera gestanden. Erkennen Sie sich in ihr wieder?
Ich sehe andere Familienmitglieder in ihr, meine Mutter zum Beispiel. Ich erkenne mich eher in meinem Sohn wieder. Aber ich liebe meine Tochter sehr, wir stehen uns sehr, sehr nahe. Was wir gut können, ist, uns die Meinung zu sagen und auf Konfrontationskurs gehen. Das kann ich mit meinem Sohn nicht. Obwohl sie Zwillinge sind, fasziniert es mich, wie unterschiedlich es mit beiden ist.
Als ich Honor letztes Jahr interviewte, schwärmte Sie mir von Ihnen vor: «Mom ist ein echter Rockstar!» Was bedeutet Ihnen das?
(lacht) Hat sie das wirklich gesagt? Im Ernst? – Tja, das ist der Nachteil, wenn man nicht alles liest … Danke, dass Sie mir das zutragen! Das gibt mir ein wunderbares Gefühl. Ich würde es so auf den Punkt bringen: Ich erkenne mich in Honor so wenig, dass ich sie bewundern kann. Das tue ich. Sie ist so in sich selbst verankert, ist ausschliesslich und komplett sie selbst.
Sind Sie das nicht auch, ausschliesslich sich selbst treu und nie autoritätshörig? Hat Ihre Tochter das also von Ihnen?
Wenn ich einen kleinen Teil dieses Verdienstes für mich beanspruchen kann, dann den, dass ich Hürden aus dem Weg geräumt habe, damit beide Kids wachsen können. Ich finde, das ist die Hauptaufgabe von Eltern: Einfach nur den Kindern den Weg frei zu machen.
«Mit Jim Jarmusch zu drehen, fühlt sich immer wie eine Fantasie an»
Sie haben seit Ihrem Debüt in Derek Jarmans «Caravaggio» von 1986 oft die Perspektive gewechselt und auch Filme produziert. Warum führten Sie eigentlich bisher nie Regie?
Ich habe nur einen Essayfilm und einen Kurzfilm inszeniert, aber nie einen Spielfilm. Ich … tüftle aber. (lacht) Vielleicht vermeide ich es derzeit, Regie zu führen, um ehrlich zu sein. Aber wer weiss! Das Produzieren liebe ich sehr, mit Regisseur:innen zu arbeiten und ihnen freie Bahn zu schaffen, finde ich herrlich.
Sie haben mit sehr unterschiedlichen Arthouse-Genies gearbeitet – Jim Jarmusch, Lars von Trier, Pedro Almodóvar, Luca Guadagnino: Was sind die emotionalen Kosten dieser Arbeit?
Es mag banal klingen, aber für mich ist der am teuersten erkaufte Part, dass ich an einem sehr schönen Ort in den schottischen Highlands lebe, aber immer weit weg von dort arbeite. Mein dauerndes Kommen und Gehen ist wie in Narnia, wo man durch die Rückwand des Kleiderschranks steigt und sich in einer ganz anderen Welt wiederfindet.
Ist Ihr Zuhause denn so viel anders?
Nun, ich muss es vorbereiten, wenn ich das Haus verlasse, es erfordert eine komplizierte Logistik. Retour ist es genauso: Ich muss mich daheim erst wieder eingrooven. Dazu kommt die emotionale Reise, um die Beziehungen zu den unterschiedlichen Filmfamilien, mit denen ich arbeite, auf- und auszubauen: Ich habe eine Familie mit Bong Joon-ho, eine mit Wes Anderson, eine mit Jim Jarmusch, und alle existieren nebeneinanderher, sie kennen sich auch untereinander. Aber mich von zuhause zu trennen, ist für mich das Schwerste.
Sie sind entweder in sehr intensiven Gefühlswelten zu sehen oder in Fantasyfilmen. Müssen Ihre Filme möglichst weit weg von Ihrer Lebensrealität in Schottland sein?
Das ist eine interessante Theorie. Ich habe es auch selbst schon bemerkt, kenne aber die Antwort darauf nicht. Ich denke, es ist eine Frage der Sensibilität, die ich mit vielen meiner Kolleg:innen teile: Wir sind so sehr an Fantasie interessiert. Ich meine nicht unbedingt fantastische Filme, sondern eine Art von Transport; mich reizt das Gefühl des Weggetragenwerdens. Mit Jim Jarmusch zu drehen, fühlt sich immer wie eine Fantasie an, gerade in Momenten, in denen ich einen 3000 Jahre alten Vampir in Detroit spiele. Genauso meine Arbeit mit Bong Joon-ho …
… dem koreanischen Regisseur von «Okja» und «Parasite» …
Bongs Filme haben einen ganz eigenen Dreh, der oft nicht meinem eigenen Geschmack entspricht, der mich aber sehr reizt. Die Filme meiner engen Freundin, der Regisseurin Joanna Hogg, sind noch am ehesten in einer realen Welt angesiedelt, sie beschäftigen sich aber mit Erinnerungen. «Eternal Daughter» zum Beispiel ist eine Art Geisterfilm.
Ihr Herz schlägt also für das Ungesehene und Unsichtbare.
Ja, das ist sehr gut gesagt: das Ungesehene und das Unsichtbare. Und das Surreale!
«Man weiss genau, was man kriegt, wenn ich spiele»
Pedro Almodóvar hat dreissig Jahre lang alle Angebote für englischsprachige Filme mit der Begründung abgelehnt, er sei noch nicht so weit. Dann drehte er 2020 plötzlich einen Kurzfilm mit Ihnen, «The Human Voice», danach den Spielfilm «The Room Next Door», der soeben am Filmfestival Venedig als bester Film mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Was haben Sie mit ihm angestellt?
Ich war wohl sein Portal zu einer neuen Welt. (lacht) Es war wunderbar, mit ihm zu arbeiten. Immerhin ist er in der heutigen Filmwelt ein Fels. Was ihn so besonders macht: Er ist das Verbindungsglied zwischen dem alten Hollywood der 40er- und 50er-Jahre und dem modernen Kino. Dass er mit mir arbeiten wollte, war schon ein Ding!
Warum verwundert Sie das so sehr?
Na, mir war klar, dass wir uns mögen würden. Aber keine seiner Frauenfiguren sieht so aus wie ich! Als wir uns das erste Mal trafen, sagte ich ihm: «Ich würde gern mit Ihnen drehen, aber ich spreche kein Spanisch. Aber ich könnte doch eine Stumme spielen!» Das war ein ernsthaftes Angebot. Ich war also völlig aus dem Häuschen, als er mir damals «The Human Voice» anbot.
Sie machen sogar die Filme gut, die gar nicht so gut sind, heisst es.
(lacht) Dann hatte ich Glück. Ich habe ja erklärt, dass ich meine Zusagen immer an den Leuten festmache, mit denen ich zu tun habe. Mich fragt man aber auch nur an, wenn man mich wirklich will. Man weiss genau, was man kriegt, wenn ich spiele. Ich hoffe trotzdem immer überraschend zu sein.
Am Filmfestival Toronto waren Sie soeben in einer wirklich neuen Rolle zu sehen: singend. Wie kam das?
Ja, es ist ein Musical – da kann man sich vor dem Singen schlecht drücken. «The End» wurde von Joshua Oppenheimer inszeniert, es ist sein erster nicht-dokumentarischer Film: Es geht um eine Familie, die nach einer Öko-Katastrophe – die der Vater mitverursacht hat – in einem unterirdischen Bunker lebt, mit Butler, einem Arzt und einem Freund, 25 Jahre lang.
Sie arbeiten oft mit unerfahrenen Filmemacher:innen. Weil diese besonders mutig sind?
Es ist eine sehr lebendige Arbeit, weil alles neu durchdacht wird. Das liegt mir. Wenn ich einen Menschen kennenlerne und ihn mag, sind bei mir alle Ampeln auf Grün gestellt.
Sie machen die Wahl Ihrer Rollen also von Sympathien abhängig?
Filme sind wie Mannschaftssport: Man muss seine Teamkolleg:innen schätzen, etwas gemeinsam mit ihnen planen und entwickeln, man muss durch dick und dünn gehen, bei schlechtem Wetter gemeinsam drehen oder um drei Uhr morgens. Danach reist man ein, zwei Jahre mit ihnen um die Welt, um den Film auf Festivals vorzustellen. Und dort siehst du sie als Erste am Tag, um sieben Uhr morgens beim Frühstück. Da finde ich es äusserst wichtig, diese Menschen einfach gern zu haben!
«The Room Next Door» läuft im Kino.