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Oh Lady Mary: Die neue Erfolgsserie Downton Abbey

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Oh Lady Mary: Die neue Erfolgsserie Downton Abbey

  • Text: Rebecca Casati

Was macht die britische Kostüm-Soap «Downton Abbey» erfolgreicher als jede Castingshow? Lady Mary Crawley zum Beispiel, gespielt von Michelle Dockery. Aber das ist nicht alles.

Nur etwa alle hundert Jahre, so heisst es in einer Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, gebe es den einen Moment, in dem die Dinge so liegen, dass sich auch der Rest fügt: «Und in dieser Nacht war es gerade wieder hundert Jahre her …»

Wie alles begann

So ein Moment muss jener 26. September 2010 gewesen sein, ein Sonntagabend in England. Da lief die erste Folge einer neuen Serie an. Sie hiess «Downton Abbey». Und setzte im April 1912 ein, dem Tag, als sich die Nachricht von einer verheerenden Katastrophe über die Welt verbreitete: dem Untergang der «Titanic».Dieser Auftakt, die sich daraus entspinnenden Verwicklungen um eine aristokratische Familie in Yorkshire, Nordengland, die Kostüme, Dialoge, Referenzen, die Chemie zwischen den Darstellern, die Darsteller selber: Alles an dieser ersten Folge war so stimmig, dass mit den Menschen, die zusahen, etwas Interessantes geschah.

Es war, als hätten sie kollektiv einen Zug aus einer Crackpfeife genommen; die sofortige Sucht setzte ein. Die Einschaltquoten, die Euphorie der Zuschauer und Kritiker – «Downton Abbey» brach alle Rekorde. Und das inmitten des Reality-Castingshow-Getöses. Ähnliches wiederholte sich drei Monate später, als die Serie in Amerika anlief. Die für dieses Genre erstaunlich junge Fangemeinde veranstaltete DA-Partys und kommunizierte ihre Obsession über Twitter und Facebook.

In dem für seinen Zynismus bekannten Medienblog Gawker erschien eine Hymne mit dem Titel «Warum jeder in diesem Universum ‹Downton Abbey› sehen sollte!». Und plötzlich war die Welt schockverliebt in die schöne, bisher komplett unbekannte englische Schauspielerin Michelle Dockery, die in der Serie die älteste Tochter des Hauses, Lady Mary Crawley, spielt. Ein Sexsymbol, wie es in der Welt der Kim Kardashians revolutionärer gar nicht geht. Weil von Lady Mary selten mehr Haut zu sehen war als die ihres Gesichts und ihrer milchweissen Hände. Und weil man auch von Michelle Dockery noch nicht viel mehr weiss oder gesehen hat.

Das Leben der Michelle Dockery

Ihre Vita ist schnell erzählt: Schauspielschule, einige unbedeutende Rollen im Theater und Fernsehen. Wer Bilder von ihr googelt, wird sie in keiner einzigen profanen oder frivolen Pose finden. Weder mit einer rosafarbenen Nike-Baseballkappe durch den Hydepark joggend noch mit Freundinnen bei Starbucks sitzend oder auf ihr Smartphone eintippend. Und auch nicht als Model für Seifen oder Joghurts. Auch Modesünden scheinen an der Dreissigjährigen komplett vorübergegangen zu sein. Dockery trägt anscheinend seit ihrer Geburt Schwarz, Beige, Bordeaux und wieder Schwarz. Immer stilvoll, meistens hochgeschlossen.

Für eine English Rose sind ihre Haare ziemlich dunkel, und anders als beim gewöhnlichen weiblichen Film- und Fernsehpersonal von heute erkennt man darin weder Highlights noch Echthaar-Extensions. Ihre Zähne sind normal weiss. Nicht blauweiss gebleicht wie die von Jennifer Aniston et alii. Ihre Brauen und ihre Augen sind schwarz. Ihr Teint ist komplett Botox- und Hyaloronsäure-frei, und in ihre schmalen Lippen hat sich gewiss noch nie eine Silikonnadel gebohrt.

Das Faszinierende an ihrer Rolle wie auch an den anderen Charakteren, überhaupt der Welt von «Downton Abbey», ist nämlich genau das: Einerseits liegt ihre Zeit hundert Jahre zurück. Andererseits kommt einem manches daran näher, plausibler und weniger irre vor als das, was einem heute von Hollywood, Realityshows und Internet als optimierte Normalität vorgeführt wird.

Die Lordschaft und ihre Gefolgschaft

Oben die Lordschaft, unten die Dienerschaft. Im Herrenhaus Downton Abbey hatte alles und jeder seinen Platz und seine Funktion, jeder Moment oder Sozialkontakt folgte einer gesellschaftlichen Choreografie. Das Dasein, das sich damals vor allem für Frauen beklemmend angefühlt haben muss, wirkt aus heutiger Fernsehsesselperspektive angenehm übersichtlich.

In zynischen Krisenzeiten wie diesen erscheinen einem die damaligen Prioritäten beinahe als beneidenswert: Während Länder und Regierungen in Schutt und Schulden versinken, bleibt der moralische Impetus der Familie oder des Standes bestehen. Mit präzisem Eifer und grossem Unterhaltungswert bildet «Downton Abbey» sämtliche Regeln des Zusammenlebens dieser Zeit ab. Für welche Aufgabe welcher Diener zuständig war. Wann und wie man die Enden eines Fracks nach hinten warf, wenn man sich setzte. Wer wann mit wem über was redete.

In welchem Verhältnis das Fischmesser zum Buttermesser zu liegen hatte (immer links davon) und welches Besteck man für Erbsen verwendete. Statt Internet gab es Zeitungen, die vor dem Lesen gebügelt wurden. Und statt darin Interviews über ihre Befindlichkeiten zu geben, vermittelten die umschwärmten Frauen von damals ihre Emotionen durch das Blähen einer Nüster.

Die perfekte Rolle

Überhaupt sind es bei «Downton Abbey», wie auch bei «Mad Men», die Frauen, die die Handlung befördern. Als Julian Fellowes, der geniale Autor und Produzent der Serie, Michelle Dockery entdeckte, verschlug es ihm direkt die Sprache. Ganz genau erinnert er sich an diesen Moment: «Jemand hatte mir Screentests von ihr gemailt, ich drückte auf ‹Play›, und da war sie – Lady Mary, meine Schöpfung.

Wenn einem als Autor so etwas passiert – und so etwas passiert eigentlich so gut wie nie –, fühlt man sich fast wie überrumpelt und zugleich unendlich erleichtert.» Ob auf einem Pferd sitzend, einen Verehrerabsnobbend oder mit einem Champagnerglas in der Hand – Michelle Dockery hat eine Haltung, die selbst bulgarische Eislauftrainerinnen zufriedenstellen würde. Allerdings sind ihre Schultern und Arme schmal wie die eines Kindes, ihr Körper scheint niemals weder Kniebeugen noch Abdominal Crunches ausgeführt zu haben, so wenig Muskelmasse oder Spannung ist erkennbar. Was sehr aristokratisch wirkt.

Genau wie Michelle Dockerys Blässe («Neben ihr wirkt Anne Hathaway wie ein Sonnenbank-Junkie», schrieb eine Kritikerin). Und tatsächlich hat Dockery sich das letzte Mal im Jahr 2006 in die Sonne gelegt, und das auch nur für eine Rolle. Allerdings geht sie regelmässig in London ins Fitnessstudio, vielleicht bietet ihres ja eine Art edwardianisches Workout an. Ansonsten besteht ihre Diät aus kleinen Portionen von Fisch. Und Korsetts.

Das Charisma von Lady Mary respektive Michelle Dockery zu beschreiben, ist nicht leicht. Ganz früher nannte man es vielleicht «Geheimnis», was übrigens nicht mit Greta-Garbo-hafter Weltabgewandtheit zu verwechseln ist. Es geht vielmehr um die Fähigkeit, Liebreiz und Distanziertheit in der perfekten Balance zu halten. Eine durchsichtige Wand zwischen sich und den Bewunderern zu errichten.

Grace Kelly konnte das. Audrey Hepburn auch. Keira Knightley kann es, wenn sie gerade nicht lacht. Ansonsten gibt man im Internetzeitalter nicht mehr viel auf Geheimnisse. Seit jeder öffentlich seine nächste Rauchpause ankündigt, haben auch Schauspielerinnen vergessen, dass sie ja eigentlich gar keiner dazu zwingt, bei Intothegloss.com Auskunft über ihre Badezimmerrituale zu geben.

An Michelle Dockerys Sätzen ist vor allem interessant, wie wenig persönliche Information sie enthalten. Das Wichtigste an ihrem Beruf seien «die guten Geschichten». Die Schauspielerei sei «wahrscheinlich schon eine Form von Eskapismus, aber sie macht mir einfach Freude». Und Lady Mary Crawley findet sie «eigentlich ziemlich modern, weil sie ihre eigene Meinung hat und sich nichts sagen lässt …». Tatsächlich ist Lady Mary so etwas wie die Schnittstelle zwischen alter und neuer Welt.

Ihr Vater ist ein Lord, ihre Mutter eine bürgerliche Amerikanerin, eine der Buccaneers, wie die Schriftstellerin Edith Wharton sie nannte; amerikanische Mädchen, die aus wohlhabendem Elternhaus stammten, beflügelt von sozialem Ehrgeiz in die britische Aristokratie einheirateten und so den einen oder anderen Landsitz des Empires vor der Katastrophe retteten.

Familiendrama

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Grundsteuer in England so drastisch erhöht, dass viele Adelige ihre Ländereien verkaufen mussten. Längst sind einige der traditionsreichen Anwesen in den Besitz von Hedgefonds-Managern oder – schluck, noch schlimmer – Oligarchen geraten. Andere Adelige öffneten, um ihre millionenverschlingenden Anwesen zu retten, die Türen der neugierigen Bourgeoisie zur Besichtigung und erhielten dafür Steuererleichterungen und Eintrittsgelder.

In der «Downton Abbey»-Ära aber gab es im Adel eigentlich nur eine Option: Man vererbte den Besitz dem ältesten männlichen Nachkommen, während die weiblichen leer ausgingen und auf eine geschickte Ehe oder das Wohlwollen der Verwandtschaft angewiesen waren. Vorher bestand der Alltag dieser Frauen im Wesentlichen darin, sich dreimal am Tag umzuziehen. Oder wie Grossmutter Violet es in «Downton Abbey» zusammenfasst: «Du hast keine Meinung zu haben, bis du verheiratet bist. Und dann erklärt dir dein Mann, wie deine Meinung zu sein hat …»

Ebenjenes Drama um die «Titanic» stürzt nun in «Downton Abbey» die Familie Crawley ins Ungewisse; denn der männliche Erbe ist gleichzeitig Cousin, Verlobter von Lady Mary und eine sichere Perspektive für die Familie. Nur leider geht er mit der «Titanic» unter. Nun muss die Familie alles dafür tun, damit der neue Erbe, ein entfernter Cousin, sich ebenfalls in Mary verguckt.

Die minimalistische Arroganz, die vornehme Ungerührtheit angesichts dieses unwürdigen, ja unfeinen Geschachers: Die verkörpert Michelle Dockery tatsächlich meisterhaft. Genau wie die Absurdität und die Verzweiflung, die immer mal wieder, fein wie ein Haarriss, an ihrer ansonsten perfekten Fassade sichtbar werden.

Dabei ist Dockery ganz und gar nicht so aufgewachsen, wie ihr Gebaren und ihr Dialekt es vermuten lassen: Sie stammt aus Essex, dem vielleicht prolligsten Teil Englands. «Meine Familie hätte in Downton Abbey auf jeden Fall zur Dienerschaft gehört. Was jeden, dem ich das erzähle, komplett verblüfft.» Und was wie eine besonders feine, ironische Fussnote inmitten der geballten Akkuratesse der Serie wirkt.

Denn nach wie vor existieren in England Klassenschranken, zwar weniger sichtbar als früher, dafür umso hörbarer. Wer in Essex gross wird, spricht kein feines Englisch. Auf der Schauspielschule lernt man RP, also Received Pronunciation, das Idiom der Höhergestellten. Und wer sich sein Cockney nicht rechtzeitig abgewöhnt, wird es in England weder gesellschaftlich noch als Schauspieler weit bringen.

Vor ein paar Wochen lief in Grossbritannien die mittlerweile dritte «Downton Abbey»-Staffel an. Ein unfassbares Drittel aller fernsehschauenden Haushalte schaltete ein. Dies stellte selbst den parallel laufenden Quotenhit «The X Factor» in den Schatten. Mittlerweile spielt die Handlung in den Zwanzigern. Das Zentrum bilden nach wie vor die Frauen, die der Krieg pragmatischer und der Fortschritt selbstständiger gemacht hat.

Es wird Liebe geben, überraschende Wendungen, und es wird Tod geben. Die wirklich wichtige Erkenntnis dieser Serie aber lautet: Eine Welt, in der Michelle Dockery ein Sexsymbol ist, ist keine allzu schlechte Welt. Vielleicht kommt in hundert Jahren sogar jemand, der den Zauber unserer Gegenwart entdeckt und beschreiben kann.

«Downton Abbey» im ZDF

In England fesselte «Downton Abbey» regelmässig 10 Millionen Zuschauer. In den USA war die Adelsserie beliebter als «Mad Men». Im «Guinnessbuch» gab es gar einen Eintrag als beste TV-Serie der Welt. Noch nie habe eine TV-Reihe so gute Kritiken erhalten.

Und in der Schweiz? Hier lief die erste Staffel quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in vier Teilen freitags um 22.20 Uhr auf SF1 – und das im Hochsommer! Entsprechend ist die Serie bei uns noch beinahe unbekannt. Das ist schade. Zum Glück gibt es die beiden ersten Staffeln bereits auf DVD – und einen Neustart im TV. Diesmal im ZDF, ab dem 23. Dezember.

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Liebreiz und Distanziertheit in perfekter Balance: Michelle Dockery als älteste Tochter der Adelsfamilie Crawley in «Downton Abbey»