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«Kaulitz & Kaulitz» auf Netflix: Da kommt keine Stimmung auf

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«Kaulitz & Kaulitz» auf Netflix: Da kommt keine Stimmung auf

Seit Dienstag läuft die achtteilige Reality-Serie «Kaulitz & Kaulitz» über die Zwillingsbrüder Bill und Tom von Tokio Hotel auf Netflix. Wer gute Stimmung wie im Erfolgspodcast «Kaulitz Hills» erwartet, wird verwundert sein.

Die berührendsten Szenen in «Kaulitz & Kaulitz» werden in Folge fünf gezeigt: Es geht um Bills Sexualität, um das ewige Geheimhalten-Müssen, weil Plattenfirma und Management von Tokio Hotel die unzähligen jungen Mädchen im Glauben lassen wollten, der Leadsänger sei hetero.

Eine TV-Szene aus den Nullerjahren wird eingeblendet; Bill mit grosser Stachelfrisur und schwarzgeschminkten Augen, so, wie der Magdeburger mit 15 weltberühmt wurde. «Nein, ich bin nicht schwul», sagt er mit Profilächeln in die Kamera.

Etwa zwanzig Jahre später. Bill, Mitte dreissig, sitzt mit honigblonder Lockenmähne und XXL-Fingernägeln in der Maske, seine Mutter Charlotte steht daneben. Beide sehen ratlos aus. Sie sprechen über den Besuch der Zwillinge auf dem Oktoberfest in München am Vortag.

Bill knutschte im Promizelt «Käfer» mit einem bekannten Männermodel – das daraufhin, nachdem die Fotos überall in den Boulevard-Medien auftauchten, auf Social Media eine homophobe Hasswelle über sich ergehen lassen musste. Der Tenor: Wie widerlich es sei, dass er etwas mit Bill Kaulitz habe.

«Sie sind so – und ich lasse sie sein»

Als Bill sagt, er könne nicht verstehen, warum die Leute ihre Mitmenschen nicht einfach in Ruhe lassen, erzählt seine Mutter: «Ich habe mir, als ihr Teenies wart, immer anhören müssen, meine Kinder seien anders, sie seien so revolutionär drauf. Die Leute fragten mich: Wer erzieht seine Kinder so?!» Und sie führt fort: «Ich habe dann immer gesagt, ich erziehe sie nicht so – sie sind so. Und ich lasse sie sein.»

Stalkende Fans, aber auch der zunehmende Hass auf die Band mit dem polarisierenden, Gendergrenzen sprengenden Sänger Bill, waren der Grund, warum sich die Zwillinge 2010 – fünf Jahre nach ihrem Nummer-eins-Hit «Durch den Monsun» – gezwungen sahen, nach Los Angeles in die Anonymität auszuwandern. «Meine Kindheit war geprägt vom Wegrennen, Angsthaben, Anderssein», sagt Bill.

Die Spuren von damals

Und heute? Ist gerade Bill von dieser Zeit immer noch spürbar gezeichnet. Das zeigt die neue achtteilige Realityshow auf Netflix, die die berühmten Zwillinge 2023 über acht Monate hinweg durchs Leben begleitete, deutlich. Generell handelt die Serie – wenig überraschend – mehr von Bill als von seinem Bruder Tom, der zwar oft zu sehen ist, aber Bill die Bühne stets überlässt. Für beide scheint das so zu stimmen.

«Hat all das früher viele Spuren hinterlassen und mich verletzt? Auf jeden Fall, 100 Prozent», sagt Bill, der mit «Career Suicide: Meine ersten dreissig Jahre» 2021 schon eine Biografie veröffentlichte. «Mein Liebesleben ist geschädigt. Ich habe auch nie jemanden gefunden, der stark genug gewesen wäre, mit mir ein öffentliches Leben zu leben. Alle hatten immer Angst davor, der Mann an meiner Seite zu sein.»

Dabei wünsche er sich einen Partner, würde auch gern heiraten – so, wie sein Bruder Tom und Model Heidi Klum im Jahr 2019 mehrere Tage lang auf Capri mit einer rauschenden Party ihre Hochzeit feierten. Ein paar Tage, die rückblickend alle drei – Heidi, Tom und auch Bill – in der Serie als die schönste Zeit ihres Lebens bezeichnen.

Die Angst, Heiligabend allein verbringen zu müssen

«Kaulitz & Kaulitz» erzählt oft von Bills Einsamkeit, von der Angst beispielsweise, als Single Heiligabend allein verbringen zu müssen. «Wenn ich an Feiertagen allein bin, wird es ganz dunkel. Dann ertränke ich meine Sorgen im Alkohol», sagt Bill zu Tom – und lacht dann wieder dieses sehr laute Lachen, das einen in «Kaulitz & Kaulitz» immer mal wieder kurz zusammenzucken lässt. Weil man sich denkt: Da lacht jemand, dem gerade eigentlich zum Weinen zumute wäre.

Aber: Auch wenn ihn damals halb Deutschland in die ewige Unsichtbarkeit verdammen wollte, ist und bleibt Bill sichtbar – besonders gern an Orten voller «Spiesser», wie er sagt. Auf dem Oktoberfest beispielsweise, wofür er sich extra pinke Lederhosen hat schneidern lassen – nach bayerischer Trachtentradition ein absolutes No-Go. Oder in der Münchner Allianz-Arena, wohin er Tom ein bisschen widerwillig zum Bayern-München-Spiel begleitet – und zum Bayern-Trikot Overknees und Designerhandtasche kombiniert.

Ikone der Queers

Er habe dann vorher zwar jeweils eine schlaflose Nacht, aber es komme für ihn einfach nicht infrage, sich anzupassen, erklärt Bill. Und diese Authentizität wird nicht nur gehasst, sie wird auch gefeiert. Die gigantischen Szenen des Tokio-Hotel-Konzerts auf dem Christopher Street Day im Juli vergangenen Jahres in Berlin verdeutlichen: Bill ist zu einer queeren Ikone geworden.

Nach allem, was war, ist das nicht selbstverständlich – und hat, diesen Eindruck lässt die Serie entstehen, sicher auch mit Mutter Charlotte zu tun, die, damals wie heute, in einer rührenden Selbstverständlichkeit hinter ihren Söhnen und deren schillernden Leben steht.

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«The party has arrived!»

«Kaulitz & Kaulitz» ist definitiv nicht so spassig, wie man meinen könnte – auch wenn sich Bill und Tom, wann immer sie irgendwo auftauchen, mit «The party has arrived!» ankündigen und sehr schnell Champagnerflaschen geköpft oder Cocktails gemixt werden. Eher ist die Grundstimmung: bedrückt, verhalten, vorwurfsvoll.

Immer wieder schweigen sich Bill und Tom an; streiten – auch heftig. Und obwohl jede Auseinandersetzung mit Gelächter aus der Welt geschafft werden soll, bleibt der Eindruck: So richtig flutscht es zurzeit nicht zwischen den beiden. Und es entsteht die Vermutung: Die Leben der eineiigen Zwillinge, die, bis sie 27 waren, stets zusammen unter einem Dach wohnten, sind gerade zu unterschiedlich.

Der Familienvater und das Party Animal

Da ist auf der einen Seite Tom, der vom gemeinsamen besten Freund Devon als «Hausmann» bezeichnet wird, der regelmässig seine Pflichten im Familienalltag mit Heidi, deren Kindern und den Hunden betont, der sagt, er wolle im nächsten Jahr auf keinen Fall wieder auf Tournee gehen, er brauche eine Pause, vermisse seine Familie.

Und auf der anderen Seite ist da Bill, der erzählt, er sei mit seiner Karriere verheiratet, sich aber so sehr eine Beziehung wünscht, der seine freie Zeit dem Shoppen, Partys und Freund:innen widmet – und der sich häufig darüber beklagt, dass Tom schon wieder zu spät oder überhaupt nicht aufgetaucht sei.

Auf Knopfdruck in Plauderlaune

Wenn der Alltag – obwohl die beiden in den Hollywood Hills nur 15 Minuten voneinander entfernt wohnen und sich beruflich ständig sehen – so unterschiedlich ist, und wenn die eine Person etwas hat, das die andere auch so gern hätte, kann es schwierig werden. Um das nachvollziehen zu können, muss man nicht einmal einen eineiigen Zwilling haben.

Wer die beiden aus der «The Voice»-Jury kennt, ihren Erfolgspodcast «Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood» ab und zu hört oder sich sogar zu den «Kaulquappen», den treusten Hörer:innen, zählt, dürfte über die bedrückte Stimmung in der neuen Netflix-Serie verwundert sein. Denn die Zwillinge sind bekannt für ihre Top-Laune und ihre guten Witze.

Spätestens jetzt wissen wir: Die beiden sind – eigentlich wenig verwunderlich – absolute Showbiz-Vollprofis und kommen offenbar auf Knopfdruck (und mit dem richtigen Drink) in lockere Plauderlaune. Selbst wenn sie sich vor und nach der Aufnahme wenig zu sagen hatten.

Vielleicht verrät «Kaulitz & Kaulitz» ein bisschen mehr über Bill und Tom, als den beiden lieb ist. Und das wäre, genauer betrachtet, Reality-TV vom Feinsten.

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