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Neuer Kinofilm: Wie sich Le Corbusier Eileen Grays Werk zu eigen machte
- Text: Valerie Präkelt
- Bild: Das Kollektiv für audiovisuelle Werke/Soap Factory GmbH
Die irische Architektin und Designerin Eileen Gray entwarf ein Gesamtkunstwerk an der Côte d’Azur – das sich Le Corbusier mit umstrittenen Fresken quasi zu eigen machte. Der Film «E.1027. Eileen Gray und das Haus am Meer» der Regisseurin Beatrice Minger beleuchtet das Schicksal des Baus.
An der Côte d’Azur, in der Ortschaft Roquebrune-Cap-Martin, steht ein weisses Haus am Meer. Vom Wasser aus wirkt der längliche Flachdachbau wie ein Schiff. Bei Wind schlagen die Wellen gegen die Klippen, die Zitronenbäume rascheln. Was wissen die Mauern dieses Hauses über ihre Urheberin, die Architektin und Designerin Eileen Gray? Was könnten sie von Le Corbusier erzählen, der hier ohne Grays Einwilligung die Wände mit Fresken bemalte? Ist es die Geschichte einer Aneignung? Des männlichen Genius, der nicht ertragen konnte, dass eine Frau ein so mächtiges Gesamtkunstwerk erschaffen hat? Oder schlicht der Lust und Laune eines Architekten, der so viel lieber Maler geworden wäre?
Die in Schwyz geborene und in Zürich wohnhafte Regisseurin Beatrice Minger hat dem Mauerwerk zugehört – und lässt die Architektin in ihrem Film «E.1027. Eileen Gray und das Haus am Meer» zurück in ihr Haus kehren. Verkörpert wird Gray in der Hybrid-Dokumentation, also einer Doku mit fiktionalen Elementen, von der irischen Schauspielerin Natalie Radmall-Quirke, deren Stimme in prägnanter Klangfarbe und vor atemberaubender Kulisse berichtet, was hier vielleicht wirklich geschah.
Ab 1925 baut die in Paris lebende Eileen Gray zusammen mit dem 15 Jahre jüngeren Architekturkritiker Jean Badovici, der vielleicht ihr Liebhaber, auf jeden Fall aber ihr Partner war – dazu später im Text mehr –, ein Haus. Er hat sie dazu ermutigt, ist grosser Fan ihres Interieurs und ihrer Möbel. Eileen Gray komponiert Wohnwelten für moderne Menschen, entwirft Stühle aus verchromtem Stahlrohr, Tische aus Glas – sie schafft Designikonen, die nach ihrem Tod in die Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art einziehen und bis heute gültige Massstäbe setzen.
Die 1878 geborene Irin stammt aus einer wohlhabenden Familie, kauft ein Grundstück an der französischen Riviera und ein weiteres in Castellar bei Menton, wo sie später noch ein zweites Haus nur für sich bauen wird. 1929 wird das gemeinsame Projekt in Roquebrune-Cap-Martin fertig. Auch Badovici trägt gestalterische Elemente bei, inspiriert Gray etwa zur Verwendung der schmalen Stelzen. Sie überschreibt das Grundstück auf ihn; warum, ist nicht bekannt. Der Name des Hauses, E.1027, ist eine verschlüsselte Anlehnung an ihre und Badovicis Initialen. Zwei Jahre verbringen sie im Haus am Meer, dann zieht Eileen Gray aus. Sie bleiben befreundet.
«Badovici hatte Le Corbusier zwar erlaubt, die Wände zu bemalen, aber niemand hatte deren Urheberin Gray gefragt»
Ab 1937 ist Le Corbusier regelmässig zu Gast, er ist da schon ein Stararchitekt – und von E.1027 so fasziniert, dass er Gray einen lobenden Brief schreibt. Ob die beiden sich je begegnet sind, ist unklar. Ein Jahr später beginnt er mit den acht Fresken: «Ich habe grosse Lust, die Wände zu beschmieren», sagt Le Corbusier im Film. Es ist ein echtes Zitat von ihm. Ein Bild zeigt eine die Beine spreizende Frau, ein anderes wohl Badovici, Gray und ein Kind, das es nicht gegeben hat.
Badovici hatte Le Corbusier zwar erlaubt, die Wände zu bemalen, aber niemand hatte deren Urheberin Gray gefragt. Für sie war es ein schlimmer Affront, so erfährt man es unter anderem in der von Künstler Peter Adam verfassten Gray-Biografie. Die Fresken passen nicht zu ihrer reduzierten Designsprache. Später, als sie in Vergessenheit geriet – bevor sie post mortem zu einer der einflussreichsten Designerinnen des 20. Jahrhunderts erklärt wurde –, wurde Le Corbusier gar der Entwurf des Hauses zugeschrieben. Er widersprach nicht.
Regisseurin Beatrice Minger«Wie könnte der Film aussehen, damit er Eileen Gray gefallen würde?»
Szenenwechsel: Berlin. Beatrice Minger und Natalie Radmall-Quirke sitzen in einem Café am Zoo Palast, wo am Abend ihr Film gezeigt wird. Draussen rauscht der Berufsverkehr, nicht das Mittelmeer. Radmall-Quirke hat sich ein Jahr auf ihre Rolle vorbereitet: Sie schnitt sich die Haare, lernte Französisch und eignete sich Grays Sprachduktus an. Beatrice Minger recherchiert bereits seit 2019 am Film (Co-Regie führte Christoph Schaub).
Eileen Gray habe vor ihrem Tod alle privaten Dokumente zerstört und wollte, dass nur ihr Werk für sie spreche, sagt die Regisseurin. «Wir gehen nun hin und erzählen einen Film aus ihrer Perspektive. Dürfen wir das? Und wenn ja, wie könnte der Film aussehen, damit er ihr gefallen würde?» Haben sie den Film also für Eileen Gray gedreht? «Ja», beide nicken.
Es sei eine Herausforderung gewesen, der komplexen Figur gerecht zu werden. «Im Zweifelsfall haben wir uns an das gehalten, was Gray vorgegeben hat: sie über ihr Werk zu verstehen. Das Haus zu verstehen», so die Regisseurin. Die Dialoge hat sie anhand von Briefen rekonstruiert, darunter jene, die Gray an ihre Nichte Prunella Clough sendete. Auch das Magazin «L’Architecture Vivante» und Grays und Badovicis darin enthaltener Text «De l’éclectisme au doute» dienten Beatrice Minger als Vorlage.
Oft liest man, dass Eileen Gray aus dem Haus geflohen sei. Vielleicht, weil Badovici zu viel gefeiert hat. Im Film geht Gray erhobenen Hauptes. «Für uns war es sehr wichtig, nicht das Bild eines Opfers zu zeichnen. Sie hat jede Entscheidung bewusst getroffen. Das bedeutet aber nicht, dass sie den Übergriff von Le Corbusier nicht als sehr persönlichen, fast physischen Schmerz empfunden hat», glaubt Beatrice Minger.
«Ich habe das Gefühl, dass ihre Arbeitsphilosophie sie zwar nicht vom Schmerz, aber wenigstens von der Opferrolle befreit hat», ergänzt Natalie Radmall-Quirke. «Ihre Philosophie – so wie wir sie verstehen – lag im Tun und nicht im Besitzen der Dinge, des Hauses etwa. Die Dinge hatten ein eigenes Leben. Meiner Ansicht nach hätte sich Eileen Gray von einem allfälligen Opfernarrativ emanzipiert.»
Doch legen die Frauen, die Eileen Gray vertraut beim Vornamen nennen, ihr damit nicht ebenfalls ein Narrativ auf? Ja und nein. Es gibt fiktionale Szenen, in denen die Interpretation der Filmemacherinnen, ihr Verständnis von Eileen Gray zum Vorschein kommt, etwa wenn Gray vor Wut die Tränen kommen. An anderer Stelle, dort, wo sie eindeutig nicht mehr herausfinden konnten, beweist der Film, der ruhig und formschön erzählt ist, Mut zur Lücke.
«Mir ging es in meiner Darstellung darum, mein Ego herauszunehmen und der Versuchung zu widerstehen, ihr etwas aufzuzwingen», sagt Natalie Radmall-Quirke, die im Film kaum in die Kamera spricht. Deshalb sei das Voiceover so wichtig gewesen. Zuschauer: innen schauen sich das Geschehen an, lauschen Radmall-Quirkes Stimme aus dem Off. «Alles geschah aus Respekt für unser Thema: Wir wollten immer Raum für Interpretation lassen, damit sie, Eileen, im Zwischenraum existieren kann.»
Beatrice Minger ergänzt: Man wisse beispielsweise nicht, ob Gray und Badovici eine romantische Beziehung gehabt hätten. Es sei mehr gewesen als Arbeit, sie hätten eine enge Verbindung gepf legt. Aber sie wisse nicht, ob die Partnerschaft körperlich war. (Gray hatte Beziehungen mit Frauen, vielleicht auch mit Männern.) «Wir mussten uns also immer auch selbst überprüfen: Sind wir auf dem richtigen Weg? Lassen wir die Geschichte sich von selbst entfalten? Oder projizieren wir zu viel hinein?» Das sei es, was am dokumentarischen Arbeiten so spannend sei: «Der Film entwickelt sich von innen heraus. Er führt ein eigenes Leben.»
«Die Fondation Le Corbusier hält die Rechte an den Fresken»
In der Kunstgeschichte nennt man ein Schriftstück, dessen ursprünglicher Text abgeschabt und das neu beschriftet wurde, ein Palimpsest. Le Corbusier hat kein Bild an die Wand gehängt, er hat seine Arbeit dauerhaft an die Wand gemalt. Er machte sich Grays Gesamtkunstwerk zu eigen und markierte das Haus, als wolle er zeigen, wer zuletzt da war. Die Architekturhistorikerin Beatriz Colomina verweist in ihrem Aufsatz «Une maison malfamée: E.1027» auf einen Brief, in dem Le Corbusier 1932 schrieb, dass ein Wandbild «ein Mittel» sei, um «die Wand tumultartig zu zerstören».
Auf der Website der Fondation Le Corbusier wird E.1027 als Randnotiz erwähnt. «Vielleicht war das Haus nur eine Fussnote für ihn», sagt Minger. Aber: Die Fondation Le Corbusier, die bis Redaktionsschluss nicht auf eine Kontaktaufnahme durch die Autorin reagierte, hält die Rechte an den Fresken. Wenn die Crew keine Genehmigung erhalten hätte, die Wandmalereien zu filmen, hätte sie nicht im Haus drehen können. Denn wohin man sich auch wende, so Minger, sie seien überall.
Sie hätten die Fondation überzeugen müssen: «Sie haben das Drehbuch gelesen, hatten viele Anmerkungen – und dann gab es spezifische Auflagen, unter denen wir filmen durften», erzählt Minger. Auch das sei «sinnbildlich für die Machtstrukturen, weil die Fondation Le Corbusier dessen Bedürfnisse und Rechte wahrt, während Eileen Gray keine solche Unterstützung hat.»
Der Gray-Biograf Peter Adam sagte, die Fresken hätten auf Gray wie eine Vergewaltigung gewirkt. «Viele Leute haben mir gesagt, dass man Peter Adam nicht allzu ernst nehmen darf», sagt Beatrice Minger. «Aber es fühlt sich für mich wahr an. Wahrscheinlich hat Gray es im Privaten zu ihm gesagt. Jetzt sagt sie es im Film, weil es zum Ausdruck bringt, wie sie es erlebt hat.»
Im Film habe man kein schlechtes Wort über Le Corbusiers Leistungen als Architekt verloren. «Aber ich glaube, dass die Fresken seine Art waren, sich selbst dem Haus auf den Leib zu schreiben und dadurch die Kontrolle über das Haus zu gewinnen», sagt Minger. E.1027 ist heute ein Museum, Le Corbusiers Wandarbeiten inklusive. Im Film sieht man dank computergenerierter Bilder auch den Ursprungszustand von E.1027; ein posthumes Geschenk an Eileen Gray.
Eine Redewendung besagt, dass alte Mauern die besten Geschichten erzählen. Als stille Betrachterinnen kennen sie die Wahrheit, während wir Menschen unsere eigenen Wahrheiten haben. Zu lange wurde nur die der Männer erzählt.
«E.1027. Eileen Gray und das Haus am Meer» läuft jetzt im Kino.