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«Aftersun»-Regisseurin Charlotte Wells: «Plötzlich war es ein Film über Erinnerung und Trauer»
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Alamy
Der schottischen Filmemacherin Charlotte Wells ist mit ihrem Debütfilm «Aftersun» ein Meisterstreich gelungen. Im Interview erklärt sie, warum sie selber noch immer Antworten auf den Erfolg sucht.
Die grossen Themen werden nie klar benannt, dennoch ist spätestens am Ende des Films allen klar, worum es bei «Aftersun» geht: In ihrem Spielfilmdebüt entblättert die schottische Regisseurin Charlotte Wells Bild um Bild, Szene um Szene, ein tiefes Gefühl, das sich wie ein bleierner Schleier über Zuschauer:innen legt: Trauer.
Bereits bei der Premiere in Cannes erhielt ihre Geschichte um die gemeinsamen Strandferien von Single-Vater Callum (gespielt von Paul Mescal) und dessen 11-jähriger Tochter Sophie (Newcomerin Frankie Corio) eine ausgedehnte Standing Ovation. Seither regnet es reihenweise Preise in den grossen Kategorien Regie, Drehbuch und Hauptdarsteller:innen. Zuletzt nahm Wells einen BAFTA für das beste britische Filmdebüt entgegen; den Preis widmete sie ihrem verstorbenen Vater. Paul Mescal ist derzeit für einen Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert.
Tiefgreifend und kraftvoll
All die Lorbeeren sind verdient: Selten haben wir eine Figur wie Callum auf der Leinwand gesehen, einen jungen Vater, der physisch und oberflächlich gesund scheint, sich liebevoll um seine Tochter kümmert, innerlich aber zu zerbrechen droht. Mescal spielt sie schlichtweg überwältigend. Selten sahen wir diese Rolle aus der Perspektive der kindlichen Erinnerung, reflektiert von der erwachsenen Tochter. Mit «Aftersun» erzählt Charlotte Wells eine Geschichte von Depression, die äusserst subtil, zugleich tiefgreifend und enorm kraftvoll ist.
Zwischen den Award-Terminen schaltete sich die in New York lebende Regisseurin via Zoom zu, um etwas Sinn aus diesen letzten, sehr aufregenden, für sie aber auch aufwühlenden Monaten zu machen.
annabelle: Charlotte Wells, Ihr Film berührt seit der gefeierten Weltpremiere in Cannes Menschen weltweit. Hatten Sie inzwischen Zeit, zu reflektieren? Können Sie sagen, wann dieser Film für Sie angefangen hat? Und aus welcher Motivation heraus?
Charlotte Wells: Es hat tatsächlich eine ganze Weile gedauert, bis ich die Antwort auf diese Frage kannte. Und es war nicht unbedingt die, die ich vermutete.
Sondern?
Die Arbeit am Film begann eigentlich Anfang 2015, also vor acht Jahren. Damals drehte ich meinen ersten Kurzfilm «Tuesday» – schon darin ging es im Grunde um Trauer. Ich konzipierte den Film während meines Abschlussjahrs an der Filmschule. Damals arbeitete ich auch an einer unabhängigen Studie, wo ich erstmals die Idee einer Vater-Tochter-Feriengeschichte teilte. Es war aber eben nur das: die Vater-Tochter-Beziehung, beschränkt auf diese Location, räumlich und zeitlich klar abgesteckt. Allerdings schaffte ich es einfach nicht, die Story zu schreiben. Ich schrieb darum herum, skizzierte die Figuren, notierte Erinnerungen – einen ersten Entwurf des Skripts hatte ich im Februar 2019, vor vier Jahren also. Wenn ich so darüber nachdenke, – wow …
Was passierte in den Jahren zwischen Idee und Skript?
Was ich auf dem Papier sah, war nicht mehr auf die Vater-Tochter-Ferienstory begrenzt – die Erwachsenenperspektive war in die Perspektive der Tochter eingedrungen. Es war ein Film über Erinnerung und Trauer geworden.
Die Geschichte, die wir heute im Kino sehen, basiert auf Ihren privaten Erinnerungen, – ist zu einem Grad also autobiografisch, spielte sich so aber nie ab. Das mussten Sie in Interviews immer wieder klarstellen. Wie gut gelingt es Ihnen, beim Sprechen über den Film Distanz zu wahren?
Dass ich nie auf dieser Ferienreise war und fast nichts, was im Film vorkommt, in den Urlauben mit meinem Vater passierte, macht es relativ einfach, Distanz zu wahren. Aber natürlich sind meine Erinnerungen trotzdem die Grundlage der Geschichte. Etwa die Anreise vom Flughafen ins Hotel spätabends, oder dass mein Vater als mein Bruder gesehen wurde; solche Details bildeten das Grundgerüst, die Fiktion baute ich darüber, um die unterschwelligen Emotionen auszudrücken. Und diese Emotionen sind echt: Es sind meine Gefühle, die der Film zeigt. Der Ausdruck der Trauer ist mein Ausdruck der Trauer. Die Beziehung, die so offen, verspielt und liebevoll ist; auch das ist Ausdruck meiner emotionalen Erinnerung. Und das ist schwierig. Für mich ist es nur schwer vorstellbar, dass ich noch viele Filme machen werde, die derart persönlich sind. Wobei ich glaube, dass noch ein, zwei solcher Geschichten in mir schlummern.
Sie sagten einmal, dass Sie diesen Film machen mussten. Warum war es Ihnen ein so grosses Bedürfnis, diese private Geschichte in einer Form – in diesem Fall in einem Film – mit der Welt zu teilen?
Nach meinem ersten Kurzfilm hatte ich noch immer viele unbeantwortete Fragen, die ich mir in dieser Lebensphase stellen musste. Letztlich ist der Film für mich ein Ventil; die Arbeit daran gab mir die Zeit und den Raum, über diese Fragen nachzudenken und die Dinge auf eine Art zu artikulieren, wie es mir bis dahin nicht möglich war. Es ist interessant, aber auch schwierig, mir zu überlegen, wie ich jetzt, nachdem so viele Menschen den Film gesehen haben, zum Film stehe.
Wie meinen Sie das?
Die Leute haben ihre eigenen Gedanken zum Film, bauen eigene Bezüge und Beziehungen dazu auf. Das vergisst man leicht, wenn man sich zum Schreiben zurückzieht, da erwartet man nicht, dass irgendjemand diese Arbeit einmal zu Gesicht bekommen wird (lacht). Aber das ist natürlich der Zweck der Sache.
Und der Film kommt extrem gut an, hat reihenweise Preise abgeräumt und ist derzeit für einen Oscar nominiert. Dabei ist «Aftersun» kein klassischer Kinohit: Die Geschichte ist sehr poetisch, Bilder und Storytelling inbegriffen, vieles bleibt vage. Sie konnten dieses riesige Interesse daran kaum erwarten, oder?
Nein, aber mir war durch die Reaktionen auf meine Kurzfilme bewusst, dass die Themen anders ankommen als erwartet. Ich schätze, Zuschauer:innen interpretieren die Stillräume und füllen sie mit eigenen Erfahrungen.
Warum glauben Sie, dass ein Film über die Beziehung zwischen einer Tochter und ihrem depressiven Vater gerade jetzt so viele Menschen erreicht?
Natürlich habe ich viel über diese Frage nachgedacht, – ich habe bis heute keine klare Antwort parat. Wir leben sicher in einer Zeit, in der weit offener als je zuvor über psychische Gesundheit gesprochen wird, dann auch in einer Zeit, in der die 90er-Jahre sehr en vogue sind. Diese Dinge erklären mir, warum jüngere Zuschauer:innen sich angesprochen fühlen. Ich vermute aber, es liegt Identifikationspotenzial auf beiden Seiten, in der Perspektive des jungen Elternteils genauso wie seitens des Kindes. Hätte der Film vor zehn Jahren genauso viel Zuspruch bekommen? Ich weiss es nicht. Er scheint auf alle Fälle Momentum zu haben. Falls Sie Theorien haben, warum, würde ich sie liebend gerne hören.
Womöglich hat uns die Pandemie etwas für Mental-Health-Themen geschärft und jetzt herrscht ein Bedürfnis nach Inhalten, die das Thema aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Womöglich gilt dasselbe für den Umgang mit Trauer, die wir mit dem Verlust der alten Weltordnung, den wir derzeit – zumindest im Westen – ein Stück weit kollektiv erleben.
Das stimmt.
Vielleicht zeigt der Film auch, wie stark wir voneinander abhängig sind: Sophie ist von ihrem Vater Callum abhängig, niemand hinterfragt das. Aber an wen kann sich Callum wenden, wenn er zu zerbrechen droht? Wer kümmert sich um ihn? Sehen Sie dieses Thema im Film?
Ja, ich denke, diese Interdependenz ist tief in jeder mehr oder minder positiven Eltern-Kind-Beziehung verankert. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist diese Abhängigkeit sehr einseitig, dann balanciert sie sich aus. Im Film ist die Rave-Szene ein Moment, die das Thema für mich aufgreift. Der Rave steht für den Ausbruch aus der Dependenz, gleichzeitig für den Käfig. Es ist ein Ort der Befreiung, aber es ist eine Freiheit, die sich letztlich umkehrt und zu einem Ort wird, dem man nicht mehr entkommen kann. Ich glaube, das spielt hier ebenfalls hinein.
Alltagsflucht, Isolation, Depression: War es Ihnen wichtig, dass bei all der Schwere auch Momente der Freude im Film zu sehen sind?
Ja, denn es ist oft so, dass man sich fast ausschliesslich an die schönen Momente erinnert, wenn man an jemanden denkt, der nicht mehr da ist. Es war mir deshalb sehr wichtig, diese Momente im Film zu sehen, auch weil sie so essenziell für die Beziehung zwischen Vater und Tochter sind.
Gab es Reaktionen zum Film, die verändert haben, wie sie auf Themen wie Depression und Trauer oder auf die Welt ganz generell blicken?
Es ist interessant zu sehen, wie die Kommentare anderer Leute prägen, wie ich selber über den Film spreche. Extrem spannend finde ich auch, dass nicht nur sehr viel und unterschiedlich interpretiert wird, sondern dass die Leute offenbar ein Bedürfnis haben, überhaupt zu interpretieren. Auch, dass zwar alle zum selben Schluss kommen, aber welche Details dafür wichtig sind, variiert extrem. Das scheint stark von den individuellen Lebenserfahrungen abzuhängen.
Bilder und die Art, wie wir Erinnerungen wahren, sind sehr wichtige Elemente im Film – es steht in starkem Kontrast zu unseren schnelllebigen Social-Media-Bildwelten. Wie halten Sie es privat? Halten Sie die Dinge fest, um Erinnerungen zu wahren?
Nicht wirklich. Tagebuch schreibe ich nicht. Ich habe zwar immer viel fotografiert, aber vor allem Landschaften und Orte. Mir fehlt die Disziplin, – es gab aber einen Punkt in meinem Leben, an dem ich Frieden damit geschlossen habe. Ich vertraue darauf, dass die stärksten Bilder sich einprägen werden; dass ich aufhören kann, mich darauf zu fixieren, möglichst alles konstant festhalten zu müssen. Es mag eine bewusste Entscheidung sein, vielleicht ist es auch einfach eine Ausrede.
Lieber Qualität statt Quantität?
Ja, das auch.
Was lieben Sie am Filmemachen?
Die Sprache des Kinos funktioniert für mich einfach sehr gut, um Emotionen auszudrücken. Dazu liebe ich die kollaborative Arbeitsweise, den sozialen Aspekt, dass man am Set eine Familie bildet; wie man innert kürzester Zeit mit Fremden intensive Beziehungen aufbaut. Und ich liebe es, jeden Tag mit so einem starken und klaren Zielbewusstsein und einer Zweckhaftigkeit aufzuwachen. Das ist in fast jedem Stadium einer Filmproduktion so, aber vor allem in der Kameraarbeit. Wenn sich eine Emotion in einer Aufnahme niederschlägt, hat das für mich etwas wahnsinnig Befriedigendes.
«Aftersun» ist aktuell in Deutschschweizer Kinos zu sehen.