Schauspielerin Esther Gemsch: «Ich kann straffen, so viel ich will – alt werde ich trotzdem»
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Dan Cermak
Die Schweizer Schauspielerin Esther Gemsch ist mit «Die Goldenen Jahre» zurück auf der grossen Leinwand. Ein Gespräch über Champagner, Yoga-Matten – und das Glück, sich jederzeit neu erfinden zu können.
Esther Gemsch erscheint ohne grosses Aufheben. Sie ist einfach plötzlich da, schreitet rasch durch das Lokal, in dem wir uns verabredet haben. «Grüessech! », sagt sie auf Berndeutsch und wirkt dabei überraschend schüchtern, fast etwas verhalten. Sie ist kaum geschminkt, trägt Jeans und ein knalloranges Sweatshirt mit Kapuze, ihre Haare sind zu einem losen Dutt hochgesteckt. Sie sitzt kerzengerade, bestellt Tee, verschränkt die Hände auf dem Tisch. Ein bisschen nervös sei sie schon, gesteht sie, dieses Gespräch sei für sie so etwas – sie holt tief Luft – «wie ein Rückwärts-Delphinsalto, gehechtet vom Zehnmeter-Brett».
Esther Gemsch wiederholt diese Metapher bereitwillig Wort für Wort, fürs Protokoll, sozusagen, denn sie ist gekommen, um über den Kinofilm «Die goldenen Jahre» zu reden, über die Figur der Alice, die sie darin spielt, ganz besonders aber über die Frage: «Wie wollen wir sein, wenn wir älter werden?» Es ist das universelle Thema, das sich als feiner roter Faden durch den Film und um seine Figuren zieht. Und letztlich auch um Esther Gemsch, 66 Jahre alt – und damit genauso alt wie die Alice, die sie verkörpert. Ein öffentliches Nachdenken über das Leben, wie es war, wie es ist und wie es vielleicht noch werden wird, kann einem da schon «herausfordernd» vorkommen.
Auch Alice steht auf einem Sprungbrett. Die attraktive Frau in ihren «goldenen Jahren» erhofft sich nach der Pensionierung ihres Mannes Peter – gespielt von Stefan Kurt – endlich mehr Zweisamkeit und lockt ihn mit Hilfe der beiden erwachsenen Kinder auf eine, so meint sie, romantische Kreuzfahrt. Doch während sie voller Lust (und voller Erwartungen) auf dem Schiff und im neuen Lebensabschnitt eincheckt, zieht sich Peter zurück und mausert sich zum schweigsamen Hypochonder, der – bedrängt von den Erwartungen seiner Frau und übermannt von der neuen Leere in seinem Leben – lieber Halt bei seinem besten Freund sucht, als in der Nähe zu seiner Frau. Was Alice so tief kränkt, dass sie während eines Landausf lugs beschliesst, nicht mehr auf den Luxusdampfer zurückzukehren.
annabelle: Esther Gemsch, die Figur der Alice ist ihre erste grosse Filmrolle seit Langem. Was hat Sie fasziniert?
Esther Gemsch: Diese Balance zwischen Drama und Komödie. Die Ernsthaftigkeit, ja sogar die Tragik, die erst im Nachhinein komisch ist. Das gibt es doch oft im Leben: Ereignisse, die im Moment zwar schrecklich sind, über die man später aber lachen kann.
Der Film wirft existenzielle Themen auf: den Umgang mit der Endlichkeit des Lebens, den Mut zum Aufbruch oder die Suche nach einer neuen Sinnhaftigkeit. Damit können sich fast alle identifizieren.
Genau. Zudem macht der Film uns ältere Menschen sichtbar. Auch das war mir ein Anliegen: Zu zeigen, dass es uns gibt und dass wir nicht einfach in die Unsichtbarkeit entschwinden. Wir haben heute weltweit mehr Alte als Junge. Das ist historisch einzigartig. Doch die meisten kommerziell denkenden Produzent:innen scheuen davor zurück, Geschichten zu erzählen, die zeigen, wie insbesondere wir Frauen alt werden. Sie empfinden das als unsexy. Mehr noch: Sie glauben nicht an den Markt. Welch vergebene Chance! Denn gerade wir alten Frauen haben viel zu erzählen. Wir sind in dieser Gesellschaft eine relevante Grösse.
«Ich kann fitten, straffen und dingsbumseln, so viel ich will – altern tue ich trotzdem»
Sie sind gleich alt wie Ihre Filmfigur. Wie viel Alice steckt in Ihnen selbst?
(Überlegt lang) Ich habe ein ganz anderes Leben geführt als sie. Ich hatte 66 wilde Jahre, während Alice eher traditionell gelebt hat. Ich hatte keine Beziehung, die vierzig Jahre gedauert hat, war immer freischaffend. Aber wie Alice hatte auch ich eine Erwartungshaltung an meinen Partner; bin davon ausgegangen, dass er gleich tickt und dieselben Bedürfnisse hat wie ich – um dann zu realisieren, dass das eben nicht so war. Und auch ich bin dann ausgebrochen. Denn dieses Gefühl, vor einem vollen Teller langsam zu verhungern, ist fürchterlich. Da stirbt etwas in dir drin. Also fasst du den Entschluss: «Stopp! Ich muss etwas tun!»
Was hat diesen Aufbruch ausgelöst?
Als mir mein damaliger Partner eines Tages erklärte, dass ihm mein alternder Körper nicht mehr genüge. Ich fühlte mich nicht respektiert, nicht wahrgenommen als das, was ich bin und noch sein werde. «Zu alt!»: Diese Ansage ist eine brutale Art, auf das Aussehen reduziert zu werden. Das hat mich noch einmal ganz anders durchgeschüttelt.
Und Sie sind dann, um bei den Bildern des Films zu bleiben, nicht mehr an Bord zurückgekehrt.
Ja. Ich war derart vom Schmerz überwältigt, dass mir buchstäblich nichts anderes übrigblieb, als zu laufen, laufen, laufen. Dabei habe ich lang über mich und mein Leben nachgedacht: Wo stehe ich eigentlich? Wo will ich hin? Und wie komme ich dorthin? Das ist ein sehr individueller, schwieriger Prozess. Da helfen einem weder Instant- Lebensweisheiten noch Podcasts à la «Die Frau über fünfzig».
Alt zu werden bedeutet auch ein Abschiednehmen vom Körper, den man einmal hatte.
Genau! Und das Ich wird ja nicht älter, das bleibt irgendwo stehen – und dann sehe ich meine Oberarme, meine Haut, mein Gesicht. Diesen Gap zwischen dem gefühlten und dem biologischen Alter muss ich wieder schliessen, alles andere nützt mir nichts. Denn ich kann fitten, straffen und dingsbumseln, so viel ich will – altern tue ich trotzdem. Vielleich sieht man es der einen oder anderen Person etwas weniger an, aber die Tatsache bleibt, ob man es will oder nicht.
Botox hilft, zumindest den äusseren Alterungsprozess aufzuhalten. Wie verführerisch ist diese Option für Sie?
Botox? Nie, nix, nada! Ich könnte doch keine Alice spielen, eine Schweizer Durchschnittsfrau, wenn ich selbst faltenlos wäre. Aber ich hätte auch absolut kein Problem, das zuzugeben. Ich rauche eine Zigarette pro Tag, trinke gern Rotwein und Champagner und wandere im Bergell durch die Wälder. Das ist mein Jungbrunnen.
Okay, aber Sie werden doch zumindest eine Yoga-Matte haben …
Nein, auch keine Yoga-Matte! Ich finde es eine Zumutung, mit was man sich heute alles beschäftigen sollte: holistische Ernährung, Gesichtsyoga, Zirkularatmung. Und all die Ratgeber – gegen Nasenwarzen, Bauchfett, Cellulite, gegen dieses oder jenes Gefühl: Dieser Druck macht einen doch nur noch fertig! Darf man denn nicht einfach in Ruhe und mit einer gewissen Gelassenheit alt werden? Ich habe einfach Freude, dass ich leben darf.
«Darf man denn nicht einfach in Ruhe und mit einer gewissen Gelassenheit alt werden?»
Viele Frauen klagen, dass es für eine Frau in unserer kapitalistischen, patriarchalischen Gesellschaft sehr viel schwieriger sei, alt zu werden als für einen Mann. Männer würden mit dem Alter interessant, Frauen hässlich.
Es ist erschreckend, wie gross die Geringschätzung vieler Männer gegenüber Frauen nach wie vor ist. Dabei leiden auch Männer unter diesem patriarchalischen System. Denn auch Männer werden älter und dass es auch für sie schwierig ist, zeigt sich bei Peter, Alices Mann. Nach der Pensionierung fällt er in eine Lethargie, kreist nur noch um sich selbst. Erst, als Alice ausbricht, wird er gezwungen, sich ebenfalls neu zu finden.
Mit jedem Jahr, das vergeht, lässt sich die Endlichkeit der eigenen Existenz schlechter verdrängen. Die Zeit, die vor einem liegt, wird unweigerlich kürzer. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe zwei Möglichkeiten: Ich kann mich aufs Abschiednehmen konzentrieren und auf alles, was ich verloren habe: Meine Schönheit, meine Frische, meine straffen Brüste, mein schönes Füdli. Ich darf keine weissen Söckchen mehr anziehen, keine Lackschühchen, darf nicht mehr auf die Rutschbahn – ich kann all dem nachtrauern, mich in Asche hüllen und zugrunde gehen. Oder aber ich kann den Kopf drehen und sagen: Moment mal, immer, wenn man etwas verliert, entsteht auch Raum für etwas Neues. Und dann kann ich mich darauf fokussieren.
Zum Beispiel?
Ha! Ich muss nicht mehr gefallen, nicht mehr anders oder besonders unterhaltsam sein. Letztlich geht es darum, zu sich selbst zu stehen. Früher war das für mich unglaublich schwierig. Als ich es endlich schaffte, war es ein Glücksmoment.
Heute gilt doch die Devise: «Sechzig ist das neue vierzig». Alt zu sein ist doch so was von gestern?
Quatsch! Wir können doch nicht so tun, als wären wir dreissig, wenn wir nun mal sechzig oder siebzig sind. Auch alte Männer werden nicht jünger, indem sie sich mit einer jungen Frau zusammentun. Das musste selbst König David erfahren: Laut der Legende liess er sich die junge Abischag auf den Leib binden, als er alt und gebrechlich wurde, in der Hoffnung, er würde wieder jung. Doch das hat nicht funktioniert – er starb trotzdem.
Alice hat ihr Leben danach ausgerichtet, in ihren «goldenen Jahren» dann endlich so richtig Gas zu geben.
Das ist eine weit verbreitete Erwartungshaltung – und die finde ich ganz gefährlich. Ich wollte immer mit dem Lauf des Flusses schwimmen, mich nie an einem Ast festklammern und denken: Mit 65 lass ich los und gebe Gutzi. Ich wusste ja gar nicht, ob ich überhaupt 65 werde. Viele Menschen dürfen nicht alt werden. Das vergisst man gern. Deshalb sage ich: Spart nichts auf! Wenn ihr etwas unbedingt tun wollt, tut es jetzt! Mein Vater zum Beispiel hatte eine gewaltige Bibliothek. Meine Mutter schimpfte immer, wenn er mit kiloweise Büchern nachhause kam. Er erzählte uns jeweils, dass er sie dann alle lesen würde, wenn er pensioniert sei. Und dann? Er wurde mit 66 pensioniert, setzte sich in einen Korbstuhl und wartete auf den Tod. Er las vielleicht vier, fünf Bücher. Mehr nicht. Es war schauderhaft.
Esther Gemsch bestellt sich noch einen Tee. Den ersten hat sie nicht getrunken, er war kalt geworden. Der Besitzer des Restaurants im Zürcher Niederdorf gesellt sich für einen kurzen Schwatz an den Tisch. Dieses Lokal, erklärt Esther Gemsch, sei so etwas wie ihr erweitertes Wohnzimmer. Hier fühle sie sich geborgen, seit der Pandemie gehe sie kaum mehr woanders hin. Ihre eigene Wohnung liegt ganz in der Nähe, zwei, drei Altstadtgassen um die Ecke, ein Zuhause auf 46 Quadratmetern, ziemlich eng, das Kopfende des Betts steht quasi neben der Kochnische. «Aber ich will mit leichtem Gepäck durchs Alter», sagt sie. «Meine Vergangenheit hat in einer Kiste Platz, und die steht im Keller.»
Zu Beginn ihrer «66 wilden Jahre» hatte Esther Gemsch Opernsängerin werden wollen, weil ihr Vater Maria Callas verehrte. Doch der Traum vom Singen erfüllte sich nicht. Das Gymnasium verliess sie irgendwo auf halbem Weg, einen Schulabschluss machte sie nie. Stattdessen wurde sie im Alter von 16 Jahren während ihrer Ferien in Tunesien vom Fleck weg für die belgische Produktion «Rue haute» engagiert, in der sie die junge Sängerin Annie Cordy spielte. Kurz darauf vermittelte ihr der inzwischen verstorbene Mundartrocker Polo Hofer ein Vorsprechen für «Kleine frieren auch im Sommer»; es war der erste Film in der Schweiz über Jugendliche und Drogen. Erst wurde sie abgewiesen – es hiess, sie sehe zu gut aus, um eine Süchtige zu spielen. Also ging sie nachhause, wusch sich eine Woche lang die Haare nicht und ging dann erneut zum Casting. Nun bekam sie die Rolle.
Danach, erzählt Esther Gemsch, sei alles irgendwie ineinandergeflossen, ein Engagement folgte auf das andere – bis ihre Karriere eine jähe Zäsur erfuhr, deren Gründe sie erst knapp vier Jahrzehnte später im Zuge der «#MeToo»- Kampagne publik machen sollte: In der «Zeit» erhob sie schwere Vorwürfe gegen den kürzlich verstorbenen deutschen Regisseur Dieter Wedel. Er soll versucht haben, die damals 24-Jährige während der Dreharbeiten für die Serie «Die Bretter, die die Welt bedeuten» zu vergewaltigen und habe sie dabei brutal misshandelt. Nach diesem Vorfall fiel Esther Gemsch in ein Loch, war fast zehn Jahre lang nur noch hinter der Kamera tätig, hat viel synchronisiert und Werbungen eingesprochen. Sie habe diese dicke Scheibe zwischen ihr und den anderen gebraucht, sagt sie, das habe ihr Macht und Sicherheit gegeben. Mit Dreharbeiten hingegen wollte sie nichts mehr zu tun haben.
«Ich bin fest davon überzeugt, dass es wirklich jederzeit möglich ist, sich neu zu erfinden»
Esther Gemsch, Ende der 1990er- Jahre sind Sie dann doch wieder vor die Kamera getreten. Wie kam es dazu?
Das Ego. Ich wurde angefragt für das Casting zur Serie «Lüthi und Blanc». Erst sagte ich: mache ich nicht. Aber als ich hörte, dass viele Schauspieler:innen aus dem ernsten Fach ans Casting kommen würden, bin ich hingegangen, um allen zu zeigen: Was ihr könnt, kann ich schon lang. Viele von ihnen hatten mich nicht mehr beachtetet, weil ich nur noch Werbung gemacht hatte. Als ich die Rolle bekam, dachte ich: Oh, nä-ä! – und machte es dann trotzdem. Aber ich hatte unwahrscheinlich Schiss vor dem ersten Drehtag.
Wie haben Sie nun – fast dreissig Jahre später – die Dreharbeiten zu Ihrem aktuellen Film erlebt?
Es herrschte eine wunderschöne Atmosphäre. Bei den jüngeren Männern in meinem Arbeitsumfeld beobachte ich heute eine Herzlichkeit, auch verbunden mit einer Körperlichkeit, die nichts Pushiges hat. Das tut so gut, da kannst du durchatmen. So kann man arbeiten und sich freuen.
Wie gehen Sie heute mit Männern um?
Bei einer plumpen Anmache ducke ich mich innerlich noch immer. Ich übe, übe und übe, aber ich schaffe es nicht, hinzustehen und zu sagen: «Gehts noch!» Ich ertrage es zum Beispiel nicht, wenn jemand sagt: «Aber du bisch no es Härzigs!» Nein! Ich bin 66, ich bin nicht «no es Härzigs» und überhaupt: «Rühr mich nicht an!» Aber ich spreche es nicht aus.
Sie haben drei erwachsene Töchter. Welche Werte geben Sie ihnen mit?
Ich habe meinen Kindern schon früh gesagt: «Macht die Matura, ihr habt den Kopf dazu. Was ihr danach macht, ist mir egal.» Denn leider bin ich in dieser Beziehung gar kein glänzendes Beispiel. (Lehnt sich vor, schreibt mit ihrem Zeigfinger in grossen imaginären Lettern aufs Tischtuch: «Null Ausbildung!») Sie haben auf mich gehört, darüber bin ich froh. Zudem versuche ich, Ihnen einen Leitsatz des österreichisch-israelischen Religionsphilosophen Martin Buber vorzuleben: «Die grosse Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.» Wenn du spürst, dass du in einer Lebenssituation steckst, in der etwas komplett schiefläuft oder dir einfach nicht guttut, sei es beruflich oder privat oder beides, dann verharre nicht, sondern ändere sie. Ich sage nicht, dass das einfach ist. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es wirklich jederzeit möglich ist, sich neu zu erfinden.
Sich neu zu erfinden ist auch ein zentrales Thema im Film.
Genau. In dem Moment, als sich Alice entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen, verändert sich auch etwas in der Struktur ihrer Familie: Jedes Familienmitglied bekommt einen neuen Raum. Das sehe ich auch oft bei mir: Habe ich eine Entscheidung gefällt, wirkt sich das wie eine Kettenreaktion auf die anderen aus. Daran erkennt man immer wieder, welche Wichtigkeit man als Mutter und Vater hat.
Haben Ihre Eltern dies vorgelebt?
Leider nein. Meine Mutter war sehr dominant. Ich habe es meinem Vater lang vorgeworfen, dass er nicht hingestanden ist und sich gewehrt hat. Meine Eltern waren jeder für sich prächtige Menschen, die aber aneinander verkümmert sind. Sie haben einander nicht gutgetan – sind aber zusammengeblieben bis zum bitteren Ende.
2007 haben Sie sich von Brigitte Lacombe für annabelle nackt fotografieren lassen. Und gesagt: «Mit 46 habe ich nach drei Kindern, mich, meinen Körper und meine Endlichkeit entdeckt. Und als ich begann, mich auf mich einzulassen, gab es kein Wenn und Aber mehr. Nur noch etwas: Vorwärts ins Leben. Dieses Bewusstsein hat mich mit einer neuen Sinnlichkeit und Gelassenheit erfüllt.» Auch das ist ein Weg, sich neu zu erfinden. Wie sehen Sie diese Aktion im Rückblick?
Eigentlich noch genauso! Interessant ist aber: Jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, ich sei in meinem Ich angekommen – «et voilà, das ist jetzt mein Raum, jetzt weiss ich, wies funktioniert » –, hat es sich schon wieder verändert. Das Leben ist ein permanenter Prozess, der mich zu dem geführt hat, was ich heute bin und wie ich heute leben darf.
«Was eine Beziehung im Alter ausmacht, ist Freundschaft»
Was haben Ihre Töchter Ihnen beigebracht?
Vor Kurzem bat ich meine mittlere Tochter, mir zu erklären, was das mit dem «woke» auf sich hat. Sie erklärte mir, worum es geht: zu lernen, im Alltag aufmerksamer miteinander umzugehen, zuzuhören, zu überlegen, welches Wort man wählt und welches nicht. Das braucht sehr viel Energie und Training, auch für mich. Aber ich will das. Ich will keine Hängengebliebene sein – weder mir selbst noch der Welt und schon gar nicht meinen Kindern und Enkelkindern gegenüber.
Können Sie sich vorstellen, sich neu zu verlieben?
Alice sagt im Film, sie wolle nicht in Ruhe gelassen werden. Sie sei schliesslich erst 66 Jahre alt. Ich habe in erster Linie das ganz grosse Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden. Was eine Beziehung im Alter ausmacht, ist Freundschaft: für mich ein heiliges Wort. Es birgt Vertrauen, Verständnis, Rücksicht und die Gnade, einander auch mal in Ruhe lassen zu können. Wenn dir jemand sagt: «Sei doch so, wie du bist», ist es der grösste Liebesbeweis. Und verlieben? Wer weiss. Alles ist möglich. Ich habe einfach begriffen, dass das mit der romantischen Liebe zwar irrsinnig schön tönt, aber so vergänglich ist. Das Ideale wäre, wenn man den Moment der Verliebtheit rasch überwinden könnte, um dann in die Realität reinzugleiten, in der man einander wirklich und ernsthaft zu erkennen beginnt.
Wenn Sie zurückschauen auf Ihr Leben, wie sieht Ihre Glückskurve aus?
(schmunzelt) Kurvig, wie eine Wanderung durchs Emmental, «es gohd obsi und nidsi», aber in der Tendenz aufwärts. Ich habe mich glaubs selten so gut gefühlt wie jetzt. Das Leben besteht aus permanenten Überwindungen. Und jedes Mal, wenn man meint, man sei angekommen, kommt schon das nächste Tal, das es zu überwinden gilt. Und der nächste Hügel.
Aber könnte einem das Leben nicht manchmal auch wie ein Strudel vorkommen, in dem man kreist und kreist und nicht vom Fleck kommt?
Wissen Sie, als ich jung war, ging ich immer beim Marzilibad in der Aare schwimmen. Damals erklärte mir ein sehr alter Schwimmlehrer, wie man sich aus einem Strudel befreit: Es sei sinnlos, gegen das Wasser anzukämpfen. Man müsse sich dem Strudel ergeben, sich gegen den Boden herunterziehen lassen, da der Sog ganz unten am schwächsten sei – und dann aus dem Strudel herausschwimmen. Dieses Wissen hat mir das Leben gerettet, als ich einmal tatsächlich in einen Strudel geriet. Und jetzt, wo Sie das so sagen: Irgendwie ist es auch ein gutes Sinnbild fürs Leben. Manchmal muss man sich dem Sog einfach für eine gewisse Zeit ergeben –, um dann von ganz unten wieder weg- und aufzutauchen.
Eine tolle Frau und noch immer attraktiv! 🙂