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Sabine Gisiger über ihren Film zum Jelmoli-Aus: «Das Warenhaus war ein Motor für die weibliche Emanzipation»

Sabine Gisiger über ihren Film zum Jelmoli-Aus: «Das Warenhaus war ein Motor für die weibliche Emanzipation»

Am 28. Februar 2025 wird das Zürcher Warenhaus Jelmoli für immer schliessen – und damit ein Stück Schweizer Geschichte zu Ende gehen. Sabine Gisiger hat der Ikone eine filmische Biografie gewidmet. Sie handelt von Emanzipation und Faschismus, von Innovationskraft und Kolonialismus.

annabelle: Sabine Gisiger, Sie befassten sich als Regisseurin wiederholt mit historischen Stoffen. Sie haben die Biografie von Friedrich Dürrenmatt aufgearbeitet, sich filmisch den Frauen im Leben des Architekten Mies van der Rohe genähert. Wie kamen Sie darauf, die Biografie eines Warenhauses zu verfilmen?
Sabine Gisiger: Als ich vergangenen Februar erfuhr, dass der Jelmoli schliessen wird, war ich so betroffen, dass ich noch am selben Tag hinfuhr. Ich kaufte zwar längst nicht mehr dort ein, trotzdem stiegen Kindheitserinnerungen in mir hoch. Dann fand ich heraus, dass das Firmenarchiv von Jelmoli erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Ein unberührtes Archiv! Für eine Historikerin wie mich ist das ein Glücksfall.

In «Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» erzählen Sie anhand von Archivmaterial die Geschichte des Zürcher Warenhauses. Doch Ihr Dokumentarfilm lebt auch von den Zeitzeugen – Frau Stierli etwa, die als junge Frau hier arbeitete, oder Frau Gnädinger, die vom Direktor einst mit einem Namensschild mit Brillant für ihre langjährige Mitarbeit geehrt wurden –, die darin zu Wort kommen. Wie machten Sie diese ausfindig?
Nach zwei Monaten intensiver Arbeit im Archiv stellte sich mir die Frage, wie ich das historische Material zum Leben erwecken sollte. Und wie jedes Archiv hatte auch dieses Lücken, die es zu schliessen galt. Also suchte ich mit einem Aufruf in den Sozialen Medien nach Zeitzeugen. Es meldeten sich Verkaufspersonal und auch Marianne Ernst, die Urenkelin von Franz Anton Jelmoli, der 1899 an der Zürcher Bahnhofstrasse das Warenhaus Jelmoli gegründet hatte. Marianne Ernst verfügte über Privataufnahmen ihrer Grossmutter, der Tochter von Franz Anton Jelmoli, die wir restaurieren konnten, um aus erster Hand von der Entstehung des Jelmoli zu erfahren.

Was erzählte die Tochter über ihren Vater, den Jelmoli-Gründer?
Dass er gelangweilt war. Franz Anton Jelmoli musste das Konfektionsgeschäft seines Vaters, eines aus Italien eingewanderten Tuchhändlers, am Zürcher Münsterhof übernehmen. Um der Langeweile zu entkommen, las er viel, unter anderem Émile Zolas Roman «Au Bonheur des Dames». Die Geschichte des Pariser Kaufhauses, des Paradieses der Damen, diente Franz Anton Jelmoli als Vorbild, er reiste nach Paris und Berlin, um zu sehen, wie die Kaufhäuser aussahen, die dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Zurück in Zürich gründete er 1899 eine AG und eröffnete sein eigenes Warenhaus.

Émile Zola taufte das Warenhaus in seinem Roman auf «Das Paradies der Damen» und wählte eine Frau als Protagonistin. Welche Rolle spielte der neue Jelmoli für die Frauen im Zürich der Jahrhundertwende?
Das Warenhaus bot Frauen, auch unverheirateten vom Land, Arbeit an. Sie waren hier nicht als Dienstmädchen tätig, sondern bekamen eine Stelle mit Aufstiegsmöglichkeiten und einer gewissen Sichtbarkeit. Andererseits war das Warenhaus für bürgerliche Frauen auch eine Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen und sich ohne männliche Begleitung mit anderen Frauen zu treffen. Im Jelmoli gab es ein Restaurant, eine Leihbibliothek und eine Kinderbetreuung, ganz nach dem Vorbild von Zolas Roman. Das Warenhaus war ein Motor für die weibliche Emanzipation.

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«Man bezeichnete die Warenhäuser als Kathedralen des Konsums, in denen die Waren angebetet würden wie Götter»

Gleichzeitig wurden Frauen als Konsumentin zum Ziel von Marketingmassnahmen, nicht nur Emile Zola sah in dieser Entwicklung eine neue Form der Unterwerfung der Frauen unter die kapitalistische Logik des Markts. Einem Vampir gleich würde die Mode die Frauen locken und verführen.
Die Emanzipation der Frauen bedeutete auch, dass sie gesehen und erkannt wurden, auch als Konsumentinnen mit eigenen Interessen. Die industrielle Revolution brachte die Massenproduktion mit sich und eine Revolution des Handels: Plötzlich gab es mehr Güter, als notwendig waren, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Das Warenhaus war von Beginn an ein Ort, an dem Begehrlichkeiten neu geschaffen wurden. Das hat die Warenhäuser früh in Kritik gebracht. Man bezeichnete sie als Kathedralen des Konsums, in denen die Waren angebetet würden wie Götter.

Das Geschäft aber funktionierte, auch die Konsumentinnen waren glücklich. Wo lag also das Problem?
Das Geschäft funktionierte eben nicht für alle. Die traditionellen Detailhändler in ihren kleinen, dunklen Läden mit dem seit Jahrzehnten unveränderten Angebot wurden von den neuen schillernden Warenhäusern bedroht. Darum dreht sich auch die Geschichte in Zolas Roman. Was als Konsumsucht bezeichnet wurde, war also schon früh auch eine Angst vor dem Fortschritt und der Konkurrenz. Die Situation verschärfte sich mit dem Aufkommen des Antisemitismus in den 1930er Jahren.

Wie meinen Sie das?
Die Hälfte aller Warenhäuser der Schweiz wurden von jüdischen Einwandererfamilien gegründet. Auch Jelmoli ging nach dem Rückzug von Franz Anton Jelmoli 1919 in jüdische Hände über. Der neue Direktor Sigmund Jacob war seit der Gründung im Unternehmen tätig und kam bereits als junger Mann in die Schweiz. Aber als in den 1930er Jahren der Antisemitismus auch hierzulande neue Dimensionen annahm, warf man den jüdischen «Ausländern», wie die eingebürgerten Juden genannt wurden, vor, auf Kosten des Schweizer Detailhandels das grosse Geschäft zu machen. Die Frontisten, die nationalsozialistische Bewegung der Schweiz, riefen zum Boykott der Warenhäuser auf. Globus schaltete ein Inserat in der NZZ, worin stand, dass Verwaltungsrat und Direktion des Globus ausnahmslos aus «bodenständigen», «nicht-eingekauften» Schweizern bestünden. War das nun Antisemitismus? Oder nutzte man die Gunst der Stunde, um die Konkurrenz zu diskreditieren und das eigene Geschäft zu steigern? Wahrscheinlich war es beides.

Wie erfolgreich war diese Propaganda?
Die Kundschaft beeindruckte sie wenig, aber auf politischer Ebene war sie durchaus erfolgreich. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre spitzte die Situation zu. Der Verband der Detailhändler forderte den Bundesrat dazu auf, die Warenhäuser einzudämmen. In einem Schreiben an die Regierung bemängelte der Verband etwa, dass die Arbeiterklasse in den Warenhäusern billige Güter kaufen könne. Das würde sie in eine Welt versetzen, von der sie sonst nur träumen könne. Was ist Ideologie und was ist der Versuch, die Konkurrenz auszubremsen? Schwer zu sagen. Was uns heute nicht bewusst ist: Die Warenhäuser waren damals ein Ort für gute und billige Ware. Dass Warenhäuser auch für Luxus und Premium-Angebote stehen, ist eine neuere Entwicklung.

«Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» zeigt ungesehenes, historisches Filmmaterial, in dem die Warenhäuser in ihrer ganzen Grandezza zu sehen sind, aufwändig dekoriert und von eleganter Kundschaft besucht. Der Eindruck täuscht also?
Nicht unbedingt, der Jelmoli war glamourös und das Geschäftsmodell so einfach wie effektiv: Grosser Umsatz mit kleiner Marge. Im Gegensatz dazu gingen die Detailhändler früher von einer geringeren Stückzahl, dafür mit grösserer Marge aus. Die Massenproduktion ermöglichte tiefere Preise, und dank verbesserter Verkehrswege war es ausserdem möglich, Waren aus der ganzen Welt anzubieten. Der Orientteppich wurde zum Statussymbol. Auch im internationalen Handel war die Kolonialmacht Frankreich Vorbild.

In Zürich wurden die sogenannten «Weissen Wochen» etabliert. Was war das?
Eine Erfindung aus Frankreich. Das Geschäftsmodell der grossen Stückzahlen bei kleiner Marge bedeutete auch, dass die Lager regelmässig geräumt werden mussten. Der Ausverkauf war erfunden. Eine besondere Form davon waren die «Weissen Wochen». Während der Sommermonate wurde eine «Semaine Blanche» ausgerufen, in der man nur weisse Waren verkaufte: weisses Geschirr, weisse Kleidung, weisse Lampen. Alles zu unschlagbar tiefen Preisen.

Warum ausgerechnet die Farbe Weiss?
Der Ursprung der Weisswaren war die weisse Unterwäsche, diese Lagerbestände wollte man im Sommer loswerden. Aber natürlich schwang da auch die koloniale Vorstellung der weissen, sogenannt zivilisierten Gesellschaft in Abgrenzung zu den Kolonien mit, deren Bevölkerung man als unzivilisiert erachtete und zugleich bewunderte. Damit spielten damals auch die Dekoration und das Marketing.

Die «Weissen Wochen» wurden mit Umzügen durch die Stadt Zürich angepriesen.
Ja, die Umzüge hatten das Ausmass des Zürcher Sechseläuten. Da liefen Jelmoli-Mitarbeiter:innen in weisser Kleidung mit geschwärzten Gesichtern durch die Strassen, Blackfacing in den 1920er Jahren!

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Eine fragwürde Marketingstrategie.
Tatsächlich. Sie widerspiegelt den Zeitgeist der 1920er Jahre, den Exotismus und den gängigen Rassismus. Mit seinen Marketingmassnahmen reagierte Jelmoli immer schnell auf den Zeitgeist, deswegen ist das Haus auch ein derart guter Spiegel der Zeitgeschichte. Als die GIs nach dem Krieg zum Erholungsurlaub in die Schweiz geschickt wurden, kreierte Jelmoli spezielle Angebote, druckte auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Broschüren und schuf Erholungsräume für die Soldaten. Und als in den 1960er und 1970er die Jugendkultur mit eigener Musik und Mode in England erstarkte, schickte Jelmoli die junge Verkäuferin Fräulein Stierli nach London, um den Trends nachzuspüren.

Damals brauchte es noch Frau Stierli und die einschlägigen Magazine, um die Trends aus London zu kennen. Heute gibt es das Internet, das endlos Informationen und eine riesige Auswahl an Waren anbietet. Sind Konsument:innen heute selbstbestimmter als damals?
Ich bezweifle, dass man heute selbstbestimmter, also rationaler einkauft. Die Verführung hat meines Erachtens eher zugenommen. Man muss heute nirgendwo hingehen, man muss nicht einmal mehr das Portemonnaie zücken, um zu kaufen. Und die Marketinginstrumente sind heute viel raffinierter. Im Warenhaus bot man einer breiten Käuferschaft das an, was gerade in der Luft lag. Heute wissen die Algorithmen besser als wir selbst, worauf wir Lust haben, und bombardieren uns mit entsprechenden Angeboten. Die Gesellschaft ist diverser und gespaltener als früher. Die Algorithmen bieten die Möglichkeit, uns individuell zu verführen.

Der technische Fortschritt hat das Warenhaus am Ende obsolet gemacht. Das Warenhaus war aber zugleich immer ein Ort, der vom technologischen Fortschritt geprägt war. Hier kamen die ersten Rolltreppen zum Einsatz, dank der Elektrifizierung leuchteten die Schaufenster Tag und Nacht, auf dem Dach des Jelmoli landete zu Marketingzwecken ein Hubschrauber.
Ja, das Warenhaus war immer ein Treiber für den Fortschritt, weil es Innovationen blitzschnell integriert hat. Jelmoli war auch einer der ersten Orte in der Schweiz, in denen ein Computer eingesetzt wurde. Ein Mitarbeiter wurde nach Amerika geschickt, um rauszufinden, wie diese neuen Geräte funktionierten. Interessanterweise wurde der Computer im Versandhandel, der für Jelmoli immer wichtig war, genau dann entscheidend, als die Emanzipation der Frau fortschritt.

«Jelmoli war wie eine Linse, das Warenhaus fing das Zeitgeschehen ein»

Wie das?
Beim Versandhandel zog ursprünglich der Briefträger das Geld für die Einkäufe ein. Aber weil die Frauen zunehmend gearbeitet haben und ausser Haus waren, war niemand da, um die Tür zu öffnen und die Nachnahme zu bezahlen. Der Computer konnte das Problem lösen, er wurde zur Fakturierung eingesetzt.

In zwei Monaten wird Jelmoli schliessen. Sie haben dem Ende des Hauses in Ihrem Film nur einen kurzen Epilog gewidmet. Warum?
Ich bin sicher, dass sich die Presse mit den Gründen und Vorgängen, die zur Schliessung führten, ausgiebig beschäftigen wird. Ich glaube auch, dass das Medium Film für die detaillierte Darstellung dieser Zusammenhänge nicht geeignet ist. Hingegen war die Geschichte des Hauses optisch derart interessant, dass ich meine Filmzeit darauf verwenden wollte.

Trotzdem, wenn das Warenhaus ein Spiegel der Gegenwart ist, was sagt es über unsere Zeit aus, dass Jelmoli nach 125 Jahren schliessen wird?
Wir leben in einer globalisierten Welt, in der uns Waren aus aller Welt nicht mehr zum Staunen bringen. Wir kaufen online ein. Und die Immobilienspekulation ist ein treibender Faktor unserer Zeit: Der Jelmoli an der Zürcher Bahnhofstrasse ist eines der teuersten Gebäude der Schweiz, gehört keinem Detailhändler, sondern Swiss Prime Site, einem der grössten Immobilienhändler des Landes. Die unteren Etagen werden zwar in Zukunft von Manor bespielt, doch der grösste Teil des Hauses wird zum gehobenen Bürogebäude. Jelmoli war wie eine Linse, das Warenhaus fing das Zeitgeschehen ein – und so tut dies auch sein Ende.

«Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» läuft am 9. Februar 2025 um 22.45 Uhr auf SRF 1 sowie in diesen Kinos.

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