Das steckt hinter dem Phänomen Tiktok
- Text: Daniel Gerhardt; Bilder: Tiktok, Instagram
Tiktok ist das soziale Netzwerk der Stunde. Kein Konkurrent wächst schneller, nirgendwo sind die Nutzer jünger. Was macht den Videodienst aus China so erfolgreich? Und was macht er mit seinen Nutzern?
Auf einem mittelhohen Hügel, hinter einem sehr hohen Zaun steht irgendwo in Hollywood das Hype House. Riesige Wohn- küche, grosszügiger Pool, zehn Zimmer, 13 Bäder. Bis zu zwanzig junge Menschen leben je nach aktueller Auslastung in der Villa, sie sehen einander sehr ähnlich und sie haben alle den gleichen Job. Von morgens bis abends und meistens auch noch spät in der Nacht produzieren die Bewohnerinnen und Bewohner Videos für die Social-Media-Plattform Tiktok. Sie tanzen und sie lachen, sie kuscheln mit Hunden, sie spielen Volleyball, und einmal basteln sie mit Hilfe eines prominent gefilmten Energydrinks eine Art Raketenantrieb, der die jungen Leute vom Dach ihrer Villa in den Pool schiesst.
Überwiegend weisse, überwiegend normschöne Teenager, die mit Mittelscheiteln und farbenfrohen Oversized-Klamotten an klassische Boygroup-Looks der späten Neunzigerjahre anknüpfen, machen im Hype House also ganz normale Teenager-Sachen und teilen sie in Form von 15-sekündigen Videos mit der Welt. Es geht um Zeitvertreib und Produktplatzierungen, unterbrochen von kurzen Drama-Momenten, wenn etwa Hype-House-Insasse X seine Beziehung zu Hype-House-Insassin Y beendet oder Hype-House-Insasse Z das Hype House verlässt, um ein eigenes House zu gründen. 18.7 Millionen Menschen folgen dem Mannschaftsaccount auf Tiktok. Die Einzelaccounts der Mitglieder sind teilweise mehr als dreimal so reichweitenstark.
@addisonre @brycehall
Zeitenwende im Influencer-Geschäft
Das Hype House gibt es erst seit Ende 2019, aber einmal schon musste seine Location verlegt werden. Vielleicht wegen eines unvorteilhaften Mietvertrags (die offizielle Version), vielleicht aber auch, weil zu viele Follower versucht hatten, sich Zugang zu verschaffen (die inoffizielle Version). Grosse Tiktok-Stars wie Addison Rae oder die D’Amelio-Schwestern Charli und Dixie sind ausgezogen, andere grosse Tiktok-Stars wie Larri Merritt sind dafür eingezogen. Niemand im Haus geht auf den ersten Blick als Künstler durch, aber alle sind sogenannte Content Creators, was 2020 womöglich dasselbe bedeutet.
Nächstes Jahr wird das US-Fernsehen die zwanzigste und letzte Staffel der Reality-TV-Show «Keeping up with the Kardashians» ausstrahlen. Ebenfalls nächstes Jahr wird ausserdem eine neue Reality-TV-Show über das Hype House anlaufen. Man kann darin eine Zeitenwende im Geschäft der Influencer erkennen: Während die Kardashian-Schwestern und einige nahe Verwandte ihre Milliarden noch mit Schmink- und Beauty-Tipps auf Instagram und Youtube scheffelten, operieren die Mitglieder des Hype House vornehmlich auf Tiktok. Kein soziales Netzwerk ist 2020 schneller gewachsen, längst hat die App angestaubte Konkurrenten wie Twitter und Snapchat überholt. Mehr als 800 Millionen Nutzer soll Tiktok derzeit haben, die meisten davon im Teenager-Alter.
Hört man sich unter einigen dieser Teenager um, fällt zunächst einmal auf, dass sich ihr Nutzerverhalten ähnelt. Viele öffnen die App ohne konkretes Ziel und lassen sich dann von Inhalt zu Inhalt treiben, oft mehrere Stunden am Tag. Sie verwenden Tiktok eher passiv, kommunizieren kaum mit anderen Nutzern und drehen höchstens mal im Beisein ihrer Freunde ein eigenes Video. Die meisten sind sich einig, dass sie zu viel Zeit auf Tiktok verbringen, aber die wenigsten nehmen sich vor, daran etwas zu ändern. Ausserdem berichten fast alle, dass ihre Eltern regelmässig Jugend- und Datenschutzbedenken anmelden.
Menschen fallen hin, führen Kunststückchen vor, machen sich zum Affen
Ein Selbstversuch. Tiktok empfängt mich mit dem Tanzvideo einer sehr jungen, sehr vollbusigen Nutzerin, die zum Song «Wap» (kurz für «Wet Ass Pussy») von Cardi B und Megan Thee Stallion tanzt (21 200 Likes). Es folgen ein Tutorial zur Bemalung von iPhone- Schutzhüllen (1.1 Millionen Likes), eine Anleitung zum Arschwackeln, ebenfalls vorgeturnt von einer sehr jungen Nutzerin (443 000 Likes), ein Affe, der in einem Abwaschbecken badet (40 800 Likes), ein Rapper, der in Häftlingskleidung vor einer Polizeiwache tanzt (7.7 Millionen Likes), eine Frau mittleren Alters, die mit Dildo und versiegeltem Nutellaglas den Prozess der Entjungferung veranschaulicht (537 000 Likes) und schliesslich Dieter Bohlen, der mit seiner Freundin im Bett liegt und ihr nervige Fragen stellt (335 000 Likes). Ich habe fürs Erste genug gesehen.
@charlidamelio dc @yodamnmomma
THICK (feat. Megan Thee Stallion) (Remix) – DJ Chose & Megan Thee Stallion
Meine Synapsen haben sich an Tiktok angepasst
Schon wenig später bin ich jedoch zurück und wische mich wieder von Video zu Video. Der Tiktok-Algorithmus gilt als besonders lernfähig und leistungsstark: Aus vergleichsweise wenigen Informationen stellt er in Kürze ein Programm zusammen, das mich erstaunlich lang bei der Stange hält. Dieter Bohlen und halbnackte Teenage-Tänzerinnen verschwinden weitgehend aus meinem Feed, alberne und absurde Videos übernehmen das Kommando. Menschen fallen hin, Menschen führen Kunststückchen vor, Menschen machen sich zum Affen. Nicht ein einziges Mal komme ich auf die Idee, mit anderen Tiktok-Nutzern Kontakt aufzunehmen oder eigene Videos zu drehen.
Durch pausenlosen Videostream im Dämmerzustand
Nach einigen Tagen der unregelmässigen Nutzung bemerke ich, dass sich nicht nur der Algorithmus an meine Vorlieben angepasst hat, sondern auch meine Synapsen an Tiktok. Die App wirkt nicht mehr so grell und kreischig auf mich wie im Erstkontakt. Es ist nun eher ein gar nicht so unangenehmer Dämmerzustand, in den mich der pausenlose Videostream versetzt. Ich wische, also bin ich. Meistens verlasse ich Tiktok nicht mehr aus eigener Kraft, sondern weil das echte Leben anklopft: Ein Paketlieferant läutet, eine Voice Message kommt rein, ein Baby schreit.
Erste Frage: Was geschieht mit mir? Zweite Frage: Was geschieht mit den 800 Millionen anderen Nutzern? Offensichtliche Antwort: Genau das, was der chinesische Byte-Dance-Konzern mit uns geschehen lassen will. Ende 2017 hat das Tech-Unternehmen aus Peking die Karaoke-App Musically aufgekauft und ihre 200 Millionen Nutzer mit den eigenen Tiktok-Nutzern zusammengeführt. Seit August 2018 ist die App nahezu weltweit verfügbar. In China firmiert sie unter dem Namen Douyin, mit 500 Millionen Nutzern, unzähligen Angeboten zum Geldausgeben sowie Datensammel- und Überwachungsgepflogenheiten, die für internationale Märkte angeblich nicht – oder noch nicht – gelten.
Kaum verschleierte Nutzerüberwachung
Es gilt als offenes Branchengeheimnis, dass Byte-Dance die chinesische Regierung mit Informationen über inländische Nutzer versorgt. Dass der Konzern auch ausländische Inhalte an die Interessen der Volksrepublik anpasst, ist zumindest wahrscheinlich: So spielten etwa Videos über die Unabhängigkeitsproteste in Hongkong eine verdächtig kleine Rolle auf der Plattform. In Indien verschwand Tiktok zeitweise aus den App-Stores, in den USA befürchtete die Trump-Administration chinesische Spionageaktivitäten. Ab dem 12. November, vielleicht auch schon früher, soll die App dort nicht mehr zum Download stehen (Stand bei Redaktionsschluss). Die Regierung drängt auf einen Verkauf der US-Sparte von Tiktok an amerikanische Bieter. Das Tech-Unternehmen Oracle und der Walmart-Konzern würden gern zugreifen, die chinesische Regierung soll den Deal jedoch blockieren.
Steht das Hype House also vor dem Aus? Wird Tiktok zum Bauernopfer eines geopolitischen Lattenmessens? Oder lässt sich sein Siegeszug gar nicht mehr stoppen? Schon jetzt hat die App einen enormen kulturellen Fussabdruck hinterlassen. Beinahe täglich spriessen neue Tiktok-Popstars aus dem Boden. Der Rapper Lil Nas X schaffte mit seinem Tiktok-Hit «Old Town Road» sogar die langlebigste Nummer eins der US-Chartgeschichte. Während sich Talentscouts früher auf Konzerten die Beine in den Bauch standen, grasen sie heute das Tiktok-Feld nach neuen Entdeckungen ab. Zahlreiche Künstler haben es mit wenigen Musikschnipseln bereits zu hochdotierten Plattenverträgen gebracht. Weltstars wie Justin Bieber bemühen sich derweil mit massgeschneiderten Tiktok-Songs um Anschluss.
Spass für die User, Erlös für den Anbieter
Die engmaschige Verbindung von Pop und Content ist jedoch nur einer von vielen Gründen für die Popularität von Tiktok bei einem überwiegend jungen Publikum. Die App ist nicht nur eine hervorragende Zeittotschlägerin, sondern erlaubt auch zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten. Tiktok-Videos zu drehen, zu schneiden und musikalisch zu untermalen, ist buchstäblich kinderleicht. Dabei ist eine gewisse Ungeschliffenheit dem Erfolg sogar eher zu- als abträglich. Nichts ist schlimmer als ein Nutzer, der sich zu sehr anstrengt.
Tiktok ist ausserdem ehrlich zu seinen Nutzern, zumindest wenn man der firmeneigenen Logik folgt. Anders als der Boomer-Stammtisch Facebook, die hochglänzende Filterparade von Instagram oder der selbsterklärte Kurznachrichtendienst Twitter will die App gar nicht erst behaupten, dass sie einem höheren Zweck diene. Alles ist Spass und flüchtig und geprägt von scheinbar flachen Hierarchien. Immer wieder verhilft der Algorithmus auch Videos von Menschen mit kleiner Followerzahl zu plötzlichen Publikumserfolgen. Wenn es dann noch die Eltern ärgert, ist das natürlich umso besser.
Jeder kann also ein Star sein, zumindest für 15 Sekunden, der Dauer eines gewöhnlichen Tiktok-Clips. Darin liegt das grosse Versprechen der App, doch damit endet auch ihre Ehrlichkeit. Richtig ist nämlich eher, dass auf Tiktok jeder davon träumen kann, ein Star zu sein, während die Stunden und Clips, die offensichtlichen und versteckten Werbeblöcke an einem vorbeirauschen. Jeder Content Creator arbeitet am eigenen Durchbruch, aber mehr noch für die Erlöse des Byte-Dance-Konzerns.
Unappetitliche Tiktok-Trends werden nicht aufgehalten
Als vor zehn Jahren der Facebook-Thriller «The Social Network» ins Kino kam, stand auf den Filmpostern, dass es niemand zu 500 Millionen Freunden bringen könne, ohne sich auch ein paar Feinde zu machen. Über Tiktok liesse sich Ähnliches sagen: Den grössten Kinderspielplatz der Welt betreibt man nicht, ohne dass hin und wieder jemand mit blutiger Nase nachhause geht. Die schiere Menge an Videos macht es nahezu unmöglich, alle Clips auf manipulative, gewalttätige, pornografische oder sonst wie jugendgefährdende Inhalte zu überprüfen. Selbst wenn man den Algorithmus in andere Richtungen trainiert, spült er hin und wieder Videos an, die offensichtlich minderjährige Protagonistinnen in problematischen Posen zeigen.
Nicht nur in dieser Hinsicht scheint es sowohl den Nutzern der App als auch deren Content-Überwachern bisweilen am passenden Urteilsvermögen zu fehlen. Zu den unappetitlicheren Tiktok-Trends gehören auch virale Videos, in denen vornehmlich weisse Nutzer ihre Lippen und Körper zu schwarzer Rapmusik bewegen – und dabei auf unbeabsichtigte bis unverhohlene Weise rassistische Stereotype bedienen. Hinzu kommt die weit verbreitete Praxis des sogenannten «Queerbating»: Nutzer kokettieren aus Gründen der Reichweitensteigerung mit homo- und bisexuellen Coming-outs – nur um das Ganze wenig später als Witz zu entlarven.
Auch die Videos aus der Hype-House-Schmiede spielen nicht zuletzt in ihrer Boygrouphaftigkeit mit queeren Andeutungen, ohne sich jemals von den heteronormativen Erzählungen der Influencer zu lösen. Dabei steckt schon in der Bezeichnung des Tiktok-Kaders als «House» eine Form der kulturellen Aneignung: In der New Yorker Ballroom Culture der mittleren und späten Achtzigerjahre dienten die sogenannten Houses als Zufluchtsorte und Gesinnungsgemeinschaften einer Szene, die sich vor allem aus homosexuellen und trans Personen mit afro- oder lateinamerikanischem Background zusammensetzte. Sie gaben mehrfach marginalisierten Menschen ein Zuhause.
Rassistisch geprägte Parameter im mächtigen Tiktok-Algorithmus
Diese politische Dimension des Begriffs geht bei den überwiegend weissen, gut situierten Hype-House-Bewohnern mit der ersten Arschbombe des Tages im Infinity-Pool verloren. Dass es der Tiktok-Community gelingen wird, ein flächendeckendes Feingefühl für solche und andere Implikationen ihres Treibens zu entwickeln, ist unwahrscheinlich. Schon jetzt ist die App viel zu gross dafür und ihr Algorithmus viel zu mächtig. Dass Forscher auf dem Feld der künstlichen Intelligenz immer wieder rassistisch geprägte Parameter in diesem Algorithmus entdecken, hat dem Erfolg von Tiktok bisher nicht geschadet.
Byte-Dance bestreitet zwar, dass es etwa die Inhalte schwarzer Nutzer, Videos über die «Black Lives Matter»-Bewegung und andere politische Botschaften bewusst klein halte. Es könnte jedoch sein, dass die App inzwischen mehr über ihre Schöpfer weiss und verrät, als ihnen lieb ist.
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Ihre 19-jährige Schwester Dixie D’Amelio wurde ebenfalls auf Tiktok berühmt.
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Addison Rae, 20 Jahre alt, ist mit 69,7 Millionen Followern die am zweithäufigsten abonnierte Person auf der Plattform.
3.
Jeder kann auf der Plattform ein Star sein – zumindest für 15 Sekunden, der Dauer eines gewöhnlichen Tiktok-Clips.