Du bist nicht Picasso, sagte ihre Lehrerin. Umso besser: Heute werden die Bilder der jungen Schweizerin in New York in der Galerie vertrieben, die auch Picasso verkauft.
Chrissy Angliker (28) sitzt mit Jetlag in einem kleinen Café in der Winterthurer Altstadt. Sie sieht jünger und zerbrechlicher aus als auf dem glamourösen Pressefoto, das sie geschickt hat. Schwarzer Strickpullover, schwarz lackierte Nägel, dünne blonde Haare. Sie hat eine besondere Ausstrahlung, wirkt wie ein Mensch, der sich sehr sicher ist in dem, was er tut, und trotzdem auf eine sympathische Art schüchtern und ernsthaft geblieben ist.
Gerade mal 16 Jahre alt war sie, als sie das Reihenhäuschen ihrer Eltern in Winterthur und ihre behütete Jugend hinter sich liess und in die USA auswanderte, um Malerin zu werden. Heute lebt sie in New York und wird dort von der renommierten Galerie William Bennett vertreten, die sich auf den Handel mit Bildern von so herausragenden Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse oder Jean-Michel Basquiat spezialisiert hat. Und jetzt wird sie allmählich auch in der Schweiz entdeckt: Die Winterthurer Galerie Knoerle und Baettig hat sie unter Vertrag genommen, im Mai findet eine erste grosse Soloshow statt. Dort wird Chrissy Angliker ihre wunderbaren Bilder zeigen: klassische Sujets wie Badende, Blumen oder Porträts, in denen tropfende Farbe die vordergründige Schönheit des Motivs zerstört. Um, wie sie sagt, seine wahre Schönheit sichtbar zu machen.
Sie habe bereits mit elf Jahren gewusst, dass sie Künstlerin werden wolle, erzählt sie, ohne eine Spur arrogant oder cool zu wirken. Damals besuchte sie jeden Mittwochnachmittag einen Bildhauer und klopfte an einer riesigen Schildkröte aus Stein. Als ihre Mutter eines Tages aus dem Chäslädeli nachhause kam mit einem Flyer, der für Aquarellunterricht warb, gab es für die 13-Jährige kein Halten mehr: Sie wurde die Schülerin des russischen Malers Juri Borodatchev, der damals neu in der Stadt war und auf Deutsch zwei Worte konnte: «Licht» und «Schatten». Jeden freien Nachmittag stand sie schweigend im Atelier neben ihm. Und malte. In der Schule aber lachte die Zeichnungslehrerin sie aus: Sie sei kein zweiter Picasso, sagte sie zu Chrissy, als die verkündete, sie wolle Künstlerin werden. Stattdessen empfahl sie ihr, eine Lehre als Grafikerin zu machen. Da wusste Chrissy Angliker, dass sie wegmusste aus dieser Stadt, ja vielleicht am besten aus diesem Land, in dem Kunst, so empfand sie es, erst ab 18 Jahren freigegeben ist.
Als sie von einer Kunstschule in Massachusetts, USA, hörte, redete sie so lange auf die Eltern ein, bis diese ihre 16-jährige Tochter allein ins Land ihrer Träume auswandern liessen. «Natürlich hatte ich Heimweh», sagt sie, «aber ich blühte auch auf.» Nachdem sie die Kunstschule abgeschlossen hatte, nahm der Werdegang der bis anhin so zielstrebigen jungen Frau allerdings eine seltsame Wende: Sie liess sich vom College-Direktor zu einem Industrial-Design-Studium überreden und legte den Pinsel beiseite. Rückblickend sagt sie: «Es war eine wichtige Erfahrung. Ich begriff, dass meine Person und das, was ich tue, nicht dasselbe sein müssen.»
Als Designerin habe sie die Gestaltung stets der Funktion unterordnen müssen. Das, sagt sie, habe sie zum Kontrollfreak gemacht. «Meine Eltern, meine Professoren, alle waren glücklich, dass ich dieses Studium machte. Nur ich nicht.» Sie sei das Gefühl nie losgeworden, dass etwas in ihrem Leben fehle. Sie konnte die Malerei nicht vergessen. Irgendwann war sie so weit, dass sie sich für einen Monat in ihr Elternhaus in Winterthur zurückzog. Zuunterst in einer Schublade fand sie einen alten Aquarellpinsel ihres ehemaligen russischen Mentors. Sie setzte sich vor die Leinwand, versuchte sich an einem Selbstporträt. Es ging nicht voran. Und als aus dem gemalten Auge die Farbe herunterlief, brach sie zusammen. Stundenlang habe sie geheult. Wegen des vertropften Auges und des Gefühls, «nicht einmal mehr malen zu können». Bis sie realisierte, dass dieser Tropfen, den sie so gar nicht im Griff hatte, genau das Unberechenbare war, das ihr in ihrem Leben fehlte. Da wusste sie, dass es für sie nur eins gibt: so zu malen.
Die Galerie Knoerle und Baettig in Winterthur widmet der Künstlerin vom 12. Mai bis zum 23. Juni eine Einzelausstellung.
www.knoerle-baettig.com