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Pop-Musik: Die Zeiten der Todessehnsucht sind vorbei

Popkultur

Pop-Musik: Die Zeiten der Todessehnsucht sind vorbei

Todeskult gehörte einmal zur Grundhaltung des Pop. Heutige Stars schlagen jedoch andere Töne an. Beginnt eine neue Ära?

Für Montero Hill war immer klar, dass er jung sterben würde. Als ihm 2019 der Durchbruch gelang, als Rapper mit dem Namen Lil Nas X und der nahezu weltweiten Nummer-eins-Single «Old Town Road», glaubte er nicht an ein langes oder gar erfülltes Leben. Todesfälle – tatsächliche und metaphorische – gehörten in der Familie des Mannes aus Atlanta zur Tagesordnung. Seine Eltern trennten sich früh, seine Mutter litt unter Drogenproblemen, seine Grossmutter und engste Bezugsperson starb just dann, als er vom College zu fliegen drohte. Morbide Züge hatte die Hypochondrie des Jungmusikers und späteren Popstars schon vorher angenommen. Überall sah Hill Zeichen seines baldigen Todes.

Kein One-Hit-Wonder

Stattdessen bewies zunächst einmal «Old Town Road» ausserordentliche Langlebigkeit. Gleich als erster nennenswerter Rap-Versuch von Lil Nas X erreichte das Stück die Spitze der US-Charts und verweilte dort 19 Wochen, länger als je ein Song zuvor. Plötzlich sah Hill keine düsteren Zeichen mehr, sondern, wie sich ein möglicher Karriereweg vor ihm auftat. Auf dem Höhepunkt seines ersten Erfolgs feierte er sein Coming-out – ein Geheimnis, das er eigentlich mit ins Grab hatte nehmen wollen – und liess sich auch von den Morddrohungen, die ihn anschliessend erreichten, nicht mehr beirren. Überleben hat heute oberste Priorität für Lil Nas X.

Das gilt buchstäblich genauso wie im übertragenen Sinn. In einem Interview mit der «New York Times» erzählte Hill kürzlich von alten Todesängsten und neuen Lebensaufgaben, die er mit seinem gerade erschienenen Debütalbum «Montero» auch künstlerisch verarbeitet. Lil Nas X stemmt sich darauf nicht zuletzt gegen skeptische Musikmanager und missgünstige Rap-Konkurrenten. Beobachter:innen, die ihn als One-Hit-Wonder abtun wollten und als Ein-Mann-Freakshow verunglimpft haben, begegnet er mit Songs, Musikvideos und Inszenierungen, die queeres Leben bedingungslos zelebrieren. Mit 22 gilt der Mann, der zwischenzeitlich nicht mehr an seinen 21. Geburtstag glauben wollte, als neue schwule Pop-Ikone.

Eine neue Generation

Weil aber auch Anpassungsfähigkeit, stringente Karriereplanung und stetige Selbstoptimierung zur Geschichte von Lil Nas X gehören, erzählt sie zugleich etwas über aktuelle Entwicklungen im Pop. Depressionen und andere Belange der geistigen Gesundheit sind dort ebenso Modethema wie der Umgang neuer Stars mit Berühmtheit und daran geknüpfte Erwartungen. Neben Lil Nas X beschäftigten sich zuletzt auch Billie Eilish, Lorde oder Girl in Red damit: Künstler:innen, die schon mit Anfang zwanzig besonders reflektiert erscheinen und ihre Verantwortung gegenüber meist noch jüngeren Fans betonen. Vor allem Eilish versteht sich nicht zuletzt als Seelsorgerin und Problemlöserin. Mit ihr beginnt womöglich eine konstruktive Ära der Popmusik.

Der Kult um den Club 27

Ursprünglich war die Sache natürlich anders gedacht. Die Funken sprühende E-Gitarre von Little Richard, der Hüftschwung von Elvis Presley, selbst die Lausbubenfantasien der jungen Beatles: All das waren Befreiungsgesten, die sich zugleich in destruktiver Weise gegen Spiessertum und adrette Bürgerlichkeit der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre richteten. Pop war gekommen, um etwas kaputt zu machen. Und Rock’n’Roll erkannte als verzogenes Geschwisterkind in der Selbstzerstörung eine besonders effektive Methode. «Hope I die before I get old», sangen The Who 1965 auf ihrem Debütalbum. «No Future» lautete eine Popgeneration später die bekannteste Parole von den Sex Pistols und der Punk-Bewegung.

Der Mythos zu diesen Slogans dreht sich um Exzess und sexuelle Ausschweifungen, um Begleiterscheinungen eines vermeintlichen Lebens am Limit, die längst zu Klischees erstarrt sind. Ein früher Tod war immer etwas, womit man als Rockstar kokettieren konnte, zumindest bis man wirklich starb. Schon Anfang der Siebzigerjahre entwickelte sich ein zynischer Kult um den sogenannten Club 27, weil binnen dreien Jahren Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison gestorben waren – jeweils mit 27 sowie unter Alkohol- und Drogeneinfluss. Popkulturelle Bedeutung erlangte das Phänomen noch einmal 1994 nach dem Suizid des damals ebenfalls 27-jährigen Kurt Cobain.

Die Todeserwartung bleibt

«It’s better to burn out than to fade away» – noch so ein Rock’n’Roll-Slogan, diesmal geschrieben von Neil Young und angeblich zitiert von Cobain in seinem Abschiedsbrief. Aber natürlich haben sich die allermeisten Protagonist: innen der prägenden Popjahre nicht an solche Leitsprüche gehalten. The Who spielen heute schmissige Oldie-Konzerte, und John Lydon, der einstige Sänger der Sex Pistols, wurde im fortgeschrittenen Alter zum Werbeträger für Brexit und britische Butter. Verfangen haben sich Todeskult und -sehnsucht trotzdem auch in späteren Phänomenen der Popgeschichte, und zwar vom flächendeckend heroinabhängigen Grunge bis zu den gewalttätigen Erzählungen des Gangster-Rap.

Um die Jahrtausendwende waren es dann New Yorker Bands wie The Strokes und Sängerinnen wie Karen O von den Yeah Yeah Yeahs, die dem effektvollen Selbstverbrauch noch einmal attraktive Gesichter gaben. Die Journalistin Lizzy Goodman war damals vor Ort und beschrieb in ihrem Buch «Meet Me in the Bathroom» später, wie eine zunächst auf wenige Clubs und Freund:innen beschränkte Szene das bislang letzte grosse Aufbäumen des Rock’n’Roll auslöste. Die häufig selbstzerstörerischen Tendenzen der Musiker:innen erklärte Lizzy Goodman einerseits durch Geschichtsbewusstsein – Vorbilder wie Iggy Pop oder David Bowie hatten es schliesslich genauso gemacht. Sie verwies aber auch auf den Einfluss der Anschläge vom 11. September, mit denen die Todeserwartung zur New Yorker Alltagserscheinung wurde.

Eine destruktive Ära geht zu Ende

Mancher Band ging es zu jener Zeit darum, dem Tod eine romantische Seite abzugewinnen. Die meisten versuchten eher, ihre düsteren Gedanken daran zu betäuben. Beide Muster trafen einige Jahre später auf Musik und Leben von Amy Winehouse zu – und verloren ihren womöglich letzten popkulturellen Wert, als die britische Sängerin im Sommer 2011 an einer Alkoholvergiftung starb. Winehouse ist der bisher letzte prominente Zugang im Club 27 und war zugleich der letzte Star der destruktiven Pop-Ära. Künstler:innen wie Lil Nas X und Billie Eilish sind mit ihren Songs aufgewachsen, aber ebenso mit der erbarmungslosen medialen Ausschlachtung ihrer Sucht. Vielleicht liegt es auch daran, dass Selbstzerstörung und Tod bei ihnen keine verheissungsvolle Funktion mehr erfüllen.

Im Interview mit der Popzeitschrift «Musikexpress» hat der Gitarrist Slash (Guns n’ Roses) einmal erklärt, dass Winehouse einer ganzen Musikgeneration das Drogen-Nehmen verdorben hätte. Klang zynisch, war aber gar nicht so abwegig. Die Berichterstattung über Winehouse und ihren zeitweiligen Drinking Buddy Pete Doherty produzierte Bilder, die dem Rausch das Geheimnisvolle nahmen. Mit der früher weit verbreiteten Vorstellung, dass künstlerische Genies auf Exzess und Kontrollverlust angewiesen seien, um ihre beste Arbeit zu verrichten, waren diese Bilder nicht mehr in Einklang zu bringen. Was nützt schliesslich der Eskapismus, wenn er schon am Trottoir vor der Lieblingskneipe in sich zusammenfällt?

Ist Pop zu brav?

Kurz gesagt: Wo früher die Absicht dominierte, den eigenen Dämonen zu entkommen, geht es heute darum, sich ihnen zu stellen. Wo Popstars ihre Identität einst in der individuellen, häufig auch rücksichtslosen Grenzüberschreitung suchten, definieren sie sich heute nicht zuletzt über allgemeine Achtsamkeit. Deshalb klingt die Musik von Eilish so lösungsorientiert und das Debütalbum von Lil Nas X so lebensbejahend. Und deshalb gibt es auch Menschen, denen die heutige Popgeneration zu brav und glattgebürstet vorkommt – symptomatisch für einen Zeitgeist, der sich vor allem in moralischer und politischer Korrektheit gefällt.

Ist Pop also weniger gefährlich als früher? Hat Rock’n’Roll seinen Todesmut und damit auch das revolutionäre Potenzial verloren, das er früher für sich beanspruchte? Ist die Musik darüber wirklich so zahm und langweilig geworden, wie es Kulturpessimist:innen gern behaupten? All das sind Fragen des eigenen Blickwinkels. Wer sie mit Ja beantwortet, hat ihn möglicherweise schon länger nicht mehr justiert – oder hört einfach die falsche, tatsächlich kreuzbrave Popmusik, von der es heute mehr denn je gibt.

Billie Eilish und Lil Nas X sind damit jedoch definitiv nicht gemeint. Statt den Ritualen und Gesten ihrer Vorläufer:innen nachzuhängen, suchen sie nach Wegen, auf denen Grenzüberschreitungen noch immer möglich sind. Der offene, entstigmatisierende Umgang, den Eilish mit ihrer geistigen Gesundheit pflegt, erscheint im heutigen Pop tatsächlich revolutionär. Der Einsatz von Lil Nas X für queere Repräsentanz im immernoch tendenziell homophoben Rap-Mainstream wirkt geradezu todesmutig, wenn der Künstler in seinen Videos den Teufel verführt oder nackt durch eine Gefängnisdusche tanzt. Die Bilder, die dabei entstehen, leisten mehr, als er selbst noch vor wenigen Jahren für möglich hielt.

Schon jetzt haben sie ihn ein Stück weit unsterblich gemacht.

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