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Platz 1 auf Netflix: Warum «Baby Reindeer» eine Wucht ist

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Platz 1 auf Netflix: Warum «Baby Reindeer» eine Wucht ist

Keine Serie wird aktuell bei Netflix so oft gestreamt wie «Baby Reindeer». Warum sie sich lohnt – und welche wahre Geschichte dahinter steckt.

Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt, Stalking. Dieser Text enthält Spoiler.

 

Donny Dunn versucht sich in London, mehr schlecht als recht, als Comedian zu etablieren. Eine gute Tat wird dem Komiker, der sein Geld als Barkeeper in einem Pub verdient, zum Verhängnis: Als er aus Mitleid einer Frau, die weinend das Lokal betritt, einen Tee spendiert, beginnt ein jahrelanger Horror für Donny. Martha (Jessica Gunning) stalkt und belästigt Donny digital und im echten Leben.

Darum geht es in der neuen Netflix-Serie «Baby Reindeer». Es ist die wahre Geschichte des schottischen Schauspielers und Komikers Richard Gadd (34), der die Serie nicht nur schrieb und produzierte, sondern darin mit der Hauptrolle des Donny sogar eine fiktionalisierte Version von sich selbst spielt.

41’000 Mails in drei Jahren

Richard Gadd wurde während drei Jahren von einer Frau gestalkt, die ihm in diesem Zeitrahmen unter anderem 350 Stunden an Voicemails hinterliess und 41’000 Mails schickte. Jede der E-Mail-Nachrichten, die man in der Serie sieht, hat Gadd genauso im realen Leben erhalten. Die Handlung sei nur minimal verändert worden, um die echten Personen zu anonymisieren und zu schützen, erzählt Gadd dem «Guardian» – doch die Geschichte sei wirklich so passiert. «Ich wurde aufs Schwerste gestalkt und missbraucht», sagt er.

«Baby Reindeer» belegt derzeit bei Netflix in der Schweiz und anderen Ländern wie den USA, Australien oder Brasilien Platz eins und wird bei Social Media heiss diskutiert. Als «schwer auszuhalten», «beklemmend», «kräftezehrend» beurteilen Medien wie «Variety» oder «The Telegraph» die Serie. Und diese Kritik, wenn man sie denn so nennen möchte, an «Baby Reindeer» ist fair – gleichzeitig erfordert Richard Gadds Geschichte nun mal, dass die Episoden für das Publikum teilweise zermürbend sind.

Der Hype um «Baby Reindeer» ist zu Recht gross, denn die Serie beleuchtet das Thema Stalking auf eine realistische Weise. Die Serie ist fesselnd und temporeich – und lässt einen als Zuschauer:in fassungslos und gierig die nächste Folge bingen, weil man wissen will, wie die Geschichte weiter eskaliert.

Stalkerin Martha löst viele Gefühle aus

Während Stalkingopfer und Täter:innen im Kino oder TV meist schemenhaft dargestellt und in Gut und Böse eingeteilt werden, zeichnet Richard Gadd die Figuren in seiner Serie komplex: So löst die bereits einmal für Stalking verurteilte Martha, die offensichtlich mit psychischen Probleme kämpft, viele Gefühle gleichzeitig in einem aus.

Sie tut einem leid, wenn man sieht, in welcher Messie-Wohnung sie haust. Man will sie ungläubig schütteln, wenn sie wieder behauptet, sie sei Anwältin, obwohl sie sich im Pub keine Cola leisten kann. Man möchte Martha ohrfeigen, wenn sie Donnys Grenzen überschreitet. Sie in den Arm nehmen, als sie für ihn mit hoffnungsvoll glänzenden Augen ein Liebeslied singt. Und man ist dann schnell wieder angeekelt von ihr, wenn sie rassistische Sprüche durch den Pub schreit.

Martha ist eine wunderbar vielschichtige Figur, der man gerne zuschaut – auch wenn es wehtut. Mit Fremdscham muss man bei «Baby Reindeer» auskommen: Obwohl Martha etwa ein altes Nokia-Telefon besitzt, schreibt sie unter jedes der tausenden Mails, die sie Donny schickt, konsequent von Hand «von meinem iPhone gesendet» – oder auch mal nur «von iPhoen». Und auch das macht «Baby Reindeer» so brillant: Obwohl die Serie sich mit der nötigen Ernsthaftigkeit düsteren Themen wie Stalking und Missbrauch widmet, fehlt es nicht an Humor.

Opfer verhalten sich nicht alle gleich

Mit der gleichen Vielschichtigkeit wie Martha hat Richard Gadd auch die fiktionalisierte Version von sich selbst geschrieben. Auch diese Figur ist nicht perfekt, handelt teilweise verwerflich und rücksichtslos. Neben Stalking thematisiert Gadd in seiner Serie mit sexualisierter Gewalt ein weiteres Trauma, das er verarbeiten musste: Donny wird von einem älteren Mann vergewaltigt, der ihm verspricht, ihn bei seiner Karriere zu unterstützen. Das macht «Baby Reindeer» zusätzlich zur schweren Kost, die teilweise schwer zu ertragen ist.

Donnys Handlungen lösen oft grosses Unverständnis aus – und das ist die grosse Qualität von «Baby Reindeer»: Selten zeigt eine Serie dermassen lebensnah, wie komplex Trauma aussehen kann, wie die psychischen Folgen von sexualisierter Gewalt aussehen können. Und dass sich Opfer nicht alle gleich verhalten.

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Donny wird etwa nach seiner Vergewaltigung hypersexuell und kämpft mit Scham, Selbsthass und selbstzerstörerischem Verhalten. Richard Gadd macht damit sichtbar, wie Grooming aussehen kann und dass sexualisierte Übergriffe häufig in intimen Beziehungen verübt werden. Mit seiner Schlagkraft erinnert «Baby Reindeer» an Michaela Coels Hit-Serie «I May Destroy You» aus dem Jahr 2020, in der die Autorin und Schauspielerin ihren eigenen sexuellen Missbrauch und die Folgen davon thematisiert.

In der Serie beleuchtet Gadd auch, wie machtlos sich Opfer von Stalking teilweise fühlen. So überrascht es Zuschauende kaum, dass die Polizeibeamten Donny nicht ernst nehmen, als er Martha anzeigen will, und als Erstes fragen, warum er sich nicht früher gemeldet hat. Das erlebte auch Gadd selbst, wie er «The Guardian» erzählte: «Ich wurde zurechtgewiesen, weil ich die Polizei damit belästigt hatte, belästigt zu werden.»

Vorstellung von Männlichkeit

Es ist wertvoll und erfrischend, dass Richard Gadd mit «Baby Reindeer» eine Erfahrung aus männlicher Perspektive zum Thema teilt. Von Stalking – in der Schweiz übrigens kein eigenständiger Straftatbestand – sind schliesslich nicht nur, aber vor allem Frauen betroffen: Laut Schweizerischer Kriminalprävention geht man davon aus, dass es sich in mehr als 80% der Fälle um männliche Stalker handelt und mehr als 80% der Opfer weiblich sind. Bei der Beratungsstelle für Stalking der Stadt Bern meldeten sich im Jahr 2023 86 (87%) betroffene Frauen und 13 (13%) betroffene Männer für eine Beratung bei der Fachstelle. Im Jahr 2022 meldeten sich 102 Frauen und 18 betroffene Männer.

In der Serie wird auch die Frage nach der Bedeutung von Männlichkeit und Geschlechterstereotypen gestreift. Ein Thema, das Gadd auch im realen Leben beschäftigt: Er arbeitet mit der Charity-Organisation «We are Survivors» zusammen, die sich für männliche Überlebende sexueller Gewalt einsetzt. «Wenn man so etwas wie sexuellen Missbrauch erlebt, kann man sich vor allem wegen dieser alten Vorstellungen, was es bedeutet, ein Mann zu sein, entmächtigt fühlen», sagt er zum «Guardian».

Er sei mit klaren gesellschaftlichen Vorstellungen aufgewachsen, was es heisse, ein Mann zu sein: Nicht zu weinen, stets die Haltung zu bewahren. «Das ist die gesellschaftliche Erwartung, und sie dringt tief in unser Unterbewusstsein ein. Als ich diese Vorstellung abschüttelte und erkannte, dass es eine Form der Stärke ist, darüber zu sprechen und zu sagen, dass es einem nicht gut geht, war das sehr heilsam», sagt er.

«Baby Reindeer» ist ein richtiger Schlag in die Magengrube. Richard Gadds Geschichte und die Verletzlichkeit, die er damit zeigt, berühren – und lassen einen lange nicht mehr los.

Informationen und Hilfsangebote zum Thema sexualisierte Gewalt und Stalking findest du hier:

Opferhilfe Schweiz

143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)

BIF – Beratungsstelle für Frauen

Frauenhäuser in der Schweiz

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