Olivia Colman und Jesse Buckley im Interview: «Fluchen darf man!»
- Text: Mathias Heybrock
- Bild: Studiocanal
Die Schauspielerinnen Olivia Colman und Jessie Buckley über ihren Film «Kleine schmutzige Briefe», die Freude an Kraftausdrücken und Fairness in der Filmbranche.
Olivia Colman und Jessie Buckley sitzen nebeneinander auf einem Hotelbett in London und strahlen um die Wette. Sie sind blendender Laune, wirken wie beste Freundinnen auf einem Sonntagsausflug – und sind es irgendwie auch.
«Lange vor unseren ersten gemeinsamen Dreharbeiten haben wir uns zufällig auf einem Musikfestival kennengelernt», erklärt die 50-jährige Colman, die in der englischen Grafschaft Norfolk geboren wurde: «Wir haben uns augenblicklich ineinander verliebt.» «Ja, das war grossartig», bestätigt die 16 Jahre jüngere Jessie Buckley. «Wenn du jemanden triffst und es ist gleich so unkompliziert und vertraut.»
Momente der Harmonie sind selten
Vor der Kamera können sie aber auch anders: In «Kleine schmutzige Briefe» zum Beispiel, einer schönen schwarzen Komödie über eine Welle von unerhört obszönen Briefen, die um 1920 in einer englischen Kleinstadt anonym verschickt werden. Momente der Harmonie sind in diesem Film selten.
Stattdessen kommt es gegen Schluss zu einer Art Showdown zwischen Edith (Colman), einer alleinstehenden frömmelnden Frau, die immer noch im Haus ihres gestrengen Vaters (Timothy Spall) lebt, und Rose (Buckley), einer dem Alkohol und dem Streit nicht gänzlich abgeneigten Irin – die verdächtigt wird, Verfasserin ebenjener Briefe zu sein
Rose freilich meint, sie brauche keine Briefe, um jemandem die Meinung zu geigen, das mache sie mündlich, vor aller Ohren. Sie gibt Edith denn auch liebend gern eine Kostprobe ihres Könnens. Bis Edith anfängt zurückzuschimpfen – und zwar so fantasievoll, dass selbst Rose anerkennend mit dem Kopf nickt.
Olivia Colman«Selbst Shakespeare liebte einen guten Kraftausdruck»
Für Olivia Colman ist es ein Film über das Fluchen als Kunstform. «Nehmen Sie Shakespeare, der liebte einen guten Kraftausdruck.» Auch sie selbst fluche gern, fährt sie fort. Die gebürtige Irin Buckley setzt daraufhin ein anzügliches Grinsen auf und beginnt augenblicklich, ein irisches Schimpfwort durchzudeklinieren, das je nach Kontext Überraschung, Schmerz oder Verachtung ausdrücken kann («feck», manchmal auch «fec» oder «feic», was ähnlich wie «fuck» verwendet wird, allerdings keine sexuelle Komponente hat).
«Kein einziger Fluch im Film wurde von uns erfunden», berichtet Colman: «Die stehen alle so in den historischen Briefen.» Der Film beruht lose auf einem wahren Fall, der sogar das englische Parlament in Atem gehalten hat.
Die Briefe wurden später wissenschaftlich untersucht und gelten als Beleg, dass ganz normale Bürger:innen über einen ebenso kreativen Sprachgebrauch verfügten wie die akademische Schicht – jedenfalls, wenn dringend ein Ventil gefunden werden musste.
Die Flüche sind wirklich derb und lassen kaum etwas aus: sexualisierte Herabwürdigungen, Bodyshaming, das ganze Programm. Colman sieht sie als Ausdruck des Protests, Buckley als «eine Art Werkzeug»: «Beide Frauen werden durch kulturelle Umstände zurück- und kleingehalten.» Edith durch ihren protestantischen Vater, der jede freie Gefühlsregung untersagt. Rose durch die Vorurteile, die ihr als Irin entgegenschlagen.
«Beide wollen das loswerden, was sie einschränkt und beengt», sagt Buckley. «Und als ihnen das gelingt, ist es eine grosse Erleichterung.» Abzulesen etwa auf Olivia Colmans wunderbar wandelbarem Gesicht, in dem sich in «Kleine schmutzige Briefe» lange Zeit unterdrückte Gefühlsregungen spiegeln – bis sie irgendwann in ein befreiendes, schier nicht enden wollendes Lachen ausbricht.
Jesse Buckley«Die Filmwelt wird weiblicher – aber es soll kein Wettbewerb gegen Männer daraus werden»
Dass «Kleine schmutzige Briefe» mit seinem heftigen Wortschatz auch über die Sprachregelungen unserer Gegenwart spottet, wollen die Schauspielerinnen allerdings so nicht bestätigen. «Du sollst niemanden herabsetzen, niemanden abwerten», meint Buckley: «Fluchen aber darfst du.» «Genau», ergänzt Colman: «All die verklemmten Leute, die jedes derbe Wort gleich erschreckt, also da kriege ich …» – an dieser Stelle verzichtet sie leider auf die konkrete Ausmalung. Es ist ein Vergnügen, den beiden Frauen zuzusehen, wie sie sich mögen, wie sie einander zuhören, aufeinander eingehen.
Buckley, 34 Jahre alt und seit letztem Jahr verheiratet, «hat zwei Jobs», sagt sie einmal – sie ist auch Musikerin und wurde durch eine BBC Castingshow zum Musical «Oliver!» bekannt. Für ihre Rolle in «The Lost Daughter», ihrem ersten gemeinsamen Film mit Colman, erhielt Buckley 2022 eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin.
Colman («The Crown», «The Father»), verheiratet mit Ed Sinclair und dreifache Mutter, ist spätestens seit ihrem Oscar 2019 für «The Favourite» ein internationaler Superstar.
Olivia Colman«Es ist viel Geld im Spiel– aber es fliesst nicht immer in die richtigen Richtungen»
Im Abspann von «Kleine schmutzige Briefe» ist sie zum ersten Mal auch als Produzentin geführt. «Oh, das grosse Wort Produzentin», kommentiert sie. «Das Einzige, was ich in dieser Funktion tat, war den Wunsch zu äussern, Jessie für die Rolle als Rose anzufragen. No big deal. Alle anderen hatten Jessie auch im Sinn und meinten gleich: Oh, absolut, hoffentlich hat sie Zeit und sagt zu.»
Produzieren könne man das also nicht nennen, so Colman. Ihr Mann Ed dagegen – der sei ein richtiger Produzent: «Er hat auch bei diesem Film wieder wirklich hart gearbeitet, die Finanzierung gesichert und so viel dafür getan, dass sich am Set alle wohl fühlten. Er ist immer so süss zu mir und sagt, wie schön das sei, was mein Name uns jetzt alles ermögliche. Doch dabei geht ein bisschen unter, was er selbst leistet.»
Ein Star ohne Allüren
Einmal, als Buckley spricht, stösst Colman einen fast nicht zu hörenden «Ah»-Laut aus, in dem stille Zustimmung, aber auch ehrliche Bewunderung für die gute Formulierung liegt. Sie mag ein Star sein, ist aber vollkommen ohne Allüren. Sie liebt und anerkennt jede Form von Können, jede Art von Arbeit: Die eines Produzenten genauso wie die einer Putzhilfe – ein Job, den Colman einige Zeit neben der Schauspielerei selbst ausübte; mit Freude und Stolz, wie sie in ihrer Dankesrede zum Oscar betonte. Das bedeutet aber nicht, dass sie dahin zurückwill: «Ich liebe meinen jetzigen Job. Zu 99.99 Prozent treffe ich dabei auf Menschen, mit denen ich wirklich gern meine Lebenszeit teile.» «Es ist eine grossartige Branche», stimmt Buckley zu.
Diese sei zudem heute viel weiblicher als noch vor 10 oder 15 Jahren: «Ich kann mich gar nicht mehr an einen Film erinnern, in dem ich mitgespielt habe, der nicht von einer Frau gedreht wurde», meint Buckley schmunzelnd und kommt dann auf Greta Gerwig und «Barbie» zu sprechen: «Das hat einen unglaublichen Einfluss auf die junge Generation. All die jungen Mädchen, die dadurch das Selbstvertrauen erhalten, Dinge zu tun, von denen Filmstudios heute noch annehmen, dass Frauen sie einfach nicht können.»
Auch «Kleine schmutzige Briefe» sei ein gutes Beispiel für die Veränderungen, die in der Filmindustrie bereits stattgefunden hätten. Bis in die Nebenrollen ist die Geschichte stark weiblich geprägt: Ein kleines Grüppchen von sehr unterschiedlichen Frauen nämlich ist von Roses Unschuld überzeugt – und nimmt der Polizei die Ermittlungen aus der Hand.
Jesse Buckley«Ich kann mich nicht an einen Film erinnern, in dem ich mitgespielt habe, der nicht von einer Frau gedreht wurde»
Eine dieser Frauen ist die 89-jährige Bühnen- und Filmschauspielerin Dame Eileen Atkins. «Oh mein Gott! All das Leben, all die Erfahrungen, die sich in diesem tollen Gesicht spiegeln », schwärmt Buckley über ihre ältere Kollegin. «Definitiv», so Colman: «Und die Geschichten, die uns Eileen über das erzählte, was sie auf und hinter den Bühnen so alles erlebt hat – äusserst unanständig!»
«Wenn ich über eine diverser und weiblicher werdende Filmwelt spreche, geht es mir allerdings nicht darum, einen Wettbewerb gegen Männer daraus zu machen», meint Buckley dann. «Es geht um die Geschichten und das Wichtige ist gute Zusammenarbeit.»
Ach ja: «Und faire Bezahlung.» «Es ist viel Geld im Spiel– aber es fliesst nicht immer in die richtigen Richtungen», bestätigt Colman. Das gelte nicht nur für Schauspiel oder Regie, sondern für alle Departements: Kostüme, Make-up, die ganze Crew, meint Buckley: «Darüber werden wir uns in der Branche noch unterhalten müssen.» Der eine oder andere Fluch wird dabei bestimmt fallen.