Literatur & Musik
Neue Bücher: 8 Empfehlungen der Kulturredaktion
- Text: Marah Rikli, Jacqueline Krause-Blouin
- Bild: Stocksy
Ihr sucht ein neues Buch für die Ferien? Oder wollt euch mit einer spannenden Geschichte auf der Couch verkriechen? Hier kommen acht heisse Tipps.
Irina Kilimnik: Sommer in Odessa
Als Kind fühlt sich Olga in ihrer Familie unsichtbar. Olga, so der Tenor, soll später vor allem eines: einen guten Mann heiraten. Als Olga bei einem Unfall sofort erkennt, was an Hilfe zu leisten ist, ändert sich ihre Position. Der Grossvater, Patriarch der Familie, ist so beeindruckt, dass er umgehend verkündet: Olga soll Ärztin werden. Im Studium merkt diese aber, dass die Medizin sie langweilt. Zunehmend hinterfragt sie die Autorität des Grossvaters. Unangestrengt, witzig und poetisch erzählt die in der Ukraine geborene Autorin Irina Kilimnik über das Erwachsenwerden in einer Stadt zwischen russischer und ukrainischer Kultur, zwischen Korruption und Aufständen.
Irina Kilimnik. Sommer in Odessa. Verlag Kein und Aber, Berlin 2023, 288 Seiten, ca. 34 Fr.
Franz Hohler: Rheinaufwärts
Franz Hohlers Spaziergänge am Rhein beginnen in den Wochen der Vorsicht nach dem ersten Corona-Shutdown. Die Schaffhauser Altstadt, die Uferpromenaden und Aussichtspunkte am Rheinfall; alles scheint in einen tiefen Schlaf gefallen. Er beschliesst, in den nächsten Monaten zur Rheinquelle zu wandern. Die Wege führen entlang von Apfelbaumplantagen, vorbei an Gedenkstätten, zu Campingplätzen oder Schlössern. Der Rhein gibt ihm die Gelassenheit und das Vertrauen, nach der sich Hohler nicht erst seit der Pandemie sehnt; seine Gedanken wandern durch sein gesamtes Leben, als würde er jetzt im Alter nochmals alles ordnen und auflösen. Ob er loslassen kann? Ein zartes literarisches Schweizer Buch, das in seiner Einfachheit die komplexen Ereignisse eines ganzen Lebens verarbeitet.
Franz Hohler: Rheinaufwärts. Luchterhand Literaturverlag, München, 2023, 124 Seiten, ca. 30 Fr
Yvonne Eisenring: Nino und der Wunsch nach mehr
Nino hat flüchtigen Sex mit vielen Frauen, hütet ab und zu das Kind seiner Schwester und reist viel. Was nach einem zufriedenen Leben klingt, füllt Nino nicht aus; er wünscht sich mehr. Doch anstatt sein Leben zu verändern, wartet er auf das Glück in seiner Komfortzone – bis er alleine nach New York reist. Dort lernt er Evi kennen, die spirituelle Coachings durchführt und damit die Leben ihrer Klient:innen verbessert. Nino ist am Anfang alles andere als begeistert von Evis Job, bis auch er – durch einen Zufall – eine Veränderung spürt und endlich aktiv wird. Ein süffig zu lesender Roman über eine Generation, die zwischen Spiritualität, Konsum, sexuellen Abenteuern und Reisen den Sinn und die Liebe des Lebens sucht und manchmal sogar findet. Die perfekte Lektüre für den Sommer, sei es am Strand oder in einer Grossstadt wie New York.
Yvonne Eisenring: Nino und der Wunsch nach mehr. Verlag sechsundzwanzig Zürich. 200 Seiten, ca. 36 Fr.
Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr
Veronicas Kindheit und Jugend sind geprägt von Übergriffen und absurder Normalität – der «geballten Langeweile» des Lebens, wie sie es nennt. Nach dem atomaren Unfall in Tschernobyl lebt ihre Familie in einem postapokalyptischen Filmszenario. Drei Jahre dürfen sie und ihr Bruder wegen der Angst der Eltern nur noch Nahrung aus Dosen essen, die vor Tschernobyl abgefüllt wurden. Schwimmen, Fahrradfahren und auch Freundschaften gelten noch lange danach als bedrohlich; alles soll im Privaten bleiben – ebenso, dass der Onkel Veronica bittet, seinen Penis zu streicheln. Trotz des schweren Themas schafft es die Autorin, Leichtigkeit in die grotesken und düsteren Szenen zu bringen. Ein Roman voller schwarzem Humor und Sarkasmus, analytisch, klärend und nicht zuletzt enttabuisierend.
Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2023, 223 Seiten, ca. 34 Fr.
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
«Du bist, um es mit Turgenjew zu sagen, allein wie ein Finger», schreibt Judith Hermann in ihrem neuen Roman, der von Einsamkeit, einer Kindheit in einem «Trauerhaus», von zärtlichen Freundschaften, von einem geteilten Berlin und von Judith Hermanns Verarbeitung durch das Schreiben handelt. Immer wieder fragt sich die Autorin: Wann fängt eine Geschichte an? Wo endet sie? Und was ist Wirklichkeit, was Traum? Zum Beispiel die Geschichte über ihre Freundin Ada, für die sie Gefühle hegte und die sie aus den Augen verlor. Oder die Erinnerung an Gespräche in einer Bar mit ihrem Therapeuten. Was ist wirklich passiert? Und was hat sie als Autorin hinzugefügt – für die Geschichte und gegen ihre Einsamkeit? Ein kraftvoller, poetischer und autofiktiver Roman. Die perfekte Lektüre für erste warme Baditage.
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt 2023, 192 Seiten, ca. 34 Fr.
Martin R. Dean: Meine Väter
Robert ist vierzig, verheiratet und Vater einer Tochter, als er sich auf die Suche nach seinem biologischen Vater in Trinidad begibt. Als er ihm begegnet, einem ärmlichen alten Mann namens Ray, der seine Sprache verloren hat und in einem Heim lebt, fühlt er sich überfordert und sentimental. Auch, weil er in seinen Recherchen über ihn von seiner indischen Verwandtschaft in Trinidad erfährt und damit von ihrer Arbeit als Kontraktarbeiter in der Kolonialzeit. Der Roman «Meine Väter» erschien ursprünglich im Jahr 2003. Nach dem Beginn der «Black Lives Matter»-Bewegung und dem Versterben naher Familienmitglieder wollte Martin R. Dean mit neuen Erkenntnissen zur Kolonialisierung und ohne Rücksicht auf seine Familie das Buch noch einmal bearbeiten. Entstanden ist ein hoch spannender und dennoch achtsam erzählter Roman über die Aufarbeitung von Kolonialgeschichte durch eigene Biografiearbeit.
Martin R. Dean: Meine Väter. Atlantis-Verlag, Zürich 2023, 224 Seiten, ca. 34 Fr.
Tabea Steiner: Immer zwei und zwei
Natali wächst in einer sehr religiösen Familie auf. Sie beschliesst, trotz des Widerstands ihrer Eltern eine Kunstschule zu absolvieren, und wendet sich vom Glauben ihrer Herkunftsfamilie ab. Dann begegnet sie Manuel, der Mitglied in einer strengen Freikirche ist. Trotz ihrer Geschichte heiratet sie ihn und bekommt mit ihm zwei Mädchen. Das Familienglück in der Freikirche scheint fast perfekt, bis die Fassade zu bröckeln beginnt und sich Homophobie, Machtspiele und subtile Manipulation zeigen. Wie schon als Jugendliche flüchtet sich Natali in ihre Kunst und kämpft damit gegen die engen Strukturen und ihren Ehemann an. Als sie sich jedoch in eine Frau verliebt, kann sie der Entscheidung für oder gegen die Gemeinschaft nicht mehr ausweichen.
Tabea Steiner: Immer zwei und zwei. Edition Bücherlese, Luzern 2023, 208 Seiten, ca. 30 Fr.
Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter
«Erst als Erwachsene war ich allmählich imstande zu verstehen, dass das Ungesagte ebenso laut spricht, wie das Gesagte», schreibt Siri Hustvedt in ihren Essays «Mütter, Väter, Täter» – wobei der Originaltitel «Mothers and Others» treffender wäre. Teilweise autobiografisch erzählt die Autorin von den Ambivalenzen ihrer Kindheit oder der innigen Beziehung zu ihrer Mutter, die resilienteste Person, die Hustvedt je kennenlernte. Weitere Essays handeln von Kunst, Männern, Psychoanalyse, Neurowissenschaften und der Auseinandersetzung, wie Feminismus damit einhergeht. Hustvedt seziert präzise, philosophisch und in klarer Sprache die Leiden der Menschen an gesellschaftlichen Denkmustern, an ihrem Schweigen darüber und nimmt die Lesenden mit auf die Suche nach Verbindung und Zusammenhalt. Eines der wichtigsten feministisch-philosophischen Bücher der letzten Jahre.
Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter. Rowohlt. Berlin 2023. 445 Seiten, ca. 34 Fr.