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Netflix-Doku über Kunstturn-Star Simone Biles: So kämpfte sie sich zurück
- Text: Vanessa Vodermayer
- Bild: Netflix
Kurz bevor das olympische Feuer Paris erreichte, veröffentlichte Netflix eine Doku über Simone Biles. Die Serie beleuchtet ihren mentalen Kontrollverlust, ihr Elite-Comeback – und ihre Königinnendisziplin: Selbstermächtigung im Spitzensport.
Simone Biles gewann am Dienstag ihre achte Olympiamedaille: Vor 18’000 Zuschauer:innen erturnte sich das amerikanische Team Gold. Den Erfolg erahnten vermutlich bereits viele der anwesenden Stars, die am Sonntag den Kunstturnerinnen-Mehrkampf live miterlebten.
Neben Lady Gaga, Anna Wintour und Snoop Dogg sassen auch Tom Cruise und Ariana Grande auf der Tribüne. Alle, um den eigentlichen Star der Stunde strahlen zu sehen: Simone Biles. Und wie die 27-jährige US-Kunstturnerin strahlte. Nicht nur wegen der 10’000 applizierten Swarovski-Kristalle, die auf ihrem Turndress bereits bei minimaler Atembewegung ein Funkelspiel reflektierender Lichter veranstalteten. Sie strahlte primär, weil sie sich selbst bewiesen hatte: Biles is back.
Bei ihrer Bodenübung füllte ein brummendes Pochen die Bercy Arena. Aus den Lautsprechern drang Taylor Swifts «Ready for It?», Biles markierte nach der Kombination aus Rondat, Flickflack und dem von ihr ins Leben gerufenen Triple-Double (gehockter Doppelsalto mit Dreifachschraube) ein eindrucksvolles «Ja».
«Ich spüre vieles, bevor es passiert»
Simone Biles’ Karriere ist die Summe aus 30 Weltmeisterschaftsmedaillen und acht weiteren Olympia-Medaillen. Damit hält sie den Titel der erfolgreichsten Turnerin der Welt, wird selbsterklärend mit dem Jugendslang-Attribut «G.O.A.T» (Greatest of All Time) geschmückt. Und dennoch wiegt in der Angst, das Level an Akrobatik-Brillanz nicht abrufen zu können, keine aufgesetzte Bescheidenheit. Sondern die Erinnerungen an Olympia 2021.
«Ich hatte schon immer eine gute Intuition. Ich spüre vieles, bevor es passiert», erzählt Biles in den ersten 34 Sekunden der neuen Netflix-Dokuserie. Sie ergänzt: «Leider ging es mir damals bei Olympia so.» Die deutsche Titel-Version «Simone Biles: Wie ein Phönix aus der Asche» wirkt abschreckend abgedroschen – aber der Erzählstoff, den man in der Doku kriegt, ist sehenswert.
Wir erinnern uns: Biles war in Bestform. Die Frage lautete nicht, ob sie eine Goldmedaille gewinnt, sondern wie viele – es sollte keine einzige werden. Als sie bei ihrem Startgerät-Sprung lossprintet, in einen Rondat wechselt, sich auf dem Sprungbrett abfedert, über einen Flickflack mit den Handflächen gegen das Sprungpferd drückt und sich dann in die Höhe katapultiert, folgen statt zwei Drehungen nur anderthalb. «Ich wusste gleich in diesem Moment, dass es kein einmaliger Aussetzer war», sagt Biles.
«Ich schämte mich so»
Wenige Minuten später tritt Biles von der Turnbühne ab, beendet auf eigenen Wunsch die hart perfektionierte Wettkampfroutine. «Ich schämte mich so», sagt die Ausnahmeathletin. Hier setzt die Netflix-Dokumentation an. Simone Biles, ihre Trainer:innen, Teamkolleginnen, ihr Mann, ihre Mutter, pensionierte Turngrössen und eine Sportpsychologin spinnen Aussage für Aussage das Erklärungsnetz für das Olympia-Debakel in Tokio.
Die Kunstturnerin hatte einen mentalen Kurzschluss, ihre Sicherungen brannten durch. Kopf und Körper waren nicht mehr im Einklang. Aber warum?
Sprung in den Orientierungsverlust
Plötzlich sei alles weg gewesen, sie wisse nicht warum, sagt Biles an der anschliessenden Medienkonferenz: «Ich war so gut vorbereitet, aber vielleicht denke ich zu viel. Es ist lebensgefährlich, wenn ich meinen Körper nicht unter Kontrolle habe.» Was Simone Biles geschehen ist, nennt sich im amerikanischen Kunstturn-Jargon «Twisties», abgeleitet von Twist (auf Deutsch: Drehung). Der Kopf will das eine, während der Körper das andere will. Man fliegt in eine Orientierungslosigkeit und verpasst im schlimmsten Fall das Steuermanöver zur Landung.
Die Doku führt durch die Gründe von Biles’ Abbruch und mündet in die Rückgewinnung ihrer mentalen Kontrolle, ohne die Geschichte künstlich in Dramatik zu ertränken. Es ist ein gelungener Versuch, die Kunstturnerin nicht ins Opferrollen-Korsett zu zwängen.
Aufnahmen aus ihrer Vergangenheit werden mit sachlich ernsten, aber nie verzweifelten Aussagen zusammengeschnitten. In diesem Erzählmuster kriegt man eine gebündelte und eindrückliche Präsentation ihrer Vita zu sehen. Schade: Wirklich unvorhersehbar Neues erfährt man über die Kunstturnerin nicht.
Biles legt ihre mentale Gesundheit offen frei
Nach einer mentalen Blockade müsse man sich eine Auszeit nehmen, um den Ursprung zu finden, sagt US-Trainer Laurent Lardi in der Doku und fügt an: «In den meisten Fällen ist es nicht das Turnen.» Biles’ psychisch labiler Zustand ist eine unabdingbare Folge vieler Faktoren, unter deren Gewicht sogar die Beste der Besten zusammenbricht: die fehlende Abwechslung nach dem Training während der Corona-Pandemie, die frühkindliche Vergangenheit vor ihrer Adoption. Der Gerichtsprozess des ehemaligen Team-Arztes Larry Nassar, gegen den auch Biles wegen Missbrauchs aussagte, und nicht zuletzt die Goldmedaillen-Erwartung einer ganzen Nation.
Die Kunstturnerin wurde nach ihrem Olympia-Aus mit spitzer Kritik beworfen: Sie hätte ihr Team im Stich gelassen, das wegen ihres Abgangs im Teamfinal auf dem zweiten Platz hinter Russland landete. Biles nehme ihren Job nicht ernst, sei ein «Quitter». «Die Leute, die gemeine Dinge sagten, waren viel lauter zu hören als die ganze Unterstützung», erinnert sich Simone Biles in der Serie.
Die Presse zog Vergleiche mit der US-Turnerin Kerri Strugg, die mit 18 Jahren bei Olympia 1996 in Atlanta den Wettkampf mit einem kaputten Fuss beendete. Nach der letzten Landung meldete sie sich bei der Jury ab und verliess unter qualvollen Schmerzen die Matte auf allen vieren. Das Frauenteam der USA gewann Gold, Strugg galt als Nationalheldin des Turnsports. Sie setzte ihre Gesundheit aufs Spiel, aber das hinterfragte niemand. «Ich sehe die Dinge ein wenig anders», sagt Biles.
Gegen Tabuisierung psychischer Krankheiten
Psychische Gesundheit gehe vor, andernfalls mache der Sport keinen Spass, erklärt Biles. Was die Serie einmal mehr beleuchtet: Die Turnerin ist Teil einer neuen Athletinnen-Generation, die sich gegen die Tabuisierung psychischer Krankheiten ausspricht. Biles turnt in erster Linie für sich – und entscheidet sich für sich, konsequent. An einer Pressekonferenz sagt Biles: «Die eigenen Grenzen zu kennen, zeigt, wie stark man als Sportlerin und Mensch wirklich ist.»
Die 27-Jährige hält sich derzeit vom Presserummel fern. Man kann sich fragen, warum sie sich die Aufmerksamkeit antut, die eine Netflix-Doku mit sich bringt: Warum sollte man sich bei dieser anspruchsvollen Vorbereitung zurück nach oben auf Kamerabegleitung einlassen?
Möglicherweise weil The Greatest of All Time nach Tokio 2021 verstanden hat, dass sie dadurch auf effiziente Weise einen Einblick in ihre Realität gewähren kann. Damit Leute, die fiese Vermutungen über sie verbreiten, die Hintergründe verstehen. Aber auch um Leute zu inspirieren, auf sich selbst zu hören und zu sich selbst zu stehen.
Der Grundstein ihrer Heldinnen-Erzählung wurde vergangenen Sonntag am Mehrkampf gelegt. Welches Ende die Geschichte nimmt, können wir bis zum letzten Geräte-Final der Frauen in Paris mitverfolgen – oder spätestens im kommenden Oktober auf Netflix sehen. Dann erscheinen die zwei letzten Folgen der Doku.