
Nemo im Interview über das Debütalbum "Arthouse": "Ich gebe weniger Fucks"
Nemo war Wunderkind der Schweizer Rapszene und ESC-Sensation – doch erst jetzt erscheint das langersehnte Debütalbum "Arthouse".
- Von: Melanie Biedermann
- Bild: Olive Yates
Nemo (26) begrüsst uns via Zoom – aus einem Auto. Es kam kurzfristig ein Termin dazwischen und statt im Schweizer Universal-Music-Büro zeigt sich Nemos Gesicht nun eben auf einem Screen im Innenraum eines Kleinwagens mit Blick auf einen Parkplatz. «Wir waren mittagessen und ich habs nicht geschafft, noch irgendwo hinzufahren – ich hoffe, das ist okay?», entschuldigt sich Nemo mit unaufgeregter Wärme.
Wer könnte es Nemo auch verübeln: Nach unserem Gespräch geht es weiter zu einem Termin, am nächsten Tag stehen ein Familientreffen und am übernächsten ein Konzert am Energy Air an; einer von wenigen öffentlichen Auftritten seit dem diesjährigen ESC-Finale im Mai. Es war ruhig um Nemo geworden, seit er 2024 mit dem Song «The Code» den Eurovision Song Contest gewonnen hatte und damit eine hierzulande selten gesehene Euphorie auslöste. Alle warteten gebannt, denn die Karriere lief damals ja eigentlich längst: Die Debüt-EP «Clownfisch» erreichte 2015 die Schweizer Charts, 2017 folgte mit «Du» der erste Hit und ein Jahr später gewann Nemo – bürgerlich Nemo Mettler – mit nur mehr 18 Jahren vier Swiss Music Awards auf einen Schlag.
Zwischen längeren Aufenthalten in Los Angeles und Berlin erschien 2020 der erste englischsprachige Song «Dance with Me». «This Body» thematisierte Körper und Identität, das öffentliche Coming-out als nonbinär erfolgte im November 2023 in einem Interview. Der Song legte den Grundstein für die Person, die uns heute nach ereignisreichen ESC-Jahren und Abstechern nach London und Paris mit dem langersehnten Debütalbum im Gepäck entgegenblickt.
annabelle: Nemo, bei Ihnen kann man leicht die Orientierung verlieren. Wo leben Sie gerade, wenn Sie nicht für Termine von A nach B hetzen?
Nemo: Ich wohne derzeit zur Untermiete in Paris in einer süssen, kleinen Wohnung. Aber ich mache mir noch immer Gedanken darüber, wo ich wohnen möchte. Es kristallisiert sich heraus, dass es entweder Paris oder London sein wird.
Man mag es kaum glauben, aber «Arthouse» ist tatsächlich Ihr Debütalbum. Im Grunde arbeiten Sie aber schon seit zehn Jahren daran, oder?
(lacht) Das ist wirklich verrückt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das je sagen würde, aber es stimmt: Ich lebe seit zehn Jahren von der Musik – und das war immer mein grösster Traum! Ich habe so ein Glück, dass ich das immer noch machen kann.
Sich mit einem Debütalbum so lange Zeit zu lassen, ist für Karrieren wie Ihre, die so kometenhaft starten, eigentlich eher unüblich.
Ich glaube, das Album ist ein erster, wirklich wichtiger Test für mich. Ein Album ist wie eine Welt, die man erschaffen muss, und das war auf allen Ebenen sehr fordernd. Auf «Arthouse» gibt es jetzt sehr viel zu entdecken. Es ist auf der Gefühlsebene und auch musikalisch sehr breit, gleichzeitig klingt alles nach mir – nach Nemo. Ich habe das Gefühl, dass ich mich als Artist zum ersten Mal auch selbst verstehe.
Wie meinen Sie das?
Vor dem Album war es immer schwierig zu verstehen, was ich überhaupt für Musik mache: Wie klingt Nemo? Aber jetzt habe ich eine Sprache entwickelt, auf die ich sehr stolz bin.
Wie würden Sie Ihre Musik jemandem beschreiben, der Sie nicht kennt?
(lacht) Ich glaube, es ist schwierig, sich selbst klar zu sehen. Aber ich mache definitiv Popmusik. Und ich kann sagen, wie sich die Musik für mich anfühlt: sehr abenteuerlich. Ich finde alles, das nach einem bestimmten Regelwerk geht, grundsätzlich langweilig. David Lynch hat einmal gesagt, dass Künstler:innen eigentlich nicht kreieren, sondern finden. Eine Idee ist wie ein Fisch, den man fängt. Und Köche würden ja nie Lob für den Fisch bekommen, nur dafür, wie der Fisch zubereitet ist. Damit meine ich: Die eigentliche Kunst liegt nicht im Erfinden der Idee, sondern in der Art, wie man sie umsetzt und zum Leben erweckt.
"Ich glaube, die Schweiz ist ein Ort, an dem man sich sehr schnell zufriedengeben und wohlfühlen kann. Wie in einer Oase"
Wie entstehen Ihre Songs?
Es beginnt meistens mit einem Gefühl oder einer Art Funke. Danach gehe ich in einen Modus, der viel handwerklicher ist; eher ein ständiges Polieren. Es gibt immer um die dreissig Versionen von einem Lied. Dieser Perfektionismus macht meine Musik aus, aber er treibt mich manchmal auch in den Wahnsinn.
Haben Sie also wirklich zehn Jahre lang an diesem Album gearbeitet?
Man hört oft, dass man für das erste Album ein Leben lang Zeit hat, aber in diesem Fall stimmt es nicht wirklich. Es gibt ein paar Songs, von denen es schon vor drei Jahren eine Version gab, aber hauptsächlich entstand das Album in sechs Monaten – für mich eigentlich nicht genug Zeit. Ich hätte gerne anderthalb Jahre für die Arbeit an einem Album.
Wofür steht der Titel «Arthouse»?
Es geht um die Idee, eine Art Gegenkultur im Pop zu schaffen: Popmusik, die herausfordert – inhaltlich, aber auch musikalisch. Und ich bin grosser Arthouse-Film-Fan und fühle mich diesem Begriff sehr verbunden. Ich fand ihn übergeordnet für meine Musik sehr passend. Andererseits steht «Arthouse» für mich für einen Ort, an dem sich alle möglichen Leute willkommen fühlen können – ein Gentle Reminder, wie es eigentlich sein könnte.
Ein schöner Gedanke. Räume und Gedankengut, die die Gemeinschaft stärken, waren in der Musik und in der Kultur generell schon immer wichtig. Es wäre sicher gut, wieder mehr davon zu haben.
Ja. Wie wir Kultur wahrnehmen, wenn wir aufwachsen, interessiert mich extrem.
Wie war das bei Ihnen?
In Biel spürte ich die Kultur sehr stark und auf jeden Fall auch eine Art von Community. Ich war am Jungen Theater und nach meinem Empfinden gab es sehr viele verrückte Leute in Biel, die sich alle gegenseitig unterstützt haben. Ich fühlte mich nie komisch dafür, Musik zu machen. Das hat mit der Offenheit meiner Familie zu tun, aber ich glaube, es hat auch viel mit Biel zu tun. Ich schätze die Kultur in Biel sehr und kann mir auch vorstellen, irgendwann mal wieder dort zu leben.
Aktuell wahrscheinlich weniger.
Nein, und ich meine das überhaupt nicht wertend oder böse – es gibt viel Tolles an der Schweiz –, aber ich stehe an einem Punkt, an dem es schwierig ist, mich hier verstanden zu fühlen. Ich glaube, die Schweiz ist ein Ort, an dem man sich sehr schnell zufriedengeben und wohlfühlen kann. Wie in einer Oase. Manchmal fühlt es sich hier allerdings zu komfortabel an und das führt dazu, dass Veränderung schwierig ist, länger dauert und dass weniger Verständnis für Leute, die Veränderung herbeiführen wollen, vorhanden ist.
Fühlen Sie sich auch missverstanden?
In gewissen Dingen fühle ich mich sehr verstanden, in anderen weniger. Veränderung ist so ein elementarer Teil von mir – die Schweiz triggert in mir manchmal die Angst, stehen zu bleiben. Und das will ich im Moment nicht.
"Ich habe mich durch vieles durchgearbeitet und ich glaube, so langsam komme ich zur Ruhe"
«Unexplainable», eine der Singles des Albums, entstand gewissermassen als Antwort auf die Frage, ob «The Code» im heutigen gesellschaftlichen Klima noch als ESC-Beitrag funktionieren würde. Beim diesjährigen Finale in Basel stellten Sie den Song erstmals vor. Wie fielen die Reaktionen aus?
Es war eine sehr turbulente Erfahrung – und wohl eine der verletzlichsten Performances, die ich je gegeben habe. Auch der Song selbst gehört zu den offensten, die ich bisher geschrieben habe. Ich habe nichts beschönigt, sondern einfach beschrieben, wie es in mir aussieht. Das machte den Auftritt roh und intensiv – für manche vielleicht sogar zu intensiv. Natürlich gibt es viele Gründe, etwas nicht zu mögen. Doch gerade in der heutigen Zeit fällt es mir schwer zu unterscheiden: Empfanden manche die Performance schlicht als übertrieben? Oder war die Ablehnung von Transphobie oder Feindseligkeit geprägt? Gleichzeitig gab es aber auch bewegende Reaktionen: Menschen sagten mir etwa, das sei die eindrücklichste Performance gewesen, die sie je gesehen hätten. Eine Person erzählte: «Ich habe mit meinen Eltern live zugeschaut. Sie haben gelacht – und ich hatte Tränen in den Augen, weil ich mich so gesehen fühlte.»
Was lösen solche Reaktionen in Ihnen aus?
Der Kontrast der Extreme ist mir geblieben … Ich habe mich durch vieles durchgearbeitet und ich glaube, so langsam komme ich zur Ruhe. Ich gebe auf beide Seiten weniger … (überlegt kurz) – Wie sagt man das? «Weniger Fucks» kann man ja nicht sagen! (lacht)
Doch, doch. Vielleicht: Die Extreme tangieren Sie weniger?
Ja, ich glaube, sowohl das Positive als auch das Negative können irreführend sein. Darum versuche ich immer, etwas zu machen, das mich neu herausfordert. Ob die Leute mich verstehen, kann ich nie kontrollieren, darum bleibe ich immer lieber bei mir; bei dem, was ich ausdrücken und erschaffen will. Und auf diese Performance bin ich heute unglaublich stolz, weil ich glaube, dass es das erste Mal war, dass ich es geschafft habe, Performance und Musik auf eine Weise zu verbinden, die für mich vorher nicht möglich war.
Hat das Album eine übergreifende Stimmung?
Ich glaube, für mich ist es hoffnungsvoll, ohne der Welt gegenüber ignorant zu sein. Ein Ort, der Freude machen sollte, ohne dass es nur Eskapismus ist.
Haben Sie eigentlich Vorbilder?
Ganz viele! Schwierig, da eines auszuwählen, ohne später darauf festgenagelt zu werden. Bei diesem Album war ich sehr von Prince inspiriert, von Chaka Khan und 80ies-Referenzen.
Beim Gedanken an das diesjährige ESC-Bühnenoutfit: David Bowie?
Oh ja, Bowie – selbstverständlich! Aber weniger in musikalischer Hinsicht, sondern vielmehr in dem, wofür er stand und bis heute steht. Vor allem die Art, wie er sich ausgedrückt und über Musik gesprochen hat, darin erkenne ich mich sehr stark wieder.
Zurück zu den grossen Träumen: Sie wollten einst eine Kochlehre machen. Gibt es neben der Musik noch einen anderen Traum? (lacht) Stimmt! Also eine Kochlehre kann ich mir im Moment nicht mehr vorstellen, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, einmal einen Film zu schreiben und Regie zu führen. Das wäre ein grosser Traum von mir und irgendwann werde ich das machen. Vielleicht nächstes Jahr, vielleicht erst mit vierzig; irgendwann. Ich habe keinen Druck. Ich habe Zeit, auszuprobieren und mich weiterzubilden. Solange ich das Glück habe und solange ich hier sein darf, kann das irgendwann irgendwie passieren.
Arthouse (ab 10. 10., Universal Music/Better Now Records); Live: 24. 10., X-Tra, Zürich