Literatur & Musik
Packende Bücher für kühlere Tage
- Redaktion: Frank Heer, Claudia Senn; Text: Verena Luger, Olivia Sasse; Foto: Anthony Tran / Unsplash
Ein Buch über ein magisches Café in Teheran lässt uns träumen, ein potenzieller neuer Lieblingsroman nimmt uns mit in die Welt der Künstler, ein Thriller verspricht Nervenkitzel und der neue Roman einer Zürcher Schriftstellerin geht direkt ans Herz. Die Tipps unserer Kulturredaktion versprechen faszinierende Lesestunden, mit denen wir gern in den Herbst starten.
1.
Am Anfang dieses Jahres der Ruhe und Entspannung lässt sie noch einmal in der Woche ihre Wäsche reinigen. Dann ist ihr auch das zu viel Interaktion, von nun an schmeisst sie ihre Schmutzwäsche in den Abfall und bestellt neue übers Internet. Die Ich-Erzählerin braucht Erholung: Nach ihrem Abschluss in Kunstgeschichte, nach einer Beziehung mit einem Banker, dessen Vorstellung von idealem Sex es war, ihr beim Schlafen in den Mund zu masturbieren, nach dem Tod der Eltern, die sich nie für sie interessiert hatten, hat sich bei der reichen, schönen, gescheiten und verwöhnten Blondine der Lebensüberdruss so angehäuft, dass nur noch eines hilft: eine ordentliche Mütze Schlaf. Ein Jahr lang will sie durchschlafen, mit der Hilfe von Schlafmitteln – nur unterbrochen von kurzen Wachphasen, in denen sie zur Toilette geht, im Internet Lingerie und Sushi bestellt oder ihre bulimische Freundin empfängt. Was sich handlungsarm anhört, ist eine scharfe Bestandsaufnahme der Seelenlage von New York kurz vor 9/11. Und ein irrwitzig guter Roman – durchtrieben, witzig, böse.
– Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Liebeskind-Verlag, München 2018, 320 S., ca. 29 Fr.
2.
Ein Pageturner der Königsklasse, von einem Meister seines Faches: Dennis Lehane («Shutter Island», «Mystic River») hat wieder ganz Grosses geschaffen. Die wunderschöne Fernsehmoderatorin Rachel hat einen reichen, sexy Mann, den sie liebt und der verrückt nach ihr ist. Doch seit einem Einsatz beim Erdbeben auf Haiti ist sie so traumatisiert, dass sie die gemeinsame Wohnung nicht mehr verlassen kann. Durch Zufall findet sie Hinweise darauf, dass ihr Mann ein Doppelleben führt – und deckt eine Verschwörung auf, die ihr Leben von einer Sekunde zur anderen zu Betrug und Farce werden lässt. Nervenzersetzend spannend und voller hakenschlagender Wendungen – eine Achterbahnfahrt von einem Thriller!
– Dennis Lehane: Der Abgrund in dir. Diogenes-Verlag, Zürich 2018, 528 Seiten, ca. 38 Fr.
3.
Wie in einer Oase liegt das Café Leila in einem Garten in Teheran. Hier gehen sie ein und aus, die Philosophen und Künstler im vorrevolutionären Iran. Der Wirt ist ein Russe, der in Paris studiert hat. Zod ist sein Sohn, auch er liebt das Café und die magischen Düfte der persischen Küche. Mit der Opernsängerin Pari führt Zod eine Ehe voller Leidenschaft und Liebe – bis Pari allzu jung stirbt. Und in Teheran nach der Revolution Angst und Festnahmen den Alltag bestimmen. Zod schickt seine Kinder in die USA, wo sie als Emigranten leben und ihr holpriges Glück machen. Bis Noor, die Tochter, sich scheiden lässt – und mit Zods Enkelin Lily wieder in die Heimat zurückkehrt. Opulent, verführerisch, voller Wehmut erzählt Donia Bijan in wunderschöner Sprache vom Heimkommen, vom Essen und von Familie. Ein Leckerbissen von einem Buch!
– Donia Bijan: Als die Tage nach Zimt schmeckten. Ullstein-Buchverlage, Berlin 2018, 384 S., ca. 13 Franken
4.
Ein potenzieller Lieblingroman! Die Geschichte beginnt im Rom der 1950er-Jahre. Der Maler Bear Bavinsky ist eine Naturgewalt, gefeiert und bewundert. Er pendelt zwischen New York und Rom, wo seine Geliebte mit dem gemeinsamen Sohn Pinch lebt. Der kleine Pinch vergöttert Bear, will Maler sein wie er, zeigt dem Vater schliesslich seine Bilder. Doch Bear macht alle Hoffnungen zunichte. Mit einem einzigen Satz zerspringen Pinchs Zukunftsträume und er will nun Bears Biograf werden. Aber auch daraus wird nichts, immer kleiner werden seine Träume, bis Pinch in mittlerem Alter eine Stelle als Italienischlehrer an einer kleinen Sprachschule in London annimmt – und nach Jahrzehnten ohne Malerei doch noch das Unwahrscheinliche anstrebt: mit Furor, aber im Verborgenen, sein Talent zu entfesseln.
– Tom Rachman: Die Gesichter. Dtv-Verlag, München 2018, 416 Seiten, ca. 44 Franken
5.
Die Mutter findet alles schön. Der Bruder aber weiss, dass das eher am Alkoholkonsum der Mutter liegt, als an der Welt. Und die 12-jährige Anais findet die Welt tatsächlich schön, «weil der Wind ganz warm die Armhaare aufstellt.» Mit verspielter Sprache zeichnet die Zürcher Autorin Julia Weber die Welt des 12-jährigen Mädchens. Zusammen mit ihrem Bruder kümmert sich Anais um die Mutter, die nachts in einem Nachtclub tanzt und ab und zu auch mal ein Mann von der Arbeit nach Hause bringt. Eine tragisch-komische Geschichte aus dem Leben, die direkt ans Herz geht.
– Julia Weber: Immer ist alles schön. Limmat-Verlag, 2017, 256 S., ca. 30 Fr.
6.
Fundamentalistische Christen und Ultrarechte haben die USA übernommen. Homosexuelle werden in Arbeitslager gesperrt, Frauen dürfen nicht mehr arbeiten, haben weder Konten noch Pässe – und auch fast keine Wörter mehr: Nur hundert Wörter pro Tag sind gestattet, ein Zähler am Handgelenk gibt Stromschläge bei Überschreitung. Frauen sind Gebär- und Haushaltsmaschinen, denen der Gebrauch von Computern, Stift, Papier und Büchern untersagt ist. Doch das ist erst die Spitze des Eisberges, denn Jean, die Neurowissenschafterin, die wegen ihrer speziellen Kenntnisse zur Mitarbeit an einem geheimen Experiment hinzugezogen wird, erkennt, dass die Regierung noch weitaus Montröseres plant … Rasant, dystopisch, feministisch, nicht ganz so düster und ausgefeilt wie Orwells «1984» oder Atwoods «Der Report der Magd» – dafür punktgenau platziert in unsere #MeToo-Zeit und das Amerika unter Trump.
– Christina Dalcher: Vox. S. Fischer Verlag, 2018, 400 Seiten, ca. 30 Franken