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Die besten Bücher des Frühlings

Literatur & Musik

Die besten Bücher des Frühlings

  • Text: Sacha Verna; Foto: Daria Shevtsova / Pexels

Vom koreanischen Thriller bis zum russischen Märchen, von der Nordsee bis in die Onkologiepraxis: Unsere Vorschläge für Ihr neues Lieblingsbuch.

1.

Sie könnte eine Münze werfen: Kopf für «Kind», Zahl für «kein Kind». Stattdessen hält sie sich ans chinesische Orakel I Ging. Entsprechend nicht eindeutig fallen die Ergebnisse aus. Sheila Hetis neuer Roman ist wiederum eine Autofiktion: Die Ich-Erzählerin gleicht der Autorin aufs Haar, sollte aber keinesfalls mit ihr verwechselt werden. Beide gehen auf die vierzig zu, sind Schriftstellerinnen und leben in Toronto mit ihren Männern zusammen. Beide treibt die Frage um: Will ich ein Kind? Und: Lassen sich Mutterschaft und Kreativität vereinen? Hetis Antwort ist eine essayistische Collage. Alltagsepisoden und Erzählungen über ihre eigene Mutter wechseln sich ab mit Gedanken über Abhängigkeit und das Wesen von Entscheidungen. Es ist, als würde man einen Menschen begleiten, der viel Zeit im eigenen Kopf verbringt. In einem klugen Kopf notabene.

– Sheila Heti: Mutterschaft. Roman. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019, 316 Seiten, ca. 34 Franken

2.

Es ist nie gut, blutbesudelt aufzuwachen. Wenn sich das Blut als das der eigenen Mutter erweist, die mit durchgeschnittener Kehle im Wohnzimmer liegt, kann es eigentlich nur noch schlimmer werden. Oder erst richtig spannend wie im Thriller der südkoreanischen Bestsellerautorin Jeong Yu-jeong. Der Ich-Erzähler erinnert sich nicht mehr an die Geschehnisse des vorangegangenen Abends. Hatte er einen seiner Anfälle, derentwegen er seine Karriere als Profischwimmer aufgeben musste und am Gängelband von Mama und Tante landete? War jemand anderer im Haus? Und warum hört die so offensichtlich Tote nicht auf, nach ihm zu rufen? Dass der junge Protagonist dunkle Geheimnisse hat, wird bald deutlich. Wie dunkel, offenbart sich erst nach und nach. Diese Expedition durchs Rabenschwarz menschlicher Abgründe wird selbst das stärkste Nervenkostüm strapazieren.

– Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn. Thriller. Unionsverlag, Zürich 2019, 312 Seiten, ca. 26 Franken

3.

Paris 1927: Kaum wurde Papa mit viel Pomp zu Grabe getragen, verwandelt sich die mitfühlende Verwandt- und Bekanntschaft in einen Schwarm von Pleitegeiern. Kein Wunder, denn Madeleine ist die Erbin des väterlichen Bankenimperiums. Die tatsächliche Pleite steht mit der Wirtschaftskrise zwar noch bevor, doch sind intrigante Onkel, betrügerische Liebhaber und neidische Freundinnen erpicht darauf, die Protagonistin um ihre Millionen zu erleichtern. Sie haben die junge Frau unterschätzt. Mit zunehmender Raffinesse und Rachelust rüstet Madeleine zum Gegenangriff. Der preisgekrönte Autor sorgt für Leichtigkeit mit Substanz, indem er dieses lebenspralle Epochengemälde geschickt zwischen Melodrama und Situationskomödie ansiedelt. Ein Roman wie ein Schokoladensoufflé: zartbittere Süsse, Luft und Können französisch inszeniert.

– Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers. Roman. KlettCotta-Verlag, Stuttgart 2019, 480 Seiten, ca. 39 Franken

4.

Wassilissa, die Wunderschöne, könnte Aschenputtel sein, würde sie sich nicht als Cousine von Hänsel und Gretel entpuppen und dank zwölf fein gewebter Hemden vom Zar zur Gattin erkoren. Ähnliches gilt für viele Protagonisten in diesen russischen Märchen: Sie gleichen ihren Verwandten in den Klassikern der Gebrüder Grimm, erleben dann aber ganz andere Abenteuer mit Feuervögeln und goldenen Äpfeln. Die Hexe heisst Baba Jaga und hat kein Knusperhäuschen, sondern eine Hütte aus leuchtenden Schädeln und Hühnerbeinen. Der Frosch ist kein verzauberter Prinz, sondern eine Prinzessin. Statt Grossmüttern fressen Wölfe lieber gar nichts, und statt Männern ziehen Frauen in den Krieg. Mit seinen prächtigen Abbildungen des Illustrators Ivan Bilibin gebührt diesem Band ein Platz in jeder fabelhaften Bibliothek.

Wassilissa, die Wunderschöne. Russische Märchen. Nacherzählt von Elisabeth Borchers. Insel-Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 107 Seiten, ca. 23 Franken

5.

Worte sind Ruth Schweikerts Beruf. Doch im Reich des Krebses wird alles zur Plattitüde. Die Schriftstellerin erhielt die Diagnose kurz nach ihrem 50. Geburtstag. Das war vor drei Jahren. Was sich seither in ihr und um sie herum abgespielt hat, schildert sie statt mit dem üblichen Vokabular aus «Mut», «kämpfen» und «positiv denken» in Fragmenten: Unterhaltungen mit Fremden und Freunden, SMS voller Tippfehler. Lektüreschnipsel, Eindrücke aus Sprechzimmern, Urteile über Perücken. Wo Sinnsuche vergeblich ist, ergeben sich schreibend Zusammen- hänge zwischen Kierkegaard, Tomatenspaghetti und letzten Zigaretten. Oder die Autorin ertappt sich dabei, dass sie «die Krankheit» während eines Aufenthaltes in London mit dem jüngsten ihrer fünf Söhne vergessen hat – nur um später festzustellen, wie wesentlich «die Krankheit» als Daseinsinhalt geworden ist. Diese klugen, eigenwilligen Aufzeichnungen handeln vom Leben, mit und trotz dem Tod in der Brust.

– Ruth Schweikert: Tage wie Hunde. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 176 Seiten, ca. 22 Franken

6.

Als sich ihre Eltern trennen, bricht die Welt zusammen, die die fünfjährige Meredith bis dahin gekannt hat. An ihre Stelle tritt ein verwirrender neuer Alltag im winzigen Haus der Grosseltern am anderen Ende des Kontinents. Dort schwankt ihre Mutter zwischen Wutausbrüchen und Lethargie, ihr kleiner Bruder braucht sie mehr denn je, und ihr Vater ist plötzlich unerreichbar weit weg. Rettung kommt von unerwarteter Seite: aus Opas Bienenstöcken. Der schrullige alte Mann führt seine Enkelin nach und nach in die emsige Kultur der Honigmacherinnen ein und nimmt sie auf seine Touren als Bienenf lüsterer mit. Je mehr Meredith sich mit dem Insektenvolk beschäftigt, desto klarer wird ihr, was Zuhause, Familie und ein erfülltes Dasein wirklich bedeuten. «Ihre Stacheln lehrten mich, was es heisst, tapfer zu sein», schreibt die Autorin. Tönt klebrig. Doch Meredith Mays Lektionen fürs Leben summen nach.

– Meredith May: Der Honigbus. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 320 Seiten, ca. 28 Franken.

7.

Martin, der dich an der Party zutextet. Volker (Schlöndorff, Starregisseur), der sich auf einer Berliner Bühne in seiner ganzen Aufgeblasenheit präsentiert und dann platzt wie ein angepikster Luftballon. Denis, der Taxifahrer, dumpfbackige Rezeptionisten, eindrückliche Clochards: «Es gibt ja wahnsinnig viele Männer», wie Johanna Adorján bemerkte, als sie anfing, für die «Süddeutsche Zeitung» eine wöchentliche Kolumne über ihre Begegnungen mit dem anderen Geschlecht zu schreiben. Diese Sammlung enthält 67 kleine Bravourstücke, in denen sich die Journalistin mal f lockig zeigt, mal haarscharf am Tiefsinn vorbeischrammt. Eine gelungene Mischung aus Hommagen (Imre Kertész, Schriftsteller), Demontagen (Will Smith, Superheld in Hollywood) und Porträts von Durchschnittstypen, von Gockeln bis zu richtig sympathischen Kerlen. Die existieren nämlich auch.

Johanna Adorján: Männer. Einige von vielen. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2019, 222 Seiten, ca. 24 Franken

8.

Fjorde, Dünen, Klippen, so steil wie das Matterhorn: Die Nordsee ist von ihnen durchsetzt und umgeben. Tom Blass hat die zerklüfteten Ufer aufgesucht und ist auf eine Landschaft gestossen, die in ihrer Urtümlichkeit die Menschen noch prägt und doch immer öfter von ihnen geprägt wird. Er taucht ab in Geschichte und Geschichten der Gegend und lernt Leute kennen, die mit der Nordsee verbunden sind: zum Beispiel Arend Maris, ein pensionierter forensischer Psychologe, der Tag für Tag an seinem Lebenswerk über die Seefahrtschule von Schiermonnikoog arbeitet – einsam wie einer der «grau- en Mönche», die auf dem friesischen Eiland im 12. Jahrhundert Schafe züchteten. Da sind die Bewohner der Halligen nördlich von Helgoland und ihr Hass auf Wühlmäuse, die f lutsichere Erhöhungen in Emmentaler verwandeln. Sie alle sind vom Klimawandel bedroht. Aber niemand spricht gern darüber. Eine fesselnde Reise in Vergangenheit und Gegenwart einer Region, deren Zukunft ungewiss ist.

– Tom Blass: Die Nordsee. Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste. Mare-Verlag, Hamburg 2019, 350 Seiten, ca. 43 Franken