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Autorin Saralisa Volm: «Man muss sich nicht ständig selbst lieben»

Literatur & Musik

Autorin Saralisa Volm: «Man muss sich nicht ständig selbst lieben»

  • Text: Sandra Brun
  • Bilder: Svenja Trierscheid, Unsplash; Collage: annabelle

Saralisa Volms Buch «Das ewige Ungenügend» beleuchtet, wie uns unser Körper im Weg steht. Wir haben mit der deutschen Schauspielerin und Autorin über das Gefühl des Scheiterns und die Benefits von Verschönerung gesprochen.

Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt

 

Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2023

 

annabelle: Der erste Satz Ihres Buchs lautet: «Mein Körper steht mir im Weg.» Was meinen Sie damit?
Saralisa Volm: Wir leben in einer Gesellschaft, die erwartet, dass unser Körper funktioniert. Tut er das nicht, sind wir böse auf ihn. Wenn mein Körper Bedürfnisse anmeldet – er ist ja keine Maschine –, dann steht er mir im Weg.

Sie erzählen in Ihrem Buch schonungslos ehrlich Ihre eigene Geschichte mit Ihrem Körper. Wie schwierig war das für Sie?
Ich bin nicht mutig genug, um über meine Probleme zu schreiben, wenn sie gerade sehr akut sind. Zum Beispiel schrieb ich über das Ausbleiben des Orgasmus erst dann, als ich einen hatte. Dem Schreiben geht ausserdem ein langer Reflektionsprozess voraus, die Texte ergeben sich aus Gedanken und Gesprächen. Über meine Bulimie zu schreiben, fiel mir leichter als über meine Vergewaltigung. Auch weil uns als Gesellschaft die Sprache fehlt, um angemessen über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Das begünstigt natürlich Täter, für die es gut ist, wenn Opfer schweigen.

War das auch ein Antrieb für Sie, diese Sprache zu finden?
Ja, ich denke schon. Meine Vergewaltigung liegt schon 20 Jahre zurück und mit so grossem zeitlichem Abstand kann ich darüber schreiben. Aber das Justizsystem macht es Opfern noch immer schwer. Uns bleibt eigentlich nur der öffentliche Raum. Zudem gibt es eine grosse Wissenslücke, denn sexualisierte Gewalt ist mit Scham belegt. Zur Polizei gehen nur wenige und in noch weniger Fällen resultiert daraus ein Verfahren. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft erfahren also nur von einem Bruchteil der Geschichten. Ich bin überzeugt, dass unsere einzige Chance ist, all diese Geschichten in die Welt zu bringen, damit wir das Ausmass sehen, gehört werden und uns nicht mehr so allein fühlen.

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«Wir haben ein Idealbild, messen unseren Körper daran und nehmen uns permanent als scheiternd wahr»

Der öffentliche Raum beeinflusst auch die Beziehung zu unserem Körper, oft definiert uns die Gesellschaft darüber. Daraus resultiert, dass vor allem weiblich gelesene Personen Unzufriedenheiten auf ihren Körper projizieren. Wie kommen wir da wieder raus?
Um unseren Körper und unser Selbst anders zu betrachten, brauchen wir mehr Unabhängigkeit. Ich kann leichter Entscheidungen treffen, wenn ich nicht das Gefühl habe, ich muss gefallen – weil jemand anderes die Macht darüber hat, ob ich eine Rente habe, in welchem Haus ich lebe, wie gut versorgt ich bin, was ich mir leisten kann. Fehlt in einem System tatsächliche Gleichberechtigung, muss ich mir Wege suchen, um trotzdem voranzukommen. Das ist dann eben ganz oft, denen zu gefallen, die das Geld oder die Entscheidungsgewalt haben.

Sie schreiben auch, dass wir Frauen uns ständig untereinander vergleichen. Dieses Phänomen nennt sich «Social Physical Anxiety», das potenzielle Scheitern am eigenen Spiegelbild. Was ist damit gemeint?
Wir haben ein Idealbild, messen unseren Körper daran und nehmen uns in einem permanenten Prozess des Scheiterns wahr. Es gibt zum Beispiel den Charlies-Angels-Effekt, der besagt: Nachdem Männer den gleichnamigen Film mit drei attraktiven jungen Frauen gesehen haben, empfinden sie ihre Partnerin danach als wesentlich weniger attraktiv. Das gilt auch für Frauen sich selbst gegenüber. Man muss sich also überlegen, was man sich antut, wenn man sich gewisse Sachen anguckt oder nicht anguckt.

Jetzt kann man sich ja auf Social Media bewusst andere Bilder ansehen und dadurch seinen Algorithmus verändern. Trotzdem sind im öffentlichen Raum in Werbung, Serien und Filmen immer noch diese perfekten gephotoshoppten Menschen zu sehen.
Man kann sich fragen, warum eigentlich überall Werbung hängt. Warum wir Konzernen erlauben, unseren öffentlichen Raum so zu beanspruchen. Das macht beim werbefinanzierten Fernsehen vielleicht Sinn. Aber wenn ich über die Strasse gehe, was gibt mir die Firma dafür zurück, dass sie da hängt? Es gibt Städte, die keine Werbung mehr im öffentlichen Raum haben. Die brasilianische Stadt São Paulo experimentierte erfolgreich damit. Ich finde, das ist zumindest eine interessante Idee.

Betrifft das Gefallenwollen nur weiblich gelesene Personen?
Es betrifft weibliche Personen mehr, weil sie diese grosse Notwendigkeit haben, zu gefallen. Das kann man im öffentlichen Diskurs gut beobachten. Frauen ab 40 verschwinden zunehmend: Sie sprechen weniger auf Panels, sind weniger in Talkshows eingeladen, spielen weniger Hauptrollen, haben weniger Sprechanteil in Filmen, werden als Expertinnen nicht in Anspruch genommen – alles Orte, wo wir sie wahrnehmen würden. So ist der Druck auf Frauen hoch, jung und gut auszusehen. Da gibt es schon ein starkes Ungleichgewicht.

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«Schönheit ist eine Geldfrage und auch eine Klassenfrage»

Sie schreiben, Fältchen, Körperhaare, Fettpolster und andere vermeintliche Imperfektionen zu zeigen, sei eine politische Aktion.
Wenn du die Person bist, die im Meeting entscheiden darf, dir eh zugehört wird und du dir keine Sorgen um deine Rente machen musst, fällt es auch leichter, «I don’t care» zu sagen. Weshalb wir mehr Gleichberechtigung brauchen. Und es hilft auch, wenn wir mehr Menschen in unserem Umfeld haben, die diverser, vielfältiger, vermeintlich unperfekter sind. Weil wir dann feststellen: «Ah, alle Varianten sind möglich und ich kann mit jeder Variante erfolgreich sein.»

So kämen wir auch weg von diesem Gefühl von Lähmung, das sich über uns legt, wenn wir uns die ganze Zeit Gedanken über unseren Körper und seine Wirkung machen.
Jemand, der permanent unzufrieden ist mit sich und das Gefühl hat, gefallen zu müssen, ist natürlich davon in Beschlag genommen. Und eher dazu bereit, die ganze unbezahlte Care-Arbeit zu machen. Das ist sehr praktisch für weite Teile der Bevölkerung, raubt uns Frauen aber die Energie, uns um wichtigere Themen zu kümmern.

Konzerne haben mehr Einfluss auf uns als politische Entscheidungsträger:innen, schreiben Sie: «Die Zielgruppe für die grossen Zukunftsfragen ist kleiner als die für die nächste Wimperntusche.» Wie beeinflusst uns das?
So sehr wir auch denken, Schönheitsprodukte seien etwas, das wir selbst wollen, sind wir doch absolut beeinflusst davon, dass dort ein Marketingbudget dahintersteckt. Das perfekte Marketing versucht, dir was zu verkaufen, von dem du nicht wusstest, dass du es brauchst. Wir wollen dazugehören, das ist menschlich: Aber es wäre schöner, wenn wir alle sagen, wir essen gerne Spaghetti – als: Wir brauchen alle die nächste Verschönerung.

Zugleich muss man die Möglichkeit haben, Geld und Energie in sein Aussehen zu investieren, um gefallen zu können. Ist Schönheit also auch eine Geldfrage?
Es ist eine Geldfrage und auch eine Klassenfrage. Und das wird sich noch massiv verstärken. Wir sehen jetzt schon, dass es viele Personen gibt, die jahrelang auf eine Schönheitsoperation sparen, weil sie denken, auf der anderen Seite läge das Glück. Und mit den Möglichkeiten, in Zukunft noch mehr genetische Selektion zu betreiben, was den eigenen Nachwuchs anbelangt, werden es reiche Menschen immer leichter haben. Sie werden mit Designer-Babys vermeintlich schönere, bessere, klügere Mensch kriegen. So wird Schönheit noch käuflicher.

Sie meinen, dass es quasi irgendwann gar keine Entschuldigung mehr gibt, «nicht schön» zu sein?
Am Ende des Tages ist zum Glück relativ egal, wie perfekt du geboren bist und auch wie viel Geld du hast – noch sind wir sterblich. Ein Grossteil von uns begegnet im Leben dem Tod, der Krankheit, dem Verfall. Und ich glaube, wir würden gut daran tun, das zu begreifen und zu akzeptieren. Und vielleicht gibt es dann wieder eine Trendumkehr, eine Besinnung auf das Wesentliche im Leben. Es wäre zu wünschen.

«Ich verweigere mich dem Friseurbesuch, zupfe mir aber die grauen Haare aus»

Sie schreiben, ob der – oft operierten – Perfektion um uns herum sei es schwierig, sich nicht anstecken zu lassen, aber auch, nicht darüber zu urteilen.
Ich mache die Antwort auf die Frage, wie feministisch, wie inhaltlich integer oder wie klug jemand ist, definitiv niemals davon abhängig, wie jemand aussieht. Der Feminismus täte sehr gut daran, sich weniger Gedanken darüber zu machen, ob die eine jetzt flache Schuhe und Falten hat und die andere aussieht wie Jane Fonda. Ich würde nie von einer einzelnen Person erwarten, dass sie sich gegen ein System stellt. Und mir selbst gelingt das auch nicht. Ich verweigere mich dem Friseurbesuch, stehe aber vor Events vor dem Spiegel und zupfe mir die grauen Haare aus.

Sie fragen sich auch, ob man Verschönerungsmassnahmen gezielt nutzen sollte, um im aktuellen System vorwärtszukommen.
Es wäre jedenfalls totaler Quatsch, jemandem diesen Weg vorzuwerfen. Wenn das die klügste, schnellste und sicherste Variante ist, um dich durchs Leben zu bringen, dann ist das womöglich klug und genau richtig.

Was sagen Sie zum Thema Selbstliebe?
Ich finde, man muss sich nicht ständig selbst lieben. Ich will mich auch nicht gut finden müssen. Oder bestimmte Dinge tun müssen, um glücklich zu sein. Es muss nicht immer alles angenehm sein, sich gut anfühlen und nur positiv sein.

Wäre das auch ein Weg, den ganzen Druck loszuwerden?
Ich denke schon. Man hat ja manchmal so Momente des Glücks, geladen von Euphorie und Zuneigung. Und wenn man das mit jemandem teilt, ist es wundervoll und explosiv. Aber muss man das den ganzen Tag haben? Ich glaube, wir müssen lernen, zu akzeptieren, dass wir die glücklichen Momente nur verstehen können, wenn es dazwischen ganz viele normale und auch ein paar traurige Momente gibt – und überhaupt die ganze Bandbreite an Gefühlen. Man muss die nicht immer wegschieben für ein erfülltes Leben. Und vielleicht ist das sowieso das bessere Ziel: ein erfülltes Leben. Denn ich glaube, das besteht aus Glück und Trauer, aus Unzufriedenheit und Zufriedenheit.

Saralisa Volm ist Schauspielerin und Autorin. Ihr Buch «Das ewige Ungenügend: Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers» kostet ca. 35 Franken.

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Helmut Kautzner

Diesem Artikel/Buch/Interview kann ich nur zustimmen. Es gibt ein Missverständnis in weiten Teilen unserer Gesellschaft, einer im Grunde genommenen kaputten Gesellschaft. Ein überwiegender Teil ist unzufrieden mit dem, was er hat. Wir messen uns an den Nachbarn, an den Influencern und Influencerinnen. Wir messen uns an vermeintlichen Schönheiten und vergessen ganz unsere inneren Werte. Grundsätzlich sind wir orientierungslos geworden, haben den Kontakt zu dem natürlichen, zu der Natur verloren. Wie schön steht ein Grashalm hoch erhoben, zwar nicht so anmutig wie eine Rose, aber er erfüllt den Sinn seines Daseins. Gibt mit seinem Samen den Vögeln Nahrung, nicht die Rose. So ist es in vielem, wird nicht erkannt. Ich bewundere oft übergewichtige Frauen, ihre oft leibreizenden Gesichter, ihre Intelligenz. Das Maß aller Dinge ist nicht das Model, dünn gezüchtet, mit Salat. Mittlerweile sind wir dank sei Gott inzwischen etwas anders orientiert, aber vieles liegt wie hier angesprochen noch im Argen. Es wird höchste Zeit, die Maßstäbe zu ändern. Nicht nur nach außen, sondern auch für sich, mit Selbstbewusstsein, nicht mit dem Drang zu besserem.
Ich bin zwar ein Mann, von 84 Jahren, aber habe vieles erlebt und über vieles nachgedacht und deshalb erlaube ich mir diesen Kommentar.