
Autorin Jessica Jurassica: "Unsere Generation ist sehr unfeministisch sozialisiert worden"
In Jessica Jurassicas zweitem Roman "Gaslicht", der am 27.8. erscheint, geht es um #MeToo, die Schweiz, eine Reise nach New York und ins Appenzell – und die Frage, wie wir nach einer Gewalterfahrung heilen können.
- Von: Darja Keller
- Bild: Mia Nägeli
Jessica Jurassica (*1993) wurde quasi über Nacht bekannt: Auf einem Kulturblog, der zum Universum des Medienunternehmens TX Group gehörte, veröffentlichte sie 2018 einen Text über den Verwaltungsratspräsidenten ebenjenes Unternehmens, Pietro Supino. Darin fantasierte sie darüber, wie sie dessen Nachkommen heiratet, die TX Group übernimmt und mit Supino zum Golfen fährt, während ihr Mann sich um Haushalt und Kinder kümmert.
Den Bloggerinnen-Job war sie danach los, der Rest ist Geschichte: Im gleichen Jahr gewann sie einen Literaturwettbewerb in ihrem Heimatkanton Appenzell-Ausserrhoden. Zur Preisverleihung liess sie sich online zuschalten, schon damals trug sie ihre bis heute charakteristische Sturmmaske und schrieb unter Pseudonym – Jessica Jurassica ist eine Kunstfigur. In Kolumnen, Essays und auf Twitter schrieb sie über Feminismus, Sex und Substanzkonsum.
Sie studierte eine Weile unterschiedliche geisteswissenschaftliche Fächer an der Uni Bern und arbeitete danach in der Gastronomie. Ihr künstlerisches Schaffen erstreckt sich von Installationen und Performances über Dokumentarfilme bis zu Eurodance-Musik. Ihre erotische Fanfiction «Die verbotenste Frucht im Bundeshaus» (2020) erhielt eine Abmahnung der Bundeskanzlei; ihr Debütroman «Das Ideal des Kaputten» (2021) den Berner Literaturpreis.
Ich treffe Jessica Jurassica an einem warmen Augustnachmittag in Basel, wo sie wohnt. Wir sitzen auf Plastikstühlen im Kannenfeldpark vor einem kleinen Kiosk, um über ihren zweiten Roman «Gaslicht» zu sprechen. Er ist eine Reise durch Städte, Täler, Jahrhunderte, Bewusstseins- und Gesteinsschichten. Die Protagonistin versucht, eine Gewalterfahrung zu verarbeiten, die sie immer wieder einholt. Sie forscht entlang feministischer Traditionslinien, begibt sich auf die Suche nach den eigenen Vorfahrinnen zurück bis ins 14. Jahrhundert. Die vielen Stränge des Buchs verdichten sich zu einer schillernden und düsteren Geschichte über Macht, Männlichkeit, Trauma – und die Möglichkeiten eines Neuanfangs.
annabelle: Jessica Jurassica, «Gaslicht» beginnt mit einer Süssigkeit: Die Protagonistin macht beim Kägifret-Gewinnspiel mit und gewinnt eine Weltreise. Warum gerade diese Süssigkeit?
Jessica Jurassica: Erstens, weil es das Gewinnspiel tatsächlich gibt. Zweitens: Ich mag Kägifret, es ist ein so typisch schweizerischer Snack aus dem Toggenburg und hat für mich den gleichen Vibe wie das Migros-Restaurant oder Rivella – Dinge, die mich an meine Grosseltern erinnern. Vor allem aber mochte ich die Parallele zu Niklaus Meienberg.
Sie meinen das Buch «Der andere Niklaus Meienberg» (1998, Weltwoche Verlag) von Aline Graf, das in «Gaslicht» immer wieder vorkommt. Darin schildert Graf ungeschönt die Affäre zwischen ihr, die zu Beginn der Beziehung 27 Jahre alt war, und dem 17 Jahre älteren, berühmten Journalisten Niklaus Meienberg, der verspricht, ihre Karriere als Autorin zu fördern. Er hält die Beziehung bis zu seinem Tod 1993 geheim und besucht sie fast ausschliesslich spontan in ihrer Wohnung. Eines ihrer wenigen Treffen in der Öffentlichkeit findet an einer Tankstelle statt: Er kauft sich ein Kägifret, fordert sie auf, es für ihn auszupacken, und «verschlingt es wie ein Bär», wie Sie zitieren.
Die Meienberg-Geschichte hängt eng mit den Themen meines Buchs zusammen: Es geht um Gewalt und Macht und Männer in den Medien. Journalisten, die zu Helden stilisiert werden und ihre Position gegenüber jungen Frauen ausnutzen, sind kein Phänomen der letzten paar Jahre, diese Art von Gewalt hat eine Geschichte. Ich mochte die überspitzte Timeline: Meienberg verschlang in den 90ern an einer Tankstelle ein Kägifret, und etwa dreissig Jahre später schreibe ich ausgehend von einem Kägifret-Gewinnspiel einen #MeToo-Roman.
Die Protagonistin in «Gaslicht» blickt an einer Stelle selbst zurück auf eine kurze Affäre mit einem deutlich älteren Journalisten. Schon als es passiert, fühlt sich für sie etwas daran seltsam an. Später, als ähnliche und schlimmere Verstrickungen des Journalisten bekannt werden, kann sie das Machtgefälle deutlich benennen, sie sagt: «Er hätte mich haben können und zerschlagen wie Porzellan.» Hat sich Ihr Blick auf solche Verhältnisse mit zunehmendem Alter stark verändert?
Machtverhältnisse haben mich schon immer interessiert. Im ersten bekannten Text von mir über Pietro Supino ging es darum, diese spielerisch umzudrehen. Weil in den letzten zehn Jahren durch #MeToo eine neue Feminismuswelle entstand, habe ich mehr Begriffe gefunden für Erfahrungen, die mir vorher ein diffus unangenehmes Gefühl gaben. Ich glaube, gerade unsere Generation, die Millennials, ist sehr unfeministisch sozialisiert worden, auch durch die Popkultur der 2000er. Es gab eine Art Loch in unserer Kindheit, in dem viel feministisches Wissen verloren ging, das lange zuvor erarbeitet wurde.
"Es ging mir darum herauszufinden, was meine Geschichte ist – wieso ich bin, wer ich bin"
Eine, die vor Jahrzehnten feministische Pionierarbeit leistete, war die Schweizer Autorin Verena Stefan. 1975 wurde sie mit ihrem Debüt «Häutungen» berühmt; das Buch gilt als Klassiker der Frauen- und Lesbenbewegung. Die Protagonistin in «Gaslicht» liest es wieder und wieder, sagt an einer Stelle: «Ich will, dass Verena Stefan mich in den Arm nimmt.» Wie ist Ihr Verhältnis zu diesem Buch?
Ich habe «Häutungen» vor fast zehn Jahren zufällig in einem Brocki in Bern gefunden, ein schmales Buch mit Wolken auf dem Cover. Damals habe ich gerade angefangen, mir vertiefter Gedanken über Feminismus zu machen. Seither habe ich es viermal gelesen und immer wieder neue Sachen gefunden, die mich weitergebracht haben. Es ging Stefan darum, eine Sprache zu finden für die Unterdrückung, die sie erlebt. Plötzlich las ich das Buch einer Frau, die vor fünfzig Jahren die gleichen Gedanken, Gefühle und Probleme hatte wie ich. Das war ein Schlüsselmoment.
Inwiefern?
Dieses Gefühl: Ich befinde mich nicht in einem luftleeren Raum, sondern habe eine Geschichte, auf die ich aufbauen kann, Vorkämpferinnen, die die Arbeit schon mal gemacht haben.
Die Protagonistin in «Gaslicht», die viele biografische Eckdaten mit Ihnen teilt, begibt sich nicht nur auf eine tatsächliche Weltreise, sondern auch auf eine innere Reise ihrem Stammbaum entlang. Während sie durch New York streift, denkt sie über ihre Urgrosstante nach, die im 19. Jahrhundert aus der Ostschweiz nach New York reiste, um dort an der Upper East Side als Hausangestellte zu arbeiten. Woher kommt dieses Interesse an der Familiengeschichte?
Es ging mir darum herauszufinden, was meine Geschichte ist, wieso ich bin, wer ich bin. Ich spazierte entspannt durch New York und trank Cappuccino – und 100 Jahre früher ging meine Urgrosstante durch dieselben Strassen, aber in einem ganz anderen Kontext. Gleichzeitig gibt es Gemeinsamkeiten: Meine Urgrosstante und ich sind in fast identischen, uralten Bauernhäusern in einem entlegenen Tal aufgewachsen, mit Decken, die so niedrig sind, dass man sich den Kopf stösst. Was mich daran interessiert, ist etwas Ähnliches wie bei Verena Stefan: Können wir vergleichbare Gedanken und Gefühle haben, auch mit Jahrzehnten zwischen uns? Wie nah kann mir jemand sein, der hundert Jahre weit weg ist?
"Ich habe mir lange überlegt, wie und ob ich konkrete Gewalterfahrungen darstellen soll, und habe mich schliesslich dagegen entschieden"
Zu Beginn Ihres Buchs steht ein Zitat der US-amerikanischen Psychiaterin Judith Herman, das lautet: «If trauma is truly a social problem, and indeed it is, then recovery cannot be simply a private, individual matter.» («Wenn Trauma wirklich ein gesellschaftliches Problem ist – und das ist es zweifellos –, dann kann Heilung nicht einfach eine private, individuelle Angelegenheit sein.») Was bedeutet das?
Ich wollte ein Buch schreiben, in dem die politische Dimension von Traumata zum Tragen kommt. Sexualisierte, partnerschaftliche und allgemein jede Art von Gewalt, die zwischen einzelnen Menschen passiert, wird oft individualisiert und ins Private abgeschoben. Man lässt die Betroffenen mit ihren Traumata allein. Das ist gefährlich. Und es ist der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe: Ich möchte, dass die Gesellschaft Verantwortung übernimmt für die Gewalt, die sie mitträgt.
Wie könnte dieses Übernehmen von Verantwortung aussehen?
Von der Aufarbeitung von Kriegen kennen wir symbolische gesellschaftliche Akte wie Gedenktage, Mahnmale, Kunst im öffentlichen Raum, die dazu da ist, ein schlimmes Ereignis in der Erinnerung und im Bewusstsein der Menschen zu halten. Das beschreibt Judith Herman ausführlich in «Truth and Repair» (holt das Buch aus ihrer Tasche). Dasselbe braucht es für Menschen, die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben – das wäre ein kleiner, aber wichtiger Schritt. Die Grundfrage muss sein, wie wir Betroffene von Gewalt unterstützen können, damit sie ein Stück Frieden finden und sich ernst genommen fühlen in dem, was sie erleben. Dafür braucht es zum Beispiel mehr Institutionen wie die Opferhilfe.
Ist «Gaslicht» auch eine Art Mahnmal?
Es klingt platt, aber es ist das Buch, von dem ich mir früher wünschte, ich hätte es lesen können. Wenn wir Meldungen von Gewalt hören oder lesen, denken wir: Oh, das ist schlimm, kurz ist es ein Skandal, und zwei Wochen später hat sich die Aufregung wieder gelegt. Meine Hoffnung ist, dass man ein Buch schlechter vergisst.
"Ich habe keine Ausbildung, sondern probiere Sachen aus"
Die Gewalt in «Gaslicht» liegt zu grossen Teilen in der Atmosphäre und wird nicht ausbuchstabiert.
Ich habe mir lange überlegt, wie und ob ich konkrete Gewalterfahrungen darstellen soll, und habe mich schliesslich dagegen entschieden. Ich dachte: Wenn ich das Geschehen ausformuliere, wird es auf drei Sätze reduziert. Ich verstehe den Impuls, als Leser:in zu fragen: Was ist genau passiert? Aber diesen Voyeurismus wollte ich nicht bedienen. Ich wollte zeigen, dass Gewalt kein einzelner erzählbarer Akt ist, sondern dass es zweihundert Seiten braucht, um sie einigermassen erfassen zu können.
Zusammen mit der Musikerin Mia Nägeli bilden Sie das Eurodance-Duo «Capslock Superstar». Die Lyrics auf Ihrem aktuellen Album überschneiden sich oft mit Formulierungen aus «Gaslicht». Wie beeinflussen die verschiedenen Kunstformen sich für Sie gegenseitig?
Ich sample gerne: Ich nehme ein Fragment aus einem bestehenden Text oder Song und verwende es für einen anderen. Das kann mit eigenen oder fremden Arbeiten geschehen. Dieses Vorgehen, auf dem die meisten Popsongs basieren, habe ich automatisch aufs Schreiben übertragen. Klar: Ein Roman braucht mehr Zeit, hat ein anderes Gewicht. Ein Buch mit Hardcover und Goldprägung und Lesebändchen bekommt eine andere Art von Aufmerksamkeit. Ich schreibe wahnsinnig gerne Romane, bin gern lange allein mit dem Text. Eine Journalistin hat zu meinem ersten Roman gesagt, ich solle besser wieder Tweets verfassen; inzwischen hat man sich daran gewöhnt, dass ich auch seriöse Sachen mache. (lacht)
Neben Musik und Romanen sind Sie als Künstlerin und Performerin tätig, verfassen gesellschaftskritische Essays auf Ihrer eigenen Plattform «Jessica Jurassicas Lifestyle Blog» und drehen mit dem Kollektiv «Dieter Meiers Rinderfarm» experimentelle Filme. Wie hat es sich ergeben, dass Sie in so verschiedenen Formen und Medien tätig sind?
(überlegt kurz) Ich habe keine Ausbildung, sondern probiere Sachen aus. Wenn ich Leute finde, mit denen ich gut zusammenarbeiten kann, dann ergibt sich daraus eine neue Form. Ich arbeite intuitiv und habe keine Karrierepläne. Ich wusste auch nicht, wie man ein Buch schreibt oder veröffentlicht. Schlussendlich unterscheiden sich vor allem die Bühnen, auf denen etwas vorgetragen wird: Die Bühne für Romane ist eine andere als die für Musik. Ich spiele gern mit diesem Kontext: An den Solothurner Literaturtagen durften wir ein Konzert spielen. Eigentlich ein Ort für Bücher, aber dann haben wir da unsere Deep-House-Eurodance-Musik gespielt und die Leute haben getanzt. Das mochte ich.
«Gaslicht» erscheint am 27.8. bei lectorbooks. Performative Lesungen am 19.9. (Südpol, Luzern), 20.9. (Literaturhaus St.Gallen x Palace, St.Gallen), 3.10. (Aula, Progr, Bern) mit Belia Winnewisser und Anna Dippert
Informationen und Hilfsangebote zum Thema häusliche und/oder sexualisierte Gewalt findest du hier:
143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)
BIF – Beratungsstelle für Frauen
Beratungsstellen für Gewaltvorfälle
Männerhäuser in der Deutschschweiz und in Genf
Für Männer, die Gewalt gegenüber ihrer:ihrem Partner:in einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt-und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.
sofort Lust auf Kägifrett um mir die Wartezeit aufs Buch zu versüssen! Tolles Interview, danke!
Hello Anna, vielen Dank für deinen Kommentar! Freut mich sehr, dass dir das Interview gefallen hat. Ganz einen schönen Tag dir!