Kann man das Popjahr 2011 voraussagen? Eigentlich nicht, aber wir tuns natürlich trotzdem: Kanye West bleibt Überflieger, Anna Calvi ist unser neuer Hoffnungsstern.
Was Bankiers das ganze Jahr über dürfen – nämlich: in die Glaskugel gucken –, ist Musikjournalisten nur zum Jahresbeginn erlaubt. Dann möchte die Menschheit wissen, wer in Pop, Rock und Rap noch dabei ist, wer rausfliegt, wer neu reinkommt und ob man den Sommerhit schon vorbestellen kann.
Das Praktische an den Sechzigerjahren war: Die Popmusik war reichhaltig, aber ein Überblick war möglich. Wer im Dezember 1969 ein Album von James Brown, Bob Dylan, The Rolling Stones, Martha & the Vandellas, The Who, Pink Floyd, The Byrds, The Velvet Underground, Jimi Hendrix und Led Zeppelin zuhause hatte, war dabei und konnte mitreden. Die Beatles musste man nicht kaufen, die kamen im Radio. Heute ist alles anders. Wir irren auf der dunklen Seite des Mondes. Keinen Überblick zu haben, ist heute normal.
Fest steht: Nach dem Absacken von House und Techno in den Nullerjahren haben Gitarren auch in Zukunft Überlebenschancen: Bands wie The Strokes, The Libertines, Muse oder Queens of the Stones Age. Aber wer erwartet schon dringend eine Neue von Franz Ferdinand? Die interessantesten Musiker sind heute Alchemisten, die mit den Zillionen Möglichkeiten von japanischen Computerchips und amerikanischen Gitarrensaiten jonglieren, wie etwa der kanadische Mathematiker und Komponist Caribou. Was, den kennen Sie nicht? Sein Album «Melody Day» (2007) zu entdecken, ist, als ob Sie letzte Woche zum ersten Mal Tom Waits oder Roxy Music gehört hätten. Das gilt übrigens auch für das Lausanner Duo Larytta mit seinem Album «Difficult Fun» (2009).
95 Prozent des Musikschaffens sind und bleiben Geheimtipps. Und bei den restlichen fünf Prozent, die man aus Radio und Fernsehen kennt, geht ein schreckliches Virus um: Pop, Soul und Rap, die fast vollständig die Hitparaden füllen, sind auch dieses Jahr im Würgegriff eines Sound-Effekts namens Auto-Tune, deutsch: automatisches Stimmen. Ein Korrigier-Effekt, auf den Madonna dringend angewiesen ist, damit niemand hört, wenn sie beim erotischen Herumturnen danebensingt.
Auto-Tune benutzte man etwa, als Cher 1998 den Song «Believe» aufnahm. Der Studiotechniker erlaubte sich einen Scherz und stellte den Effekt zu empfindlich ein. Damit entstanden unnatürliche Töne, ein superkurzes, würgendes Jodeln aus dem Weltall, als würde man beim Singen geschüttelt. Cher gefiel der Gurgelsound, der Song gewann einen Grammy, verkaufte sich zehnmillionenfach und wurde tausendfach nachgegurgelt: von Beyoncé, Rihanna, Usher, Black Eyed Peas und Justin Bieber. Sie alle werden es auch 2011 wieder tun.
Was uns irritiert: Sogar Lady Gaga, die Video-Rebellin, die uns seit August 2008 täglich ein neues, noch schrilleres Outfit vorführt, auch sie, die statt in Jeans und T-Shirt lieber mit einem Huhn auf dem Kopf in die Bäckerei geht, unterwirft sich dem Gurgelsound-Befehl. Dabei kann Gaga nicht nur lecker Piano spielen, sondern echt singen. Vielleicht, vielleicht hätte sie unsere Lieblingsrebellin werden können. Aber nein – sie kuscht vermutlich auch in Zukunft.
Und was passiert im Hip-Hop? Nicki Minaj, geboren in Trinidad, ist eine schwarze Barbie in Pink, die famos rappt und singt – sie könnte Grace Jones’ Nachfolgerin sein. Eminem ist voll ausgebucht mit coolen Kurzeinsätzen (unter anderem bei Rihanna und Nicki) als böser weisser Onkel mit Frauenproblemen. Rapking 2011 aber ist ganz klar Kanye West: ungenierter Rap, Popbouquets und Irritation auf Eiffelturmhöhe. Unüberhörbar.
The Velvet Underground waren jahrzehntelang die Band, die am meisten Bands beeinflusste. Nun scheint es, dass dies neuerdings David Bowie und Brian Eno tun – beide sind verwandlungsfähige Popmusiker, beide standen schon in Hitparaden rum, beide sind beeinflusst von der deutschen Avantgarde der frühen Siebziger, von Bands wie Neu, Faust oder Harmonia. Ein Echo davon hört man heute in jungen Bands wie den knatternden Battles aus New York oder dem kreislaufstoppenden Duo Civil Civic aus London – Namen, die Sie sich merken sollten!
Selbiger Brian Eno hat kürzlich eine Entdeckung gemacht: Anna Calvi aus Südostengland, wohnhaft in London und Erfinderin einer strikten, verführerisch-erhabenen Art von Bolero-Rock’n’Roll. Das Debütalbum erscheint im Januar. Die Band: eine strenge Opernschönheit mit bebender Stimme und rotem Lippenstift an der Fender-Gitarre, ein eleganter Rock’n’Roll-Schlagzeuger mit Jazzgehör und ein Hippiegirl an Tambourin und Harmonium. Was Sängerin, Band und Songs ausstrahlen? Einen radikalen, exquisiten, blutroten Ernst. Vielversprechende Aussichten.
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Soundexperimente mit Rock, Pop, Electronic und Improvisation: Battles aus New York
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Entdeckung: Der kanadische Mathematiker und Komponist Caribou
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