Literatur & Musik
Mit 6 Buchempfehlungen durch Wind und Wetter
Der Sommer lässt auf sich warten. Aber egal ob an sonnigen Badi-Tagen oder bei trübem Regenwetter - mit unseren Büchertipps taucht ihr in eine andere Welt ein.
Roman: «Kleine Fluchten» von Carole Fives
Wann wird eine Mutter zur Rabenmutter? Wenn sie über ihren kleinen Schatz nicht nur juchzt, sondern auch schluchzt? Wenn sie ihn eine Nacht lang allein lässt? Carole Fives’ Protagonistin tut beides, und wird von der Gesellschaft entsprechend verurteilt. Wie es sich anfühlt, täglich zwischen Liebe und Nervenzusammenbruch zu schwanken, wie es ist, knapp bei Kasse und allein für ein Wesen verantwortlich zu sein, das nimmersatt nach Aufmerksamkeit verlangt, wird in diesem Protokoll des Mutterseins sonnenklar. Die alte Leier der überforderten Mama? Nein: ein eindringliches Solo in Literaturform.
Zsolnay-Verlag, Wien 2021, 144 S., ca. 23 Fr.
Roman: «Der Schatten über dem Dorf» von Arno Camenisch
Arno Camenisch hat erneut eines seiner kleinen, feinen Büchlein herausgebracht, die sich so gut im eigenen Bücherregal machen. Doch dieses Mal ist etwas anders: Camenisch ist der Erzähler dieser Geschichte – seiner eigenen Geschichte. Das bisher persönlichste Buch des 43-jährigen Schriftstellers nimmt einem mit in ein Dorf oberhalb von Tavanasa, wo Camenisch aufgewachsen ist. Man lernt viel über dieses kleine Dorf und wie immer bei Camenisch steht das ganz Kleine hier auch für das ganz Grosse. Da ist das Unglück von drei Buben, die ums Leben kamen, der Tod des eigenen Vaters, die Scheidung der Eltern – Camenisch gibt Einblick in seine Gefühlswelt auf eine nüchterne und doch berührende Art und Weise. Wie er über die Liebe, den Tod und die Vergänglichkeit schreibt, bewegt.
Der Schatten über dem Dorf, Engeler, 104 Seiten, ca. 20.80 Franken
Roman: «Weisse Rentierflechte» von Anna Nerkagi
Wer im Nomadenvolk der Nenzen am nördlichen Polarkreis aufwächst, hat zwei Möglichkeiten: sich den archaischen Bräuchen der Rentierzüchter unterzuordnen oder in die moderne Welt der Städte zu fliehen. Aljoschka will keines von beidem. Er hofft noch immer auf die Rückkehr seiner Geliebten, die die Flucht gewählt hat. Anna Nerkagi inzeniert ein stilles Drama der Lebensvorstellungen und Leidenschaften. Ein Roman wie die Tundra, eindrücklich und befremdend zugleich.
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2021, 140 Seiten, ca. 35 Fr.
Erzählung: «Der Schiffskoch» von Mathijs Deen
Die Texel ist ein Feuerschiff. Sie legt nie ab und kommt nie an, sondern liegt auf hoher See vor Anker und dient anderen Schiffen als Lichtsignal. Entsprechend lähmend ist der Alltag darauf. Dann bringt der Koch ein Böcklein mit an Bord – als lebenden Vorrat für «Gulai Kambing», Schmorfleischeintopf auf indonesische Art. Das junge Tier galoppiert direkt in die Herzen der Mannschaft. Nebel, Beinahe-Kollisionen, persönliche Geschichten und Geschichte: Überall hat das Geisslein plötzlich seine zarten Hornansätze mit drin. Dass die Aussicht auf Zie-gencurry bald niemanden mehr lockt, versteht sich von selbst. Doch der Gott des Stillstands, bisher alleiniger Herrscher dieser winzigen Welt auf dem Meer, ver-langt nach einem Opfer. Er be-kommt es, weil Mathijs Deen die Geschehnisse beinahe buchstäblich aus dem Ruder laufen lässt. Eine besondere Erzählung, mari-tim, mysteriös und auch Nicht-vegetariern zu empfehlen.
Mare-Verlag, Hamburg, 2021, 110 Seiten, ca. 19 Fr.
Roman: «Wetter» von Jenny Offill
Lizzie ist Untergangsspezialistin. Sie sortiert die Hörerpost eines Apokalypsen-Podcasts und versucht daneben zu retten, wer und was vielleicht zu retten ist. Hauptsächlich ihren drogenabhängigen Bruder und andere gescheiterte Existenzen, die ihren Alltag bevölkern. Gern auch den Planeten. Dass ihre Erfolgschancen eher gering sind, macht das Weiterwursteln umso dringlicher und Galgenhumor zwingend. Jenny Offill versteht sich hervorragend auf die Komik existenzieller Bedrohung. Mit dieser Mischung aus Miniaturszenen und Denkfunken liefert die formidable US-Autorin eine Liebeserklärung ans Jetzt, das unsere letzte Chance ist.
Piper-Verlag, München 2021, 222 Seiten, ca. 29 Fr.
Krimi: «Gestapelte Frauen» von Patrícia Melo
Es beginnt mit einer Ohrfeige. Die Ich-Erzählerin sieht rot: das Blut aller Frauen, die von Männern umgebracht worden sind. Ihrem bis zu diesem Schlag ins Gesicht so perfekten Freund gibt sie sofort den Laufpass. Sich selbst verschreibt sie als Schocktherapie eine Reise in eine Gegend Brasiliens, wo Gewalt gegen Frauen zum Alltag gehört. Je länger sie sich mit dem Thema beschäftigt, desto wilder werden ihre Rachefantasien. So verdichten sich indigene Mythen und brutale Wirklichkeit, Träume und Traumata zu einem Szenario, das sich als Krimi mit Mehrwert erweist: spannend, eigenwillig, relevant.
Unionsverlag, Zürich 2021, 256 Seiten, ca. 30 Fr.