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Meine Begegnung mit US-Sängerin Fletcher: «Wenn uns das Herz gebrochen wird, kommen wir dem Tod näher»

Popkultur

Meine Begegnung mit US-Sängerin Fletcher: «Wenn uns das Herz gebrochen wird, kommen wir dem Tod näher»

Die Gay-Pop-Ikone Fletcher hat diesen Frühling ihr zweites Album «In Search of the Antidote» herausgebracht. Unsere Autorin Darja Keller hat die US-Sängerin getroffen und mit ihr über die Liebe gesprochen. Eine Begegnung.

Fletcher sitzt mit angezogenen Beinen auf einem Ledersofa im Backstage-Bereich des ausverkauften Komplex 457 in Zürich. Später wird sie hier auf der Bühne stehen. Sie trägt ein graues Longsleeve, eine weite Jeans. Fletcher nippt an ihrem Tee und fragt mich, wie es mir geht. Ich sage ihr, ich sterbe vor Nervosität. Sie sagt: «Es gibt keine Erwartungen. Das hier kann so werden, wie auch immer wir es wollen», was mich nicht weniger nervös macht.

Fletcher, bürgerlich Cari Fletcher, macht exzessiv emotionalen, sehr lesbischen Pop. Mit 17 war sie Kandidatin bei der Castingshow «The X Factor»; ihre erste Single als Solokünstlerin, «War Paint», veröffentlichte sie 2015. 2022 erschien ihr Debütalbum «Girl of My Dreams» und im selben Jahr wurde sie auf die Forbes-Liste «30 unter 30» aufgenommen. Auf Tiktok hat sie 1.4 Millionen, auf Instagram eine Million Follower. Ihr zweites Album «In Search of the Antidote» erschien diesen Frühling.

2017 schickte mir meine erste Liebe, mit der ich damals jedoch nicht mehr zusammen war, den Youtube-Link zu «Wasted Youth», einem von Fletchers frühen Songs. Im Video, das heute 7.2 Millionen Aufrufe verzeichnet, streift Fletcher mit ihrer damaligen Freundin, der Youtuberin Shannon Beveridge, durch die Nacht, klettert über Mauern, schaut ihr tief in die Augen, knutscht im Wäschesalon, sitzt ihr im Diner gegenüber. Ich fand es wahnsinnig amerikanisch und unsäglich romantisch. Als ich Fletcher darauf anspreche, werden wir nostalgisch.

annabelle: Ich habe vor dem Gespräch «Wasted Youth» wieder einmal angeschaut.
Fletcher: Wow. Das ist so lange her! 

Man sieht an den Klamotten, dass es aus den Zehnerjahren ist.
Total, die Converse, die Skinny Jeans, die Denim-Jacken. Dieses Video ist eine Zeitkapsel für einen wichtigen Moment meines Lebens. Ich habe mich verliebt damals, und das Video hat Vieles für mich verändert, auch beruflich. Ich liebe es sehr.

Was bedeutete es für Ihren Weg als Musikerin?
Es war das erste Mal, dass ich irgendeine Art von Statement zu meiner Sexualität in meiner Musik machte. Ich hatte Angst vor diesem Schritt, auch wenn es schon 2017 war, aber es gab auch damals noch wenige geoutete Popmusikerinnen. Es gab Tegan & Sara und Hayley Kiyoko, aber nie so viele wie heute. Ich wollte mehr davon sehen.

Fletcher und ich haben den gleichen Jahrgang, 1994. Für mich fühlt es sich an, als hätte ich alle Höhen und Tiefen meiner Zwanziger mit ihr durchlebt. 2019 hatte Fletcher ihren Durchbruch mit der Single «Undrunk», die es in die Billboard Hot 100 schaffte und die ich einen heissen Sommer lang verkatert rauchend am Fenster hörte.

Fletcher und Shannon Beveridge trennten sich zu Beginn der Pandemie und nahmen danach eine Quarantäne-EP miteinander auf («The (S)Ex Tapes»). In den folgenden Jahren verfasste Fletcher zahllose Trennungshymnen, die im Rhythmus meiner eigenen Heartbreaks erschienen: Von «I know you fucked her on the counter right before you cooked her dinner» im Song «Bitter» über «I fixed your heart, but mine still hurts» in «Better Version».

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«Wenn ich etwas durchmache, dann geht es jemand anderem sicher ähnlich. Wir sind immer Spiegel füreinander»

Fletchers Lyrics haben die emotionale Intensität von Taylor Swift, sind aber roher, expliziter und fühlen sich näher an meiner Lebenswelt an, da sie spezifisch lesbische Probleme behandeln. Ein Beispiel: Ihren Höhepunkt erreichte Fletchers Herzschmerz-Schaffensphase 2022 mit dem Song «Becky’s So Hot», in dem sie über Shannons (damalige) neue Freundin, die wirklich Becky heisst, singt: «She’s the one I should hate / But I wanna know how she tastes».

Ist das nicht unfeministisch?

Die lesbische Ecke von Tiktok explodierte – und Fletcher wurde zu einem heiss geliebten, aber auch kontroversen Pop-Phänomen: Ist es okay, die neue Freundin der eigenen Ex-Freundin ohne deren Konsens namentlich in einem Songtitel zu erwähnen – und so stark zu sexualisieren? Ist das nicht unfeministisch, vielleicht sogar frauenfeindlich? Inzwischen war Fletcher zu Gast in Shannons Podcast und hat sich für den Song entschuldigt.

Seit 2017 hat sich viel getan. Heute ist Gay Pop über die Szene hinaus bekannt und beliebt: Künstler:innen wie Fletcher, Hayley Kiyoko, Chappell Roan, Renée Rapp, Troye Sivan, Janelle Monaë – sie alle machen ästhetische Videos, in denen tendenziell viel geknutscht wird, tanzbare Musik mit queeren Lyrics.

Es ist kein Zufall, dass Billie Eilish diesen Mai einen Song mit dem Refrain «I could eat that girl for lunch» veröffentlicht. Katy Perrys «I Kissed a Girl» wirkt hundert Jahre alt – vor allem, seit Fletcher den Song in ihrer Version «girls girls girls» gecovert hat und darin singt: «I kissed a girl and I liked it / Sipped her like an Old-Fashioned».

Überidentifikation mit queeren Popstars

Mir fällt es schwer, den Bekanntheitsgrad von Gay-Pop-Stars realistisch einzuschätzen: Wenn Fletcher oder Hayley Kiyoko für ein Konzert in die Schweiz kommen, sind meine Freund:innen und ich überrascht, dass sie nicht im Hallenstadion spielen. In Wahrheit performen sie in weitaus kleineren Lokalen, weil sie in der Schweiz den heterosexuellen Mainstream nicht erreichen.

In meinem Kopf sind sie erfolgreicher als in Wahrheit. Ich leide mit ihren Trennungen mit, ihre Pärchen-Bilder machen mich sentimental, als wären sie meine Familie. Häufig findet mit queeren Popstars eine Art Überidentifikation statt, wir fühlen uns ihnen näher, haben das Gefühl, wir kommen aus derselben Welt.

Viele Fans begleiten Sie seit Jahren, Sie sind Teil ihres Coming-out-Prozesses. Wie ist das für Sie?
Es ist wahnsinnig schön, dass mich so viele Leute seit langer Zeit begleiten und ich ein kleiner Teil ihres Wegs sein kann. Ich habe verrückte Geschichten gehört: Leute fliegen von weit her an, um meine Konzerte zu sehen, manchmal aus Ländern, in denen Queersein illegal ist. Das berührt mich unglaublich. Gerade deswegen frage ich mich natürlich oft: Wie soll ich mich zeigen? Und vor allem: Wie viel soll ich zeigen, welche Teile behalte ich für mich, welche will ich in Kunst verwandeln und Leute daran teilhaben lassen? Wenn ich etwas durchmache, dann geht es jemand anderem sicher ähnlich. Wir sind immer Spiegel füreinander.

Auf dem Konzert lässt Fletcher das Publikum fast alle Refrains singen. Sie sagt uns, wir dürften alle genau so sein, wie wir sind – «Ihr dürft weinen, lachen, schreien, auf der Toilette Sex haben» – und wir würden alle geliebt. Ich muss bereits beim zweiten Song ein bisschen weinen.

Fletcher lässt einen Fan ein selbstkomponiertes Lied vorsingen und umarmt sie danach innig. Auch in unserem Gespräch wirkt sie sanft, warmherzig und ein bisschen spirituell. Auf ihrem neuen Album findet sich das ganze Gefühlsspektrum von Grössenwahnsinn bis zu extremer Verletzlichkeit.

Wie entstehen Ihre Songs? Wie finden Sie diese präzisen, expliziten Bilder für Gefühle und Erfahrungen?
Die Bilder beginnen mit einer Erfahrung aus meinem Leben. Ich bin Sternzeichen Fische und habe einen Hang zum Drama. Ich will, dass sich alles wie Poesie anfühlt. Ich will, dass sich alles so gross anfühlt, wie ich es in meinem Körper spüre. Über Liebe wurde so viel geschrieben – deswegen versuche ich, Bilder zu finden, die detailliert genug sind, dass man sie sich sofort vorstellen kann. 

Sie erzählen auch häufig davon, wie Sie sich vor Gefühlen schützen wollen, weil sie so intensiv sind. Sie singen: «I’d rather walk on glass than give someone the opportunity to hurt me.»
Ja. Liebe ist ein grosses Risiko. Wenn du dich öffnest, kannst du verletzt werden. Ich habe so viel aus der Perspektive von heftigem Liebeskummer geschrieben (sie legt eine Hand auf ihr Herz) – ich wurde zerstört davon! Wir alle wurden schon mal zerstört davon. Es ist das schlimmste Gefühl der Welt. Eine tiefe Trauer. Wenn uns das Herz gebrochen wird, kommen wir dem Tod näher.

Sollten wir es besser sein lassen mit dem Verlieben?
Nein. Je mehr ich an meinen Bindungsmustern arbeite und lerne, mein Herz aufzumachen, desto mehr denke ich: Das Risiko ist es wert. Nicht nur für romantische Liebe, sondern auch für Freundschaft, die Liebe zur Natur, egal welche Art. Aber gleichzeitig finde ich, dass es etwas Menschliches ist, sein Herz zuzumachen und vor Verletzung schützen zu wollen. Eine Art Überlebensinstinkt.

Fletcher stellt ihre Teetasse neben dem Wasserkocher ab und umarmt mich zum Abschied. Sie hat noch ein Meet & Greet mit etwa hundert Fans vor sich, bevor das Konzert losgeht; vor dem Komplex 457 hat sich bereits eine lange Schlange gebildet.

In meinem Lieblingssong vom neuen Album, «Crush», kommen alle Gefühle zusammen, die Sehnsucht, der Schmerz, die Angst, die Euphorie: «Won’t you crush me under the weight of your body», heisst es darin.
Der Song ist die feine Linie da, wo Schmerz auf Genuss trifft. Das sind zwei Seiten einer Münze. Wir haben das Verlangen, die Sehnsucht nach dieser vereinnahmenden, erschütternden Liebe. Und ich frage mich: Gibt es diese Liebe, ohne dass sie dich fertigmacht?

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