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«Mädchen, Frau etc.»-Autorin Bernardine Evaristo: «Als Feministin wollte ich keine Beziehung zu Männern»

Literatur & Musik

«Mädchen, Frau etc.»-Autorin Bernardine Evaristo: «Als Feministin wollte ich keine Beziehung zu Männern»

Die britische Autorin Bernardine Evaristo veröffentlichte im Januar ihre Autobiografie «Manifesto». Im Interview spricht die Booker-Prize-Gewinnerin über ihre politische und «undraufgängerische» Vergangenheit.

Lang schrieb Bernardine Evaristo unter dem Radar der Öffentlichkeit. Bis sie 2019 als erste Schwarze den renommierten Booker Prize gewann – und ihr Roman «Mädchen, Frau etc.» zum internationalen Bestseller avancierte. In ihrer Heimat Grossbritannien gilt die 62-jährige Londonerin seitdem als intellektuelles Schwergewicht, ab 2022 übernimmt sie den Vorsitz der Royal Society of Literature. Aus ihrem Büro in der Brunel University, an der sie kreatives Schreiben unterrichtet, schaltet sie sich per Video zu, um über ihre gerade erschienenen Memoiren zu sprechen: «Manifesto».

annabelle: Bernardine Evaristo, in Ihrem Buch fordern Sie, positiv auf das Leben zu schauen. Wie haben Sie das geschafft, während Sie dreissig Jahre auf Ihren Durchbruch warten mussten?
Bernardine Evaristo: Ich habe mir Bestätigungskarten geschrieben und vorgelesen. Die sammle ich bis heute in einer Kiste. Da steht zum Beispiel drauf: «Ich werde diesen Roman glücklich und fröhlich an diesem Tag abliefern – und er wird fantastisch sein.» Diese Mantras helfen mir dabei, nicht in Verzweiflung oder Depression abzustürzen. Ich könnte eine Arbeit nie mit dem Gedanken beginnen: «Hoffentlich schaffe ich es, den Roman pünktlich abzugeben, hoffentlich gestaltet sich das Schreiben nicht als zu schwierig, und vielleicht mag jemand sogar dieses Buch am Ende.» Das ist doch komplett niederschmetternd.

Klingt ein bisschen nach New-Age-Denken.
Es ist doch schön, sein Leben positiv zu betrachten. Gerade habe ich die Handwerker im Haus, ich kann Ihnen sagen, da geht das schnell verloren.

Noch ein Gedanke aus Ihrer Schrift: Scheitern abzulehnen. Weshalb?
Ich möchte das Wort scheitern vermeiden, weil es sich so endgültig und negativ anhört. Stattdessen rede ich von Herausforderungen, statt Probleme sehe ich Hindernisse. Das sind für mich Wörter, die klarstellen, dass man sich aktiv einer Sache stellt und sie nicht einfach erträgt. Sie haben in meinen Ohren nicht den Beigeschmack einer Vorverurteilung: Ah, sie hat es versucht und doch nicht geschafft.

Sie mussten früh Ihre Lektionen lernen, weil Sie als Kind eines Nigerianers und einer Engländerin in den Sechzigerjahren aufwuchsen …
… und die Familie meiner Mutter gegen die Heirat war. Sie ist ausgerastet, es war nicht vorgesehen, dass meine Mutter einen Schwarzen heiratet.

Gab es je eine Vers hnung mit Ihren Grosseltern?
Als meine älteste Schwester geboren wurde, hat meine Grossmutter sich in sie verliebt. Sie dachte davor, die Kinder würden alle so dunkel wie mein Vater sein. Aber Catherine ist noch hellhäutiger als ich. Meine Oma war eine liebenswürdige Frau, lebte immer im selben Haus, von 1932 bis zu ihrem Tod 1986, wo sie als Schneiderin arbeitete. Jedes Wochenende haben wir sie besucht. Aber sie hatte keine Fotos von uns bei sich stehen, nur von meiner ältesten Schwester. Dabei hatte sie acht Enkel. Das zeigt, dass sie sich mit unserer Hautfarbe nicht wirklich versöhnt hat, obwohl sie uns liebte und wir sie.

Als eines von acht Geschwistern können Sie bis heute schnell pinkeln, schreiben Sie im Buch. Gibts noch etwas, was Ihnen manchmal hilft?
Ich lernte, mich geistig loszukoppeln von der Realität um mich herum. Was mir als Schreiberin zugutekommt: Ich tauche gern in das Innenleben meiner Figuren ein. Als Kind habe ich verstanden, dass wir Gefühle teilen müssen. Wir wussten einfach, dass nicht jeder von uns mit meiner Mutter kuscheln konnte. Das war praktisch unmöglich.

Wie haben Ihre Eltern Sie geprägt?
Meine Mutter genoss es, Geschichten auszuschmücken, sie mit Hintergrundinformationen aufzublasen, dadurch bin ich selbst zur Erzählerin geworden. Mein Vater belehrte uns gern. Ich glaube, mein Feminismus war eine Reaktion auf ihn, weil ich ihm als Familiendiktator eine herrschsüchtige Ader unterstellte.

Wie hat sich Ihr Feminismus entwickelt?
Zuerst war es ein vereinfachtes Denken. In meinen Zwanzigern hatte ich zwar männliche Freunde, aber ich betrachtete Männer als die Unterdrücker in unserer Gesellschaft. Heutzutage sehe ich das differenzierter. Ja, wir leben nach wie vor in einem patriarchalen System, das Individuum jedoch ist komplexer. Ich vergebe meinem jüngeren Ich diese Simplifizierung.

Sie gründeten 1982 die erste britische Theatergruppe für schwarze Frauen und engagierten sich in der Black Community von London. Auch da stiessen Sie auf Widerstand. Was warf man Ihnen vor?
Einige Bekannte in der Community hielten mir vor, ich sei zu weiss. Damit meinten sie meine Art zu sprechen, dass ich Hochenglisch redete und kein karibisches Patois – obwohl meine Familie gar nicht aus Jamaika stammt. Oder dass ich keinen Reggae mochte, sondern klassische Musik. Darüber wurde die Nase gerümpft. Über Feminismus und Homosexualität auch. Weisse Krankheiten nannten manche Mitstreiter sie. Deshalb musste ich mich auch von ihnen verabschieden.

Mehr als ein Jahrzehnt lebten Sie damals lesbisch. Fanden Sie es befreiend, so draufgängerisch wie Männer zu sein, ohne dafür verurteilt zu werden?
Draufgängerisch? Es ist interessant: Wenn schwule Männer die Strasse runtergehen, nehmen sie Blickkontakt auf, und eh du dich versiehst, ziehen sie miteinander ab. Mit Frauen ist das anders. In Clubs stehen sie in Grüppchen zusammen, und du weisst nicht, wer mit wem zusammen ist. Lesbische Frauen flirten viel zurückhaltender. So war es zumindest. Aber ich habe mich gut geschlagen.

Sie meinen, Sie haben oft Frauen abgeschleppt.
Jetzt, mit 62, denke ich manchmal: Bernardine, ich kann nicht glauben, dass du so rumgemacht hast! Aber wenn du jung bist, bist du furchtlos und willst Spass haben. Ich bin froh über diese Phase in meinem Leben. Das bereichert die Geschichten, die ich erzählen kann.

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Lesbische Beziehungen mussten in den Achtzigerjahren oft geheim bleiben. Fühlte sich das klaustrophob an?
Das nicht, aber ich weiss noch, als ich wieder mit Männern zusammen war, wie einfach vieles erschien. Mit einem Mann konnte ich auf der Strasse Hand in Hand laufen, ich musste nicht darüber nachdenken. Ehrlich gesagt, war ich wohl eine politische Lesbe: Als Feministin wollte ich keine Beziehung zu Männern. Aber dann war ich mit einer älteren, kontrollsüchtigen Frau zusammen, und die entpuppte sich als chauvinistischer als jeder Mann. Da bin ich irgendwie aufgewacht.

In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Ihre Partnerin Sie mental und körperlich missbraucht hat.
Sie dürfen mich nicht missverstehen, ich wurde niemals verprügelt oder getreten, während ich wehrlos auf dem Boden lag. Es waren kleine Akte körperlicher Gewalt, wie Faustschläge auf die Schulter. Nicht mehr nur ein Klaps mit der Hand, sondern bereits eine absichtlich herbeigeführte Verletzung. Wir reden von den Achtzigerjahren, in unserer Gesellschaft hatten wir damals noch nicht das Vokabular, das wir heute benutzen: Zwangskontrolle, emotionaler Missbrauch. Deshalb war es einfach, in solchen Beziehungen zu verharren. Ich habe am Ende erkannt, dass es falsch war, zu denken, dass Frauen nicht dieselben Machtspiele draufhaben.

Sie haben Ihren jetzigen Partner 2005 über eine Website kennengelernt. Damals waren Dating-Plattformen noch neu. Wie viel Überwindung hat Sie das Erstellen Ihres Profils gekostet?
Ich hatte zwei unbefriedigende Beziehungen hinter mir, beide mit Männern, die nicht in London lebten. Damals erzählten mir Freunde, dass sie gute Erfahrungen mit der «Guardian Soulmates»-Seite gemacht hatten, und ich dachte, es muss doch auch für mich jemanden in dieser Stadt geben. Damals hatte ich bereits ein paar Bücher veröffentlicht, deshalb gab ich nicht meinen vollen Namen preis, veränderte meine Biografie ein bisschen und lud kein Foto hoch. Ich wollte nicht sofort erkannt werden.

Für potenzielle Partner eine Herausforderung.
Und deshalb erhielt ich wenige Zuschriften. Männer wollen Bilder sehen, wie die Frau aussieht, sonst sind sie skeptisch. Also begann ich, einige anzuschreiben, hatte ein paar Dates, und David war das fünfte. Sie müssen bedenken, damals war Online-Dating unter Heterosexuellen sehr unschuldig. Kaum Konkurrenz, keine Mädchen mit Schmollmund, die ihre halbnackten Körper präsentierten. Man war noch nicht überwältigt von der Auswahl an potenziellen Partnern. Weil die meisten Heteros auf Online- Dating herabschauten. «Oh Gott, so verzweifelt bist du, dass du dich im Internet anmeldest?» Heute hat sich das komplett normalisiert.

Was sich ebenfalls geändert hat: Wir erleben einen Boom der Schwarzen Literatur. Sie aber warnen, sie komme aus dem Nichts und habe sich nicht organisch entwickelt. Wovor haben Sie Angst?
Wir wollen keine Mode sein, kein Trend. In Grossbritannien sind die Bücher von Schwarzen häufig Debüts oder Zweitwerke. Nur ganz wenige Autor:innen haben eine lebenslange Karriere, ich bin eine Ausnahme und gelte beinahe als Veteranin. Man fragt sich, ob diese neuen Schriftsteller:innen einfach wieder verschwinden werden. Aber spätestens seit «Black Lives Matter» habe ich das Gefühl, es ändert sich etwas. Das war ein Weckruf für Kulturschaffende. Die Ermordung von George Floyd hat auch bei uns zu breiten Diskussionen über Rassismus geführt.

Was dazu führte, dass Prince Harry und Meghan Markle Grossbritannien verliessen.
Die «Daily Mail» attackiert die beiden bis heute, die Medien verteufeln sie. So wurde Meghan dafür angegriffen, dass sie sich für ihre Hochzeit in der Kapelle von Windsor Kerzen gewünscht hat. Diva-Verhalten, titelten einige Zeitungen. Ich finde es grossartig, dass Harry eine ältere, schwarze Frau geheiratet hat, eine Feministin, die eine Karriere hatte. Das war radikal. Sie haben den Preis dafür bezahlt.

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«Prinzessin Diana verkörperte mit ihren Puffärmeln alles, was ich an der Upper Class gehasst habe.»

Sind Sie, eine bekannte Aktivistin, etwa ein Fan der Monarchie?
Ich bin Demokratin, aber meine Haltung gegenüber der Königsfamilie hat sich im Laufe der Jahre verändert. Anfangs habe ich, als radikale, lesbische, schwarze Theaterfrau, Prinzessin Diana gehasst. Sie verkörperte mit ihren Puffärmeln alles, was ich an der Upper Class gehasst habe, dieses Verschämte, als hätte sie kein Rückgrat.

Sie und Diana waren fast gleich alt.
Ja, und mit Ende zwanzig haben wir uns beide verändert. Als sie politisch wurde und ihren Status einsetzte, um Menschen mit Aids zu unterstützen, und für die Abschaffung von Landminen kämpfte, habe ich sie aus tiefstem Herzen bewundert. Als der blonde Engel dann anfing, mit braunen Männern auszugehen, aus Asien und Nordafrika – ah, herrlich! Ich heisse die Monarchie nicht gut, aber sie wird eh nie verschwinden.

Als Prince Philip im April gestorben ist, haben Sie etwas Versöhnliches auf Twitter geschrieben, was nicht überall gut ankam.
Auf Black Twitter, einer Online- Gemeinde von meist jungen schwarzen Menschen, wurde ich dafür angegriffen, weil es nicht ihren Vorstellungen entsprach, wie eine Schwarze über die Monarchie zu reden hat. Ich habe einen sarkastischen Tweet über die geifernden Wölfe der Twittersphäre geschrieben und etwa hundert Leute auf meinem Konto blockiert.

Um Ihrer geistigen Gesundheit nicht zu schaden?
Also mir gehts blendend, ich habe eher Mitleid mit den Ansprüchen von denen, die ich ausgesperrt habe. Warum muss ich, nur weil ich auch eine Person of Colour bin, genau dieselben Ideen haben wie sie? Das finde ich engstirnig.

Bernardine Evaristo: Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Tropen-Verlag, 256 Seiten, ca. 32 Fr.

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