Werbung
Liv Strömquist über Selbstoptimierung: «Was wäre, wenn wir nicht so viel über uns selbst nachdenken würden?»

Liv Strömquist über Selbstoptimierung: «Was wäre, wenn wir nicht so viel über uns selbst nachdenken würden?»

Liv Strömquists Comic-Kunst spielt dort, wo es wehtut. In ihrem neuen Buch «Das Orakel spricht» nimmt sich die Schwedin unsere Obsession mit Selbstoptimierung vor.

Es ist neun Uhr morgens, als sich Liv Strömquist in Malmö auf Zoom zuschaltet. Sie sitzt auf dem Bett im Kinderzimmer ihres Sohnes. An der violetten Wand hinter ihr hängt eine grosse Europakarte. Man hört Kinderstimmen. Geklapper von Besteck.

Strömquist ist eine der berühmtesten feministischen Comiczeichnerinnen der Welt. In ihrer Heimat Schweden schockierte sie 2017 mit einer Ausstellung in einer Stockholmer Metrostation. Ihre Bilder zeigten etwa Eiskunstläuferinnen mit Blutflecken in der Unterhose, die so deutlich dargestellte Menstruation war für viele ein Skandal.

Neues Buch über Gesundheits- und Optimierungsobsession

Mit ihren Büchern entlarvt die 46-Jährige schon seit den Nullerjahren etwa Stereotype in Liebesbeziehungen («Der Ursprung der Liebe») oder Tabus rund um das weibliche Geschlechtsorgan («Der Ursprung der Welt»). In ihrem neuesten Werk «Das Orakel spricht» untersucht die Illustratorin nun sieben Influencer:innen und ihre Ratschläge für ein besseres Leben.

Werbung

Strömquist, die Politologie studiert hat und alle zitierten Passagen in ihren Comics jeweils sorgfältig mit Fussnoten ausweist, führt uns darin in eine Gesellschaft ein, die sich obsessiv mit der Optimierung der Gesundheit beschäftigt. Mal anhand der heiligen Katharina von Siena, die sich im 14. Jahrhundert zu Tode hungert. Mal am Beispiel der Herzogin Meghan Markle, die für Sexarbeiterinnen Lebensweisheiten auf Bananen schreibt.

annabelle: Liv Strömquist, Studien zeigen, dass Influencer:in mittlerweile ein beliebter Berufswunsch unter jungen Menschen ist. Beleidigen Sie mitIhrem neuen Buch gerade die gesamte Generation Z?
Liv Strömquist: Oh! Das hoffe ich nicht. Ich finde es wichtig, in einer Demokratie darüber zu diskutieren, was in unserer Welt passiert. Deshalb mache ich meine Bücher in Comic-Form: Ich will, dass die Menschen, auch wenn sie sonst keine akademischen Texte lesen, sich angespornt fühlen, die Dinge kritisch zu hinterfragen. Vielleicht kann die Generation Z mein Buch irgendwann als Geschenk sehen. (lacht)

Sie sagen, dass die Themen Ihrer Bücher oft Ihrer Lebenswelt entstammen. Inwiefern tangieren Influencer:innen Ihren Alltag?
Diesen Wahnsinn erlebe ich tagtäglich auf Instagram. Die Wellness-, Selbsthilfe- und Psychologie-Kultur, die von Influencer:innen befeuert wird, hat meiner Meinung nach in den letzten Jahren stark zugenommen.

Werbung

Im ersten Kapitel von «Das Orakel spricht» zeigen Sie eine Frau, die ihrem Gesicht allabendlich mit einem Stab eine Vibrationstherapie verpasst. Über mehrere Seiten hinweg beschreiben Sie jede Bewegung minutiös. Warum haben Sie sich genau für dieses Intro entschieden?
Weil es so absurd ist. Ich habe die komplette Szene von einem echten Video abgeschrieben. Jede Zeile davon ist wahr. Das Ganze dauert fast zwanzig Minuten und am Ende preist die Influencerin den elektrischen Massagestab für fast 400 Euro an.

Sind Sie selbst auch schon mal schwach geworden bei solchen Angeboten?
Natürlich! Auch ich habe schon unnützes Zeugs bestellt. Am anfälligsten bin ich für Klamotten, die ich eigentlich nicht wirklich brauche. Diesen elektrischen Massagestab habe ich mir aber nicht gekauft.

«Man hat das Gefühl, das Einzige, was man noch kontrollieren kann, ist den eigenen Körper und Geist»

Warum sind viele Menschen so anfällig für Produkte, die uns Verjüngung und ein besseres Leben versprechen?
Es passieren schreckliche Dinge auf unserem Planeten; die Bedrohung durch den Klimawandel und all die verschiedenen furchtbaren Konflikte – man fühlt sich machtlos und hat das Gefühl, das Einzige, was man noch kontrollieren kann, ist man selbst, den eigenen Körper und Geist. Ich kann mein Gesicht mit Anti-Aging-Produkten vollschmieren oder ein gesundes Frühstück essen und mir somit das Gefühl geben, dass ich alles richtig mache.

Uns wird diese Art der Selbstfürsorge – oder vielleicht eher Selbstoptimierung – auch auf vielen Kanälen aktiv angepriesen.
Man verkauft uns das Versprechen von Entspannung und Glück. Das ist etwas, das jede:r erreichen möchte. Und dann kommt jemand, der dir sagt: «Ich kann dir helfen, dich immer entspannt und glücklich zu fühlen.» Und weil das kapitalistische System, in dem wir leben, auf stetes Wachstum angewiesen ist, gibt es auch in der Wellness- und Achtsamkeitsindustrie nie ein «Genug». Man kann nie «fertig» sein. So läuft man Gefahr, sein ganzes Leben damit zu verbringen, nach mehr zu streben, ohne das Leben wirklich zu geniessen.

In einer Szene im Buch wird ein Mann vom Sensenmann gepackt, als er endlich das Stück Kuchen verspeisen wollte, welches er wegen der vielen Kalorien so lange verschmäht hatte. Am Ende ist er nicht mehr dazu gekommen. Sehen Sie diese Angst vor dem Altern und dem Tod als Antrieb für viele dieser extremen Praktiken?
Absolut. Viele dieser Praktiken sind Versuche, das Unvermeidliche zu kontrollieren; das Altern und den Tod. Sie basieren letztlich auf einer tiefen Angst. Ich möchte mit diesem Buch auch die Frage aufwerfen: Was wäre, wenn wir nicht so viel über uns selbst nachdenken würden?

«Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, dass meine Kunst letztendlich auch nur Arbeit ist»

«Das Orakel spricht» ist bereits Ihr zehntes Werk. Ihnen scheinen die Ideen nie auszugehen. Hatten Sie jemals eine kreative Krise oder Momente, in denen Sie dachten: «Ich brauche eine Pause»?
Das hatte ich schon lange nicht mehr. Als ich jünger war, hatte ich aber viele kreative Krisen. Mein erstes Buch habe ich ja erst veröffentlicht, als ich 28 Jahre alt war. Davor hatte ich grosse Schwierigkeiten, meinen Stil zu finden. Ich war eine ziemliche Perfektionistin und dachte oft: Das ist nicht gut genug. Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, dass meine Kunst letztendlich auch nur Arbeit ist – und Übung. Je mehr man etwas tut, desto mehr gewöhnt man sich daran. Und desto weniger Platz gibt es für Krisen.

Wie sieht Ihr kreativer Prozess aus?
Ich arbeite am liebsten ganz für mich allein und zeige meine Arbeit niemandem, bevor sie fertig ist. Andere Meinungen würden mich aus der Ruhe bringen. Es ist, als würde man eine kleine Kerze schützen – zu viel Wind lässt sie ausgehen.

Die Klischeevorstellung also, Sie arbeiten abgeschieden in der schwedischen Pampa im Ferienhaus der Familie?
Keineswegs – da würde ich durchdrehen! Ich bin ein sehr sozialer Mensch und würde mich die ganze Zeit fragen, was meine Freund:innen gerade so machen. Ich habe ein Studio, wo ich arbeite, bin aber auch viel zuhause. Für mich ist es schön, diesen Wechsel zu haben: erst die Isolation und dann, wenn die Kinder aus der Schule nachhause kommen, eine Invasion des Lebens. Dann stehen die alltäglichen Dinge an: Kochen, Putzen und Reden.

Sie gelten als eine der einflussreichsten feministischen Comic-Künstlerinnen der Welt. Wie fühlen Sie sich mit diesem Label?
Es macht mich stolz, auch wenn ich nicht oft darüber nachdenke. Ich freue mich, wenn Menschen mir sagen, dass meine Arbeit ihnen geholfen hat. Es ist ein gutes Gefühl, wenn das, was man tut, andere inspiriert.

Ich habe gelesen, dass Ihr Buch «Der Ursprung der Liebe» viele Menschen dazu inspiriert hat, ihre Beziehungen zu überdenken oder sie gar zu beenden.
Ja, mir wird oft erzählt, dass Menschen mithilfe meiner Bücher wichtige Entscheidungen getroffen haben. Manche sagen, sie hätten sich von jemandem getrennt, andere sagen, sie hätten jemanden kennengelernt. Manche erzählen, sie hätten wegen des Buches geheiratet, andere, dass sie eine missbräuchliche Beziehung beendet hätten. Ich bekomme alle möglichen Reaktionen. Ich kenne das auch von mir. Ich werde ebenfalls von Büchern beeinflusst.

«Ich habe versucht, in jeder Situation solidarisch mit anderen Frauen zu sein»

Können Sie sich an ein konkretes Beispiel erinnern?
Feministische Literatur im Allgemeinen hatte diesen Effekt auf mich. Vor allem, als ich jünger war und zum ersten Mal mit diesen Theorien konfrontiert wurde. Besonders das Konzept der Schwesternschaft hat mich beeindruckt. Jahrelang habe ich dann versucht, in jeder Situation solidarisch mit anderen Frauen zu sein. Da wir nicht automatisch darauf trainiert sind, war das ein bewusster Perspektivenwechsel.

Können Sie eine Situation schildern, in der Sie das Konzept der Schwesternschaft aktiv angewandt haben?
Ich erinnere mich an eine Beziehung mit einem Mann, der eine Ex hatte. Jedenfalls behauptete er, sie sei seine Ex, aber das stimmte nicht ganz. Sie war sehr aufgebracht, als sie erfuhr, dass er mit mir zusammen war. Ich bin dann zu ihr nachhause gefahren, habe mit ihr geredet und versucht, ihre Sichtweise zu verstehen, und das hat mich dazu gebracht, mich auf ihre Seite zu stellen.

Danach haben Sie beide den Typen abserviert?
Selbstverständlich!

«Das Orakel spricht» ist im Avant Verlag erschienen.

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments